PSYCH up2date 2019; 13(06): 503-515
DOI: 10.1055/a-0888-7876
Essstörungen, somatische Belastungsstörungen, Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen

Psychische Erkrankungen im Arbeitskontext – eine Verortung im Versorgungssystem

Simone Braun
,
Franziska Kessemeier
,
Elisabeth Balint
,
Elena Schwarz
,
Michael Hölzer
,
Harald Gündel
,
Eva Rothermund
 

Arbeit und psychische Gesundheit stehen in einer engen wechselseitigen Beziehung zueinander. Bei einem negativen Einfluss ist dann häufig von Burnout die Rede. Die Symptomatik kann jedoch vielfältig sein, ebenso wie der Grad des Arbeitsbezuges. Dieser Beitrag beschreibt die Hintergründe, gibt Orientierung bei begrifflichen und diagnostischen Einordnungen und informiert über therapeutische Konzepte und Handlungsempfehlungen.


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Hintergrund

Berufsbedingte psychosoziale Stressoren und negative Arbeitsbedingungen können durch chronische Belastung zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen führen. Mit einer weltweit geschätzten 12-Monats-Prävalenz von ca. 20% sind dabei insbesondere die sogenannten Common Mental Disorders (CMDs) von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung [1].

Merke

Seit Jahren nimmt der Anteil psychischer Erkrankungen als Ursache für Arbeitsunfähigkeit (AU) zu, ebenso steigt die AU-Dauer.

2016 entfielen mehr als 6% der AU-Fälle auf psychische Erkrankungen, die durchschnittliche AU-Dauer lag bei ca. 34 Tagen [2]. Die Gesamtkosten durch arbeitsplatzbezogene, psychische Erkrankungen wurden in Europa zuletzt auf 3,5% des Bruttoinlandprodukts geschätzt [3]. Dabei spielt neben dem dargestellten Absentismus bei AU auch Präsentismus eine Rolle, also die Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz Erkrankung. Dieses Phänomen erzeugt durch eine geringere Arbeitsleistung ebenfalls erhebliche Arbeitsplatzkosten [4].

Von psychotherapeutischer Seite wird die Wechselwirkung von Arbeit und Psyche häufig kaum beachtet, obwohl Arbeit – als wichtigem Bestandteil des Lebens – oft eine große Bedeutung zukommt. Die Berufstätigkeit sollte als relevante soziale Determinante von Gesundheit und Krankheit berücksichtigt werden. Häufig fehlt jedoch eine frühzeitige, routinemäßige Integration von Arbeit in den psychotherapeutischen Behandlungsprozess.

Eine Beschäftigung mit psychischen Erkrankungen im Arbeitskontext erscheint vor diesen Hintergründen relevant. Der folgende Beitrag soll

  • einen Überblick über Entstehung, Symptomatik und diagnostische Klassifikation arbeitsbezogener psychischer Erkrankungen sowie des Burnout-Begriffs geben,

  • eine Einteilung zur Darstellung des Arbeitsbezugs psychischer Erkrankungen und entsprechende Interventionsmodelle vorstellen sowie

  • den aktuellen Stand arbeitsbezogener Psychotherapie, auch im internationalen Vergleich, darstellen.


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Arbeitsstressmodelle

Arbeit kann, wenn sie menschengerecht und fair gestaltet ist, zur Förderung und Aufrechterhaltung der Gesundheit beitragen. Jedoch gibt es auch Arbeitsbedingungen, die negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeitnehmenden haben können. Hierzu zählen eine hohe, häufig unrealistische Ergebnisorientierung, Verdichtung der Arbeitsaufgaben und ein damit verbundener hoher Zeitdruck. Auch werden in diesem Zusammenhang eine mit der Digitalisierung einhergehende Entgrenzung der Arbeitszeiten und permanente Erreichbarkeitserwartung sowie zunehmende Wochenarbeitszeiten genannt [5].

Hintergrund

Evidenzbasierte Modelle

Folgende evidenzbasierte Modelle beschreiben den Zusammenhang zwischen Arbeit und psychischer Gesundheit:

  • Modell beruflicher Gratifikationskrisen

  • Anforderungs-Kontroll-Modell

  • Modell der Organisationalen Gerechtigkeit

Modell beruflicher Gratifikationskrisen

Dieses Konstrukt nimmt an, dass ein Ungleichgewicht zwischen beruflicher Verausgabung und sozial vermittelten Belohnungen mit einer Stressreaktion einhergeht [6]. Diese kann bei Langanhalten zu sogenannten Gratifikationskrisen führen. Hierbei wird von einer systematischen Wechselwirkung zwischen Organismus, persönlichem Erleben und sozialen Chancenstrukturen ausgegangen.


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Anforderungs-Kontroll-Modell

Dieses Modell betrachtet die Auswirkungen von beruflichen Anforderungen (psychischen Belastungen) und Kontrolle (Entscheidungsspielraum) auf die individuelle Gesundheit [7]. Demnach können psychische Belastungen, die aus Zeitdruck, hoher Arbeitsmenge oder widersprüchlichen Anforderungen hervorgehen, die Gesundheit negativ beeinflussen – insbesondere bei einem geringen Entscheidungsspielraum. Demgegenüber kann ein hoher Entscheidungsspielraum gesundheitsförderliche Aspekte wie eine aktive Freizeitgestaltung fördern. Hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und aktive Problemlösestrategien können diesen Effekt zusätzlich stärken. Ebenso kann eine Erhöhung der Anforderungen bei hohem Entscheidungsspielraum aktivierend wirken.


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Modell der Organisationalen Gerechtigkeit

Es beruht auf der Annahme, dass der Grad der wahrgenommenen Gerechtigkeit über Reaktionen im generellen Affekt und im Verhalten entscheidet. Dabei werden distributive, prozedurale und interaktionale Gerechtigkeit unterschieden; entsprechend können verschiedene Faktoren Einfluss auf Reaktionen wie chronischen Stress nehmen [8].


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Symptomatik

Patienten mit arbeitsbezogenen Belastungen werden zunächst oft wegen unspezifischer psychosomatischer Beschwerden vorstellig. Sie berichten häufig über Erschöpfung, innere Unruhe und Angespanntheit, Magen-Darm-Probleme, chronisch wiederkehrende Kopfschmerzen, Tinnitus, Angst, Depressionen, Schlafstörungen, Alkoholerkrankungen und Anpassungsstörungen. Diese sehr uneinheitliche Symptomatik unterstreicht auch die Bedeutung der Differenzialdiagnose, insbesondere bei Symptomen von Erschöpfung und Müdigkeit. Erkrankungen des Blutes, Stoffwechselerkrankungen, kardiovaskuläre Erkrankungen, Infektionen, degenerative Erkrankungen des ZNS und Medikamentennebenwirkungen können sich in ähnlichen Symptomen äußern.


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Diagnostische Klassifizierung

Entsprechend der heterogenen Beschwerdebilder arbeitsbezogener psychischer Störungen sind auch die zur Einordnung der Diagnosen angemessenen Kodierungen nach ICD bzw. DSM vielfältig. Nach ICD-10 können beispielsweise – je nach Ausprägung und Art der Symptomatik – am häufigsten depressive Störungen (F32.–, F33.–), Anpassungsstörungen (F43.2), Angststörungen (F40.–, F41.–), Neurasthenie (F48.0) oder Somatoforme Störungen (F45.–) Anwendung finden.

Ein expliziter Bezug eines Kontaktanlasses zum Berufsleben kann durch die Zusatzdiagnose Z56 abgebildet werden. Sie umfasst u. a. eine belastende Einteilung der Arbeitszeit, schwierige Arbeitsbedingungen und Unstimmigkeiten mit Vorgesetzten oder Arbeitskollegen. Die Diagnose Z56 wird häufig auch im Zusammenhang mit Mobbing verwendet.

Unter der Zusatzdiagnose Z73, die Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung beschreibt, wird bislang u. a. das Ausgebranntsein (Burnout) subsumiert. Gegenüber der ICD-10 ist im DSM-5 keine arbeitsbezogene Diagnose vorgesehen. Sie kann aber als Anpassungsstörung (309.x) im Kapitel Trauma- und stressassoziierte Störungen klassifiziert werden.

Bezüglich der Klassifikation von Burnout in der ICD-11 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO, [9]) eine detailliertere Definition des Begriffs angekündigt. Weiterhin als Zusatzdiagnose im Sinne eines arbeitsbezogenen Phänomens („occupational phenomenon“), nicht als Krankheit, wird Burnout wie folgt charakterisiert: Es beschreibt ein Syndrom, das aus chronischem Arbeitsstress hervorgehen kann, wenn dieser nicht erfolgreich bewältigt wird. Die Symptomatik ist dabei durch folgende 3 Merkmale gekennzeichnet:

  • Kraftlosigkeit und Erschöpfung

  • psychische Distanzierung von der Arbeit oder mit der Arbeit verbundene negative Gefühle bzw. Zynismus

  • reduzierte Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz

Merke

Burnout bezieht sich speziell auf Phänomene im Arbeitskontext und sollte nicht auf andere Lebensbereiche übertragen werden.

Fallbeispiel

Herr B., ein Heizungsinstallateur, berichtete, seit einem Jahr sowohl privat durch den Umbau des Hauses als auch in der Arbeit überlastet zu sein. Im Betrieb habe er für ein zusätzliches Arbeitspaket die Projektleitung übernehmen müssen. Vor 6 Monaten habe er angefangen, sich jeden Sonntagabend zu übergeben; dies habe sich gesteigert, bis er sich jeden Morgen vor der Arbeit habe übergeben müssen. Er habe immer mehr Angst entwickelt, zu versagen, bis er nicht mehr habe aufstehen können. Er könne nicht mehr denken, könne keine Arbeitsabläufe mehr priorisieren, ihm würde dann schwindelig und schwarz vor Augen. Er sei sehr nervös und angespannt, habe immer das Gefühl, noch etwas vorbereiten zu müssen. Der Schlaf sei wechselnd, oft habe er Albträume. Der bekannte Bluthochdruck sei schlechter geworden. Im Rahmen einer Krankschreibung hätten sich die Symptome etwas verbessert, er müsse seltener erbrechen.

Diagnostiziert wurden eine Generalisierte Angststörung mit ausgeprägter somatischer Symptomatik (F41.1), Psychogenes Erbrechen (F50.5), Kontaktanlässe mit Bezug zum Berufsleben (Z56) sowie Psychische Faktoren (F54) bei Arterieller Hypertonie (I10.00). Eine teilstationäre Aufnahme in eine psychosomatische Klinik wurde eingeleitet.

Insgesamt ist es in der therapeutischen Praxis eine Herausforderung, dem vielfältigen Beschwerdebild arbeitsbezogener psychischer Störungen in einem dieser Diagnosenkataloge gerecht zu werden bzw. den Arbeitsbezug hinreichend abzubilden.

Dennoch gibt es folgende epidemiologische Näherungen: In Großbritannien wurde auf Grundlage der von Psychiatern und Arbeitsmedizinern berichteten Inzidenz die Prävalenz von berufsbedingtem Stress, Depressionen und Angst geschätzt, sie betrug 1,6% [10]. Auffallend war, dass in Berufen des öffentlichen Dienstleistungssektors (z. B. Pflegekräfte, Lehrer etc.) häufiger berufsbedingter Stress auftrat als in anderen Bereichen. Als entscheidende Belastungsfaktoren wurden enge Abgabefristen, übermäßige Verantwortung sowie fehlende Unterstützung durch das Management berichtet [11]. In einer deutschen Studie lag die Lebenszeitprävalenz für die „Diagnose Burnout“, die laut Betroffenen vom Arzt bzw. Psychotherapeuten gestellt wurde, bei 4,2%, die 12-Monats-Prävalenz bei 1,5% [12]. Bezüglich Letzterer wurde das gleichzeitige Vorliegen einer psychischen Störung nach DSM-IV in 70% der Fälle ermittelt.


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Begriffsklärung: Burnout

In der Arbeits- und Organisationspsychologie ist der Begriff „Burnout“ ein etabliertes ätiologisches Modell. Es handelt sich dabei um einen unspezifischen Symptomkomplex, dessen Leitsymptome emotionale Erschöpfung, Depersonalisation sowie reduzierte persönliche Erfüllung und eingeschränkte Leistungsfähigkeit sind.

Merke

Für Burnout existieren vielfältige Definitionen und Perspektiven. Im kleinsten gemeinsamen Nenner beschreibt es einen chronischen Stresszustand mit Arbeitsbezug, der in psychische und somatische Symptome münden kann.

Begriffsätiologie

In der Ursachenforschung lassen sich 3 Richtungen von Ansätzen abgrenzen:

  • differenzialpsychologisch, individuenzentriert

  • arbeits- und organisationspsychologisch

  • soziologisch-sozialwissenschaftlich [13]

Differenzialpsychologisch, individuenzentrierter Ansatz

Im differenzialdiagnostischen Ansatz wird Burnout unter persönlichkeitsspezifischen Aspekten betrachtet, wobei Umwelteinflüsse weitgehend unberücksichtigt bleiben. Das Risiko für Burnout ist laut diesem Ansatz insbesondere für „Helfertypen“ hoch.


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Arbeits- und organisationspsychologischer Ansatz

Aus arbeits- und organisationspsychologischer Perspektive werden verschiedene arbeitsbezogene Merkmale als ursächlich für die Entstehung eines Burnouts gesehen. Zahlreiche Arbeitsanforderungen (z. B. ein Übermaß an Verantwortlichkeit, Arbeitsstrukturen, eintönige Arbeit, mangelnde Einflussmöglichkeit) können zu Arbeitsstress führen, wenn die individuellen Ressourcen nicht ausreichen, um diese externen Anforderungen zu bewältigen.


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Soziologisch-sozialwissenschaftlicher Ansatz

Der soziologisch-sozialwissenschaftliche Ansatz geht davon aus, dass gesellschaftliche Komponenten zur Burnout-Entstehung beitragen. Genannt werden insbesondere gestiegene Erwartungen an Flexibilität und Mobilität der Mitarbeitenden, zunehmende gesellschaftliche Vereinsamung, Anonymität und veränderte Kommunikationsformen [13]. Häufig schwingt hier eine mehr oder weniger dringende Forderung nach ständiger Selbstoptimierung mit.


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Klinische Anwendung

Aufgrund der vielfältigen Symptomatik wird der Begriff Burnout den klinischen und wissenschaftlichen Anforderungen an eine Diagnose im Sinne eines spezifischen Krankheitsbildes nicht gerecht. In der therapeutischen Praxis kann die Verwendung des Begriffs jedoch sehr hilfreich sein, um sich auf das subjektive Krankheitsmodell des Patienten einzulassen [14].

Merke

Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz der „Diagnose Burnout“ kann es dem Patienten erleichtern, therapeutische Hilfe aufzusuchen.

Auch in der Therapie wird Burnout als Begriffsverwendung genutzt: Häufig externalisieren „Burnout-Patienten“ die Ursachen ihrer Beschwerden, machen berufliche Probleme und arbeitsbezogene Herausforderungen für die Entstehung ihrer psychischen Probleme verantwortlich. Die Akzeptanz des Burnout-Begriffs ermöglicht es, diese externen Faktoren zunächst zu benennen, um in einem zweiten Schritt personenbezogene Schwierigkeiten zu betrachten. Hierdurch kann schließlich eine ressourcenfördernde Therapie in Gang gesetzt werden [14]. Dass Burnout in der Öffentlichkeit zunehmend diskutiert wird, kann dazu beitragen, die gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter zu reduzieren [15].


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Begriffliche Abgrenzung

„Ausgebrannte“ Arbeitnehmer können das gesamte Spektrum sowohl somatischer als auch psychischer Erkrankungen aufweisen. Sehr häufig tritt eine depressive Symptomatik auf. Ebenso können Burnout-Symptome Bestandteile eines breiteren depressiven Syndroms sein. Es gibt verschiedene Herangehensweisen und Meinungen dazu, inwieweit Burnout und Depression voneinander unterscheidbar sind bzw. von welchem Grad der Überschneidungen aktuell auszugehen ist [16]. Zur Abgrenzung klinischer Erkrankungen von Arbeitsbelastungen schlägt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) [15] ein mehrphasiges Entstehungskonzept vor: Individuelle und Arbeitsplatzfaktoren können zu einer Arbeitsüberforderung führen, die mit vegetativen Stresssymptomen und Erschöpfung einhergehen.

Cave

Nicht jede Arbeitsüberforderung ist ein Burnout.

Praxistipp

Ist die Arbeitsüberforderung zeitlich begrenzt und vorübergehend und lassen sich die Stresssymptome in einer kurzen Erholungsphase zurückbilden, sollte nicht von Burnout gesprochen werden [15]. Hält die Überforderung jedoch über mehrere Wochen oder Monate an, führt sie zu einem Risikozustand mit längerfristiger Erschöpfung und Leistungsminderung und kann als Burnout (Z73) klassifiziert werden.

Burnout kann – im Sinne eines chronifizierten Stresses – als Risikofaktor für Folgeerkrankungen wie Depression, Angsterkrankungen, Hypertonie und Tinnitus wirken. Zusätzlich können somatische Erkrankungen zu einer Leistungseinschränkung führen und somit ein Burnout begünstigen.


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Messinstrument

Das am häufigsten angewendete Verfahren zur Erfassung des subjektiven Maßes der Burnout-Beschwerden ist das Maslach-Burnout-Inventar (MBI) [17]. In Form einer Selbstbeurteilung kann das Ausmaß der Beschwerden auf 3 Dimensionen dargestellt werden:

  • emotionale Erschöpfung

  • Depersonalisation/Zynismus

  • persönliche Erfüllung/Leistung

Merke

Das MBI kann erweiternd und unterstützend zur Syndromabklärung eingesetzt werden, jedoch nicht zur medizinischen Diagnosestellung oder Differenzialdiagnostik.

Das MBI hat in der Burnout-Forschung eine maßgebