PSYCH up2date 2019; 13(06): 454-458
DOI: 10.1055/a-0884-5896
SOP / Arbeitsablauf
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

SOP Somatische Diagnostik bei Delir

Charles-Arnold Timäus
,
Thorsten Folsche
,
Dirk Wedekind
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Dirk Wedekind, M. Sc.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen
Von-Siebold-Straße 5
37075 Göttingen

Publication History

Publication Date:
30 October 2019 (online)

 

Das Delir stellt als unspezifisches, hirnorganisches Krankheitsbild einen akuten interdisziplinären Notfall dar. Für die Prognose sind das frühzeitige Erkennen und die Behandlung von potenziell behandelbaren Risikofaktoren und Ursachen entscheidend.


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Einleitung

Das Delir ist ein medizinischer Notfall, aber grundsätzlich reversibel. Ursächlich ist eine akute Störung der zerebralen Funktionen. Leitsymptome sind Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit. Weiterhin sind Orientierungs-, Wahrnehmungs- und Denkstörungen, Störungen der Psychomotorik und des Schlaf-Wach-Rhythmus sowie des Gedächtnisses typisch. Der fluktuierende Verlauf verzögert nicht selten die Diagnosestellung. Dem Delir liegen immer eine oder gleichzeitig mehrere organische Ursache(n) zugrunde. Es gilt daher, insbesondere lebensbedrohliche Zustände zügig festzustellen, da das Delir mit einer erhöhten Mortalität verbunden ist [1].

Merke

Patienten mit einer akuten Störung des Bewusstseins, der Aufmerksamkeit und der Orientierung sind immer hinsichtlich eines Delirs abzuklären! Es muss bis zum Beweis des Gegenteils von einer lebensbedrohlichen Ursache ausgegangen werden!


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Diagnosekriterien (s. [Tab. 1]) und Differenzialdiagnosen (s. [Tab. 2])

Die Diagnose erfolgt stets nach klinischen Kriterien. Als Goldstandard werden die ICD-10- oder DSM-5-Kriterien herangezogen. Im ICD-10 wird das Delir im Rahmen suchtstoffgebundener Entzugssyndrome gesondert codiert (F1x.4: Entzugssyndrom mit Delir).

Tab. 1

ICD-10

DMS-5 (deutsche Ausgabe 2015, Hogrefe)

Ein ätiologisch unspezifisches hirnorganisches Syndrom, das charakterisiert ist durch gleichzeitig bestehende Störungen des Bewusstseins einerseits und mindestens zwei der nachfolgend genannten Störungen andererseits:

Eine Störung der Aufmerksamkeit (d. h. Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf einzelne Stimuli zu richten, zu fokussieren, aufrechtzuhalten und gezielt zu wechseln) und des Bewusstseins (verminderte Orientierung in der Umgebung).

Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotionalität oder des Schlaf-Wach-Rhythmus.

Das Störungsbild entwickelt sich innerhalb eines kurzen Zeitraumes (gewöhnlich innerhalb weniger Stunden oder Tage), stellt eine Veränderung des ursprünglichen Aufmerksamkeits- und Bewusstseinszustandes dar und Schweregrad fluktuiert meist im Tagesverlauf.

Die Dauer ist sehr unterschiedlich und der Schweregrad reicht von leicht bis zu sehr schwer.

Eine zusätzliche Beeinträchtigung kognitiver Funktionen (z. B. Beeinträchtigung des Gedächtnisses, Desorientiertheit, Störung des Sprachgebrauches, der visuell- räumlichen Fähigkeiten oder der Wahrnehmung).

F05.0

Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt, ohne Demenz

Die Störungsbilder aus den Kriterien A und C können nicht besser durch eine andere, vorbestehende, gesicherte oder sich entwickelnde NCD erklärt werden, und sie treten nicht im Kontext einer stark reduzierten bzw. fehlenden Wachheit, wie dem Koma, auf.

F05.1

Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt, bei Demenz

Es gibt Hinweise aus der Vorgeschichte, körperlichen Untersuchung oder Laboruntersuchungen darauf, dass das Störungsbild die direkte körperliche Folge eines medizinischen Krankheitsfaktors, einer Substanzintoxikation oder eines Substanzentzuges ist (z. B. durch Substanzen mit Missbrauchspotenzial oder durch die Einnahme eines Medikaments) oder Folge der Exposition gegenüber einem Toxin oder durch multiple Ätiologien versursacht ist.

F05.8 Delir mit gemischter Ätiologie

F05.9 Delir, nicht näher bezeichnet

Das klinische Bild umfasst hauptsächlich 3 Formen, wobei die hypoaktive (72%) und Mischform (15%) häufiger als die hyperaktive Form sind [2]. Die zwei erstgenannten Formen werden regelmäßig verkannt und verspätet behandelt, weshalb sich verschiedene Screeningtests etabliert haben, die zu einer frühen Diagnosestellung beitragen.

In der Infobox sind eine Auswahl von Testverfahren aufgeführt. Zu beachten ist, dass die Screeningverfahren im jeweils dafür vorgesehenen Versorgungsbereich (IMC, Intensivstation, Normalstation) validiert wurden:

Infobox
  • CAM (Confusion Assessment Method) [3]

  • 3D-CAM [4]

  • CAM-S (mit Bestimmung des Schweregrades) [5]

  • CAM-ICU (Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit) [6]

  • ICDSC (Intensive Care Delirium Screening Checklist) [7]

  • NU-DESC (Nursing Delirium Screening Scale) [8]

Die Abgrenzung des Delirs von anderen neuropsychiatrischen Krankheitsbildern (s. [Tab. 2]) gestaltet sich häufig schwierig. Das akute Auftreten (innerhalb von Stunden bis Tage) oder schnelle Veränderungen von Störungen der Aufmerksamkeit, des Bewusstseinsgrades und der kognitiven Funktionen (oft mit einer Verschlechterung in der Nacht) lassen allerdings in erster Linie an ein Delir denken [9].

Merke

Um die Diagnose eines Delirs nicht zu verzögern, sind bei Risikopatienten neben einer Basisuntersuchung auch regelmäßige Verlaufsuntersuchungen mit standardisierten Testverfahren dringend zu empfehlen!

Tab. 2 Wichtige Differenzialdiagnosen des Delirs, zusammengestellt nach Oh et al. [9].

Delir

Demenz

Depression

Psychose

± kennzeichnet, dass das Merkmal vorhanden sein kann.

akuter Beginn

+

±

Aufmerksamkeitsstörung

+

±

±

±

Bewusstseinsstörung

+

desorganisiertes Denken

+

±

+

Störung der Psychomotorik

+

±

+

+

Orientierungsstörung

+

+

Halluzinationen

± (optisch)

±

± (akustisch)


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Vorschlag zum diagnostischen Vorgehen bei Delirverdacht

In diesem Abschnitt stellen wir einen möglichen Algorithmus zur Diagnostik bei Delirverdacht vor ([Abb. 1]). Die mit Ziffern gekennzeichneten Arbeitsschritte werden im Text näher erläutert.

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Abb. 1 Flussdiagramm zur somatischen Diagnostik bei Delir.
  1. Die Anamnese und insbesondere die Fremdanamnese (z. B. bei intensiv- und beatmungspflichtigen Patienten, fehlende Kommunikationsmöglichkeiten) dient der Identifizierung möglicher Ursachen- und Risikokonstellationen.

    • Risikofaktoren sind u. a. [9], [10]

      • Polypharmazie [11] (v. a. anticholinerge Substanzen, Benzodiazepine, Opioid-Analgetika). In der Priscus-Liste sind ungünstige, ggf. delirogen wirkende Medikamente aufgeführt [12]

      • höheres Lebensalter (> 70 J.), Komorbidität und Multimorbidität (z. B. zerebraler Insult, kardiovaskuläre Erkrankung, Diabetes u. a.) sowie höherer Schweregrad der Erkrankungen, Schlafstörungen/-entzug, Dehydratation, Mangelernährung, vorbestehendes kognitives Defizit, Immobilität, chronische Schmerzen (Harn- und Stuhlverhalt), Seh- und Hörstörungen und schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Alkohol.

