Die am 20. 03. 2019 veröffentlichten Änderungen der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) zur Behandlung von Infektionen durch multiresistente oder Rifampicin-resistente
Tuberkuloseerreger (MDR- bzw. RR-TB) stellen eine deutliche Zäsur gegenüber dem bislang
verfolgten Therapiekonzept dar [1]. Ziel dieser Stellungnahme ist es, die geänderten WHO-Empfehlungen vor dem Erscheinen
des nächsten Updates der deutschen S2k-Leitlinie „Tuberkulose im Erwachsenenalter“
zeitnah zu kommentieren und für den deutschen Kontext einzuordnen [2].
Die zur Verfügung stehenden Substanzen zur Behandlung der MDR-/RR-TB wurden in den
neuen WHO-Empfehlungen in 3 Kategorien gruppiert und, beruhend auf einer Metaanalyse
von ca. 13 000 Patientendaten, hinsichtlich ihrer relativen Wichtigkeit für das Behandlungsergebnis
und unter Berücksichtigung der jeweiligen Nebenwirkungsprofile neu bewertet ([Tab. 1]) [3]. Bedaquilin und Linezolid gelten nun neben den Fluorchinolonen Levofloxacin und
Moxifloxacin als priorisierte Substanzen (Gruppe A). Insgesamt sollten während der
ersten 6 Monate der Therapie einer MDR-/RR-TB mindestens 4, danach mindestens 3 sicher
wirksame Substanzen zum Einsatz kommen. Das Aminoglykosid Amikacin (alternativ Streptomycin,
beide Gruppe C) sollte nur noch als mögliche Alternative in Betracht gezogen werden,
wenn eine der Substanzen aus Gruppe A und B entfallen muss und eine entsprechende
Sensibilität vorliegt. Die injizierbaren Substanzen Kanamycin und Capreomycin sollen
nicht länger verabreicht werden, da diese vermehrt mit Therapieversagen und Rückfällen
assoziiert waren [3].
Tab. 1
Neues WHO-Klassifikationsschema für Substanzen zur Behandlung der MDR-/RR-TB[1]. Quelle [1]
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Group & steps
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Medicine
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Group A: Include all three medicines
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levofloxacin OR moxifloxacin
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Lfx Mfx
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bedaquiline[2]
,
[3]
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Bdq
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linezolid[4]
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Lzd
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Group B: Add one or both medicines
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clofazimine
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Cfz
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cycloserine OR
terizidone
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Cs Trd
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Group C: Add to complete the regimen and when medicines from Group A and B cannot be used
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ethambutol
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E
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delamanid[3]
,
[5]
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Dlm
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pyrazinamide[6]
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Z
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imipenem-cilastatin OR
meropenem[7]
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Ipm-Cln Mpm
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amikacin (OR streptomycin)[8]
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Am (S)
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ethionamide OR
prothionamide[9]
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Eto Pto
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p-aminosalicylic acid[9]
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PAS
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1 This table is intended to guide the design of individualized, longer MDR-TB regimens
(the composition of the recommended shorter MDR-TB regimen is largely standardized:
see Section 4). Medicines in Group C are ranked by decreasing order of usual preference
for use subject to other considerations. The 2018 IPD-MA for longer regimens included
no patients on thioacetazone and too few patients on gatifloxacin and high-dose isoniazid
for a meaningful analysis. No recommendation on perchlozone, interferon gamma or sutezolid
was possible owing to the absence of final patient treatment outcome data from appropriate
studies (see online Annex 9).
2 Evidence on the safety and effectiveness of bedaquiline use beyond 6 months and below
the age of 6 years was insufficient for review. Use of bedaquiline beyond these limits
should follow best practices in “off-label” use (48).
3 Evidence on the concurrent use of bedaquiline and delamanid was insufficient for
review.
4 Use of linezolid for at least 6 moths was shown to increase effectiveness, although
toxicity may limit use. The analysis suggested that using linezolid for the whole
duration of treatment would optimize its effect (about 70 % of patients on linezolid
with data received it for more than 6 months and 30 % for 18 months or the whole duration).
No patient predictors for early cessation of linezolid could be inferred from the
IPD subanalysis.
5 Evidence on the safety and effectiveness of delamanid beyond 6 months and below the
age of 3 years was insufficient for review. Use of delamanid beyond these limits should
follow best practices in “off-label” use (48).
6 Pyrazinamide is counted as an effective agent only when DST results confirm susceptibility.
7 Every dose of imipenem-cilastatin and meropenem is administered with clavulanic acid,
which is available only in formulations combined with amoxicillin. Amoxicillin-clavulanic
acid is not counted as an additional effective TB agent and should not be used without
imipenem-cilastatin or meropenem.
8 Amikacin and streptomycin are to be considered only if DST results confirm susceptibility
and high-quality audiometry monitoring for hearing loss can be ensured. Streptomycin
is to be considered only if amikacin cannot be used (unavailable or documented resistance)
and if DST results confirm susceptibility (resistance to streptomycin is not detectable
with second-line molecular LPAs and phenotypic DST is required). Kanamycin and capreomycin
are no longer recommended for use in MDR-TB regimens.
9 These agents showed effectiveness only in regimens without bedaquiline, linezolid,
clofazimine or delamanid, and are thus proposed only when other options to compose
a regimen are not possible.
Im Zentrum der neuen WHO-Empfehlungen stehen 2 Kernaussagen:
-
Für die meisten Patienten mit MDR-/RR-TB wird während des gesamten Behandlungszeitraums
ein vollständig orales Antibiotikaregime favorisiert. Die optimale Therapiedauer ist
nicht bekannt. Die WHO empfiehlt für alle Patienten, die nicht für das standardisierte
9- bis 12-monatige „Kurzzeitregime“ infrage kommen, eine Therapiedauer von mindestens
18 bis 20 Monaten.
-
Vor Behandlungsbeginn einer MDR-/RR-TB sollte wann immer möglich eine Resistenz gegenüber
Fluorchinolonen und Aminoglykosiden ausgeschlossen werden. Kanamycin und Capreomycin
werden für die MDR-TB-Therapie nicht länger empfohlen. Die Empfehlung für Amikacin
ist eingeschränkt.
-
Kommentar für Deutschland: Amikacin wird auch weiterhin für die Behandlung von erwachsenen Patienten mit einer
MDR-/RR-TB empfohlen: wenn ein Therapieregime aus Medikamenten der Gruppen A und B
nicht zusammengestellt werden kann, die Ergebnisse der Antibiotikaresistenz-Testung
eine Wirksamkeit des Medikaments nahelegen und sichergestellt werden kann, dass ein
engmaschiges Monitoring erfolgt, um die Entwicklung von Nebenwirkungen frühzeitig
zu erkennen.
Während des gesamten Behandlungszeitraums ist eine engmaschige Überwachung der Patienten
erforderlich. Patienten mit fehlendem Therapieansprechen oder mit Medikamenten-Intoleranzen
sollten eine andere Therapie erhalten. Dabei ist anzumerken, dass die klassische Regel
„Never add a single drug to a failing regimen“ auch weiterhin gilt.
Gegenüber den bisherigen WHO-Behandlungsempfehlungen für MDR-/RR-TB ergeben sich somit
einige Neuerungen. Mit Bedaquilin kommt nun erstmalig ein Medikament mit einer in
einer randomisierten, kontrollierten Phase-IIb-Studie nachgewiesenen Wirksamkeit als
Standardtherapeutikum zum Einsatz [4]. Ein vollständig orales Therapieregime stellt, nicht zuletzt durch den Wegfall einer
Portimplantation und monatelanger intravenöser Antibiotikagaben, prinzipiell eine
wesentlich geringere Belastung für die Patienten dar. Durch die Vermeidung der Aminoglykoside
reduziert sich zudem das Risiko für die mit dieser Substanzklasse assoziierte Oto-
und Nephrotoxizität. Dies gilt insbesondere für Gesundheitssysteme, in denen eine
engmaschige Kontrolle z. B. durch Audiometrie nicht realisierbar ist.
Dennoch bleiben auch im Rahmen der neuen WHO-Therapieempfehlungen diverse Herausforderungen
in der Therapie der MDR-/RR-TB bestehen:
-
Nebenwirkungen: Das mit der höchsten Priorität versehene Linezolid (Gruppe A) führt in einer Dosis
von 600 mg täglich sehr häufig in der Langzeittherapie zu relevanter Knochenmarksdepression
und Polyneuropathie. Wenn das Medikament zu spät abgesetzt wird, ist die Polyneuropathie
oft nicht vollständig reversibel.
-
Kommentar für Deutschland: Die optimale Dosis, bei der in der Therapie mit Linezolid eine ausreichende Wirksamkeit
mit wenigen Nebenwirkungen erzielt wird, ist nicht bekannt. Zur Vermeidung von Nebenwirkungen
behandeln manche Zentren mit 300 mg täglich, während andere Zentren die Tagesdosis
von 600 mg bei engmaschiger Kontrolle der Nebenwirkungen wählen [5]
[6].
-
Resistenz-Surveillance: Für einige der in [Tab. 1] genannten Substanzen existiert keine standardisierte Methodik zur phänotypischen
Resistenzprüfung. Die Ursachen hierfür sind einerseits technisch begründet, wie z. B.
durch die Substanzinstabilität der Carbapeneme (Gruppe C). Andererseits fehlen Grenzwerte
für die Kategorisierung in „sensibel“ oder „resistent“ komplett oder sind wissenschaftlich
nicht ausreichend belegt. Dies betrifft insbesondere die wichtigen Gruppe B-Substanzen
Cycloserin/Terizidon sowie para-Aminosalicylsäure (PAS, Gruppe C) [7].
Schließlich werden nach ersten Berichten aus dem Jahr 2015 inzwischen auch in Deutschland
Tuberkuloseerreger mit erworbenen Resistenzen gegenüber neuen Substanzen wie Bedaquilin
(Gruppe A) und Delamanid (Gruppe C) isoliert [8]. Eine verschärfende Problematik ist die Kreuzresistenz von Clofazimin (Gruppe B)
und Bedaquilin z. B. durch Mutationen im Regulatorgen Rv0678, die wir in verschiedenen MDR-Stämmen beobachten konnten [9].
-
Kommentar für Deutschland: Wir empfehlen eine umfassende phänotypische Resistenztestung aller MDR-Stämme des
Mycobacterium tuberculosis-Komplexes (Goldstandard). Um möglichst rasch Informationen über das Resistenzprofil
eines Stammes zu erhalten, sollte zusätzlich eine unverzügliche genotypische Testung
auf resistenzvermittelnde Mutationen erfolgen. Dies ist mittels zielgerichteter Nukleinsäure-Amplifikationsverfahren
oder über eine vollständige Sequenzierung des Erregergenoms realisierbar. Das Nationale
Referenzzentrum (NRZ) für Mykobakterien führt die Genomsequenzierung von MDR-TB-Isolaten
kostenfrei durch. Alle MDR-TB-Stämme sollten daher am NRZ zweituntersucht werden.
Dadurch können auch epidemiologische Zusammenhänge schneller aufgeklärt werden.
Zusammenfassung
Die S2k-Leitlinie zur Behandlung der Tuberkulose im Erwachsenenalter behält auch weiterhin
Gültigkeit [2]. Vor dem Hintergrund der neuen WHO-Empfehlungen ergeben sich jedoch im Hinblick
auf die Behandlung der MDR-/RR-TB folgende Ergänzungen:
-
Einleitung einer 5-fach-Therapie bestehend aus Bedaquilin, Linezolid, Levo- oder Moxifloxacin,
Clofazimin und Terizidon nach molekularbiologischem Nachweis einer Rifampicin-Resistenz
und fehlendem Nachweis von Fluorchinolon-Resistenzen (gyrA Gen Position 90, 91 und 94 Wildtyp).
-
Im Fall eines molekularbiologischen Nachweises einer Fluorchinolon-Resistenz: Implantation
eines intravenösen Portsystems und initiale Therapie mit Bedaquilin, Linezolid, Clofazimin,
Terizidon, Amikacin oder Meropenem/Amoxicillin-Clavulansäure.
-
Ggf. Anpassung der Therapie nach Verfügbarkeit der umfassenden genotypischen und später
phänotypischen Resistenztestung mit dem Ziel, mindestens 5 wirksame Substanzen initial
zu verabreichen. Die Wahl zusätzlicher Medikamente erfolgt in Abhängigkeit der Ergebnisse
der Resistenztestung: Pyrazinamid, Protionamid, Delamanid, PAS, Ethambutol, Carbapenem,
Amikacin.
Trotz scheinbarer Vereinfachung der von der WHO vorgeschlagenen Therapiekombinationen
bleiben klinisch-infektiologische bzw. -pneumologische und labordiagnostische Expertise
auch künftig unerlässlich für die erfolgreiche Behandlung der MDR-/RR-TB. Betroffene
Patienten sollten daher ausschließlich in erfahrenen Zentren diagnostisch abgeklärt,
behandelt und überwacht werden. Während der ambulanten Phase der Therapie sollte eine
engmaschige Rücksprache mit einem solchen Zentrum erfolgen.
Funding
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, German Research Foundation) under Germany’s
Excellence Strategy – EXC 22167-390884018, German Center for Infection Research, Leibniz
Science Campus EvoLUNG.