Abb.: F. Quandt [rerif]
Rieke, was bedeutet dir dein Beruf?
Ergotherapeutin zu sein ist für mich ein absoluter Traumberuf, weil ich Menschen ein
Stück auf ihrem Lebensweg begleiten darf. Es ist wirklich ein Geschenk, meine Klienten
unterstützen zu können. Ich bekomme von ihnen unglaublich viel Wertschätzung zurück.
Weiß der Otto Normalverbraucher eigentlich, was Ergotherapie ist?
Wenn ich Menschen erzähle, dass ich Ergotherapeutin bin, fragen einige: „Das ist doch
so was mit Massieren, oder? Wie Physiotherapie, nur anders, richtig?“ Die meisten
haben aber keine Idee. Deshalb habe ich vor zwei Jahren bei Instagram das Profil „ergotherapie_to_go“
eingerichtet. Hier möchte ich Aufklärungsarbeit leisten und erklären, was Ergotherapeuten
genau machen, welche Möglichkeiten es gibt, um Menschen zu helfen, und welcher Sinn
hinter der Ergotherapie steckt. Dadurch den Blick der Öffentlichkeit auf uns Ergotherapeuten
zu verändern ist mir sehr wichtig geworden.
Hast du eine ganz besondere Geschichte mit deinen Klienten erlebt, die du gerne teilen
möchtest?
Ich baue zu jedem Klienten eine besondere Bindung auf, aber ich würde gerne von einer
83-jährigen Dame erzählen. Sie hatte vor acht Jahren einen Verkehrsunfall, bei dem
sie eine schwere Kopfverletzung erlitt. Daraufhin lag sie monatelang im künstlichen
Koma. Zurück blieben starke motorische und kognitive Einschränkungen, sodass sie seitdem
auf ergo- und physiotherapeutische Behandlung im häuslichen Umfeld angewiesen ist.
Als ich sie vor einem Jahr kennenlernte, fielen mir direkt die wunderschönen Bilder
an ihren hohen Wänden auf, die sie selbst gemalt hatte. Als ich sie fragte, ob sie
nach ihrem Unfall noch zeichnen würde, antwortete sie sofort: „Nein, das kann und
will ich nicht mehr.“
Nun hatte ich es gewagt, sie mit ihrem alten, künstlerischen Leben zu konfrontieren.
Dabei hatte ich zwar ein mulmiges Gefühl, wir beide sind aber mit der Zeit zusammengewachsen,
und ich habe gespürt, wie viel ihr das Malen bedeutet. Wie durch einen Zufall gab
es ein Bild in ihrer Wohnung, das sie damals nicht fertiggestellt hatte. Ich habe
es vergrößern lassen, damit der erste Malversuch möglichst ein Erfolg wird. Natürlich
wusste ich, dass sie nicht sofort wieder so zeichnen kann wie früher. Mein Gedanke
war aber: Wenn sie es schafft, ihr altes Bild nach acht Jahren auszumalen, dann ist
das ein Riesenerfolg für uns beide!
Als ich das Bild mitbrachte, schaute die Klientin erst einmal recht zögerlich. Dann
nahm sie ihre Stifte in die Hand, und alles ging wie von allein. Das war einer der
berührendsten Momente meiner beruflichen Laufbahn!
Was ist an deiner Arbeit so besonders?
In meinem Beruf als Ergotherapeutin betrachte ich den Menschen vor mir und nicht nur
die Person, die schwer krank ist. Ich verlasse mich oft auf mein Bauchgefühl und mache
auch mal Sachen, die vielleicht nicht ganz normal sind. Wenn man eigene Ideen hat,
kann man als Ergotherapeutin seinen Joballtag wirklich sehr schön gestalten. Und ich
habe gemerkt, dass die Dinge, die ich neu ausprobiere, einen feinen Unterschied machen,
weil sie den Klienten intrinsisch motivieren und ihm so wirklich helfen.
Ich versuche immer, mich in die Lage der Person vor mir hineinzuversetzen, und stelle
mir Fragen wie „Wenn ich jetzt an seiner Stelle wäre, was würde ich mir wünschen?“,
oder „Was ist es, das ihn im Innersten bewegt und antreibt?“. Und das ist sehr individuell.
Jeder Klient hat andere Ziele, und es gilt diese herauszufinden und zu respektieren.
Wenn du einen Wunsch frei hättest, was wäre das?
Das ist eine große Frage. Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich im Moment eher bei der
Frage „Was mache ich hier eigentlich?“. Diese Frage stellen sich wohl viele Therapeuten
gelegentlich. Ich stellte sie mir in den vergangenen Monaten tatsächlich öfter.
Ich kann mir mein Leben mit 26 Jahren nicht leisten, und ich lebe bestimmt nicht auf
großem Fuß. In drei Jahren Ausbildung habe ich 13.000 Euro bezahlt. Danach habe ich
Fortbildungen für 8.000 Euro gemacht, von denen ich nur 4.000 Euro selbst übernommen
habe, da ich von meinen Arbeitgebern Unterstützung erhalten habe. Diese Fortbildungen
habe ich mitunter in meinem Urlaub gemacht, da die fünf Tage Bildungsurlaub nicht
genügen. Wenn ich das alles betrachte und befürchten muss, dass mir die Altersarmut
bevorsteht, frage ich mich ernsthaft: „Was mache ich hier? Ist das der Dank dafür,
dass ich mich dafür entschieden habe, Menschen zu helfen und eine kompetente Ergotherapeutin
zu sein?“
Welche Antwort hast du auf diese Frage – was fehlt dir?
Mir fehlt die finanzielle Wertschätzung für meinen Beruf seitens der Politik und der
Krankenkassen. Wir haben täglich so viel Verantwortung und sorgen dafür, dass große
und kleine Menschen wieder am Leben teilnehmen können, dass sie wieder arbeiten und
weiterhin in ihrem häuslichen Umfeld leben können.
Um etwas zu verändern, steht für mich an erster Stelle die Erhöhung der Vergütung
durch die Krankenkassen um 30 Prozent, die bereits von mehreren Politikern gefordert
wurde. Als Zweites wünsche ich mir die deutschlandweite Umsetzung der Schulgeldfreiheit
und Reformierung der Ausbildung, auch im Hinblick auf die Akademisierung.
„Um etwas zu verändern, müssen wir auf die Straße gehen und laut sein“
Abb.: F. Quandt [rerif]
Hast du im Moment überhaupt noch Lust, als Ergotherapeutin zu arbeiten?
Früher hat mir der Beruf wirklich sehr viel gegeben, auch wenn er sehr intensiv ist.
Ich konnte mir gar nichts anderes vorstellen, als Ergotherapeutin zu sein. Ich war
glücklich und zufrieden, und das Positive hat überwogen. Im Moment hält es sich die
Waage. Das ist mir persönlich zu wenig. Ich bin jetzt Mitte zwanzig und seit fünf
Jahren Ergotherapeutin. Ich brenne für diesen Beruf. Es kann und darf einfach nicht
wahr sein, dass ich nach dieser kurzen Zeit schon an meinem Traumjob zweifle. Darüber
muss ich erst einmal in Ruhe nachdenken.
Daher mache ich dieses Jahr eine berufliche Pause. Die ganzen tollen Momente mit meinen
Klienten sind zwar wundervoll. Aber ich bin zurzeit an einem Punkt angekommen, wo
die positiven Erlebnisse einfach nicht mehr ausreichen. Das macht mich sehr traurig,
und das muss ich erst einmal verarbeiten.
Ergotherapeutin Rieke Guhl ermöglichte es einer Klientin, nach vielen Jahren wieder
ihrer Leidenschaft zum Zeichnen nachzugehen.
Abb.: R. Guhl
Was stört dich an der jetzigen Situation am meisten?
Ich versuche wirklich gerne, aus eigener Kraft etwas zu verändern, und trotzdem glaube
ich, dass wir Ergotherapeuten dringend mehr Unterstützung brauchen. Manchmal habe
ich das Gefühl, die Krankenkassen und die Politik verstehen gar nicht, dass sie mit
uns Ergotherapeuten richtig viel Geld einsparen können. Wir können Pflege verhindern!
Wir machen die Menschen wieder arbeitsfähig! Wir sorgen dafür, dass sie keine oder
weniger Medikamente benötigen! Hier spart man einfach am komplett falschen Ende.
Seit April 2019 gibt es in Hamburg die kostenfreie Ausbildung. Das haben wir auch
dir zu verdanken. Wie hast du das geschafft?
Zunächst war ich im November 2018 in Schleswig-Holstein auf der Demo für Schulgeldfreiheit
vor dem Landtag in Kiel. Dort habe ich das erste Mal als Aktivistin in der Öffentlichkeit
gesprochen, und es wurde die Schulgeldfreiheit für Schleswig-Holstein erwirkt. Das
war natürlich ein Riesenerfolg! Als ich dann zurück nach Hamburg kam, merkte ich plötzlich,
dass ein richtiger Sturm losgetreten worden war. Mein Telefon stand nicht mehr still,
und ich war auf einmal für die Berufsfachschulen in Hamburg die Ansprechpartnerin
in Sachen Schulgeldfreiheit.
„Schon nach 5 Jahren am Beruf zweifeln – das darf nicht sein.“
Ich dachte mir, bevor wir in Hamburg auf die Straße gehen, rufe ich erst mal die Politiker
an, frage, wie weit sie sind, und erzähle ihnen, dass die Luft in Hamburg brennt.
Dann habe ich auf der einen Seite mit den Politikern und auf der anderen Seite mit
den Schulen zusammengearbeitet. Und all das neben meinem Vollzeitjob – das war wirklich
eine krasse Zeit.
Was können die Therapeuten tun, um dazu beizutragen, dass sich etwas ändert?
Die Ergotherapeuten müssen laut bleiben! Das ist wahnsinnig wichtig. Jeder Einzelne
muss sich mit der Berufspolitik auseinandersetzen und sich fragen: „Was kann ich als
Einzelperson dafür tun, dass sich etwas verändert?“ Denn wenn du nicht weißt, was
die Politik beschließt, kannst du auch nicht aktiv werden. Wir müssen weiterhin auf
die Straße gehen, sonst verändert sich nichts.
Wie bist du zu dieser mutigen Kämpferin geworden?
Ich habe eine Dyskalkulie, das ist eine Rechenschwäche. In meiner Schulzeit war ich
der Unwissenheit und dem Unverständnis meiner Lehrer ausgeliefert. Es war keine schöne
Zeit, aber meine Eltern waren immer für mich da und haben mich sehr unterstützt. Meine
Mutter hat dafür gesorgt, dass die Verwaltungsvorschriften für Legasthenie und Dyskalkulie
zum Vorteil für die betroffenen Kinder in der Schule angepasst wurden. Zusätzlich
setzte sie sich erfolgreich für die Sanierung der Grundschule ein, die ich besuchte.
Ich glaube, diese kämpferische Seite habe ich von ihr, denn sie lässt auch erst locker,
wenn sie ihr Ziel erreicht hat. Und auch ich kann und will einige Dinge nicht hinnehmen,
deshalb versuche ich etwas zu bewegen und zu verändern.
Wenn ich heute auf meine Schulzeit mit der Dyskalkulie zurückblicke, kann ich sagen,
dass mich diese sehr geprägt hat. Alle negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit
sind in den Jahren zu einem unfassbar großen Schatz geworden, den ich in mir trage.
Diese Zeit hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin, und darüber bin ich
sehr froh.
Woher nimmst du deine ganze Kraft?
Aus der Liebe zu meinem Beruf. Ich liebe diesen Beruf so sehr, dass ich dafür kämpfen
werde.
Das Gespräch führte Madita van Hülsen.