      • Postoperative (Kardiotomie, Hüft-TEP), intensivpflichtige und (invasiv) beatmete Patienten (z. B. Patienten mit schweren Verbrennungen)

  2. Die multifaktorielle Genese des Delirs macht eine interdisziplinäre Herangehensweise erforderlich (angepasst nach [9], [10], [13]):

    • In der Basisuntersuchung sollte auf Zeichen der Mangelernährung, einer Exsikkose sowie insbesondere auf Spätfolgen einer Störung durch übermäßigen Alkohokonsum (Foetor alcoholicus, Lebervergrößerung, Gerinnungsstörung, Ikterus, häufig Polyneuropathie und zerebelläre Ataxie geachtet werden. Sturz- und Stoßverletzungen.

    • Es finden sich oft Laborveränderungen bei alkoholbezogenen Störungen: MCV-Erhöhung, Leberwerterhöhungen, erhöhtes Bilirubin, Gerinnungsstörungen, Anämie, Thrombozytopenie und ggf. erhöhtes Ammoniak bei hepatischer Enzephalopathie.

    • Bei Verdacht auf Intoxikationen oder Entzugssyndrome im Zusammenhang mit Substanzen oder Suchtstoffen sollten entsprechende toxikologische Untersuchungen durchgeführt werden. Die Verbreitung von „Designer-Drogen“ machen den niedrigschwelligen Einsatz von gaschromatografischen Analysen sinnvoll.

      Merke

      Urintoxikologische Untersuchungen sind bei sachgemäßer Asservierung der Probe im Verlauf möglich!

    • Weitere Ursachen: Elektrolytstörungen, hypoglykämische Zustände, hepatische o. urämische Enzephalopathien, Infektionen/Sepsis, Hypoxie (z. B. Pneumonie), Myokardinfarktfrühzeichen, hypertensive Enzephalopathie bzw. ein posteriores reversibles Enzephalopathie-Syndrom (PRES), endokrinologische Ursachen (Hypo- oder Hyperthyreose).

    • Bei Hinweisen auf potenziell behandelbaren ZNS-Prozess (Bewusstseinsstörung, Anfälle, neurologische Defizite, Sturzanamnese) sollte eine zerebrale Bildgebung und ggf. eine Lumbalpunktion bei infektiösen oder entzündlichen Erkrankungen erfolgen.

    • Ein EEG dient bei entsprechendem Verdacht zum Ausschluss eines nonkonvulsiven Status. Allgemeinveränderungen sind beim Delir sehr häufig zu finden.

    • Die mit Vitamin-B1-Mangel assoziierte Wernicke-Enzephalopathie ist ein schweres aber durch schnelle Substitution gut behandelbares akutes neurologisches Krankheitsbild. Bei entsprechenden Risikofaktoren (Alkoholanamnese) sollte daran gedacht werden.

    • Weiterführende Bestimmung von Autoantikörper (antineuronale, paraneoplastische Antikörper), z. B. NMDA-Antikörper-vermittelte limbische Enzephalitis bei akuten bis subakuten neuropsychiatrischen Symptomen (Kognitionsdefizite, Bewusstseins- und Wahrnehmungsstörungen, neurologische Defizite, epileptische Anfälle). Antithyreoidale Antikörper bei V. a. Hashimoto-Enzephalopathie.


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Autorinnen/Autoren

Charles-Arnold Timäus

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Dr. med., 2002 – 2008 Studium der Humanmedizin in Göttingen. 2008 – 2016 Facharztweiterbildung in der Klinik für klinische Neurophysiologie (Universitätsmedizin Göttingen), Facharzt für Neurologie 2016, Promotion 2012. Seit 2016 Arzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen (Neurostimulation/Gerontopsychiatrie).

Thorsten Folsche

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Assistenzarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UMG. Studium der Humanmedizin in Göttingen (Examen 2012) und Affektive Neurowissenschaften in Maastricht (Abschluss 2020). Aktuell Stationsarzt der Sucht-Tagesklinik.

Dirk Wedekind

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Prof. Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UMG. Studium der Humanmedizin in Göttingen und Affektive Neurowissenschaften in Maastricht. Promotion 2000, Habilitation 2011 zur Neuroendokrinen Stressachse bei der Panikstörung. Leitung des Bereichs Suchtmedizin und Angsterkrankungen der Klinik.

Interessenkonflikt

Dirk Wedekind war Berater für die Firma Servier und Referent für die Firma Pfizer.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Dirk Wedekind, M. Sc.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen
Von-Siebold-Straße 5
37075 Göttingen


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Abb. 1 Flussdiagramm zur somatischen Diagnostik bei Delir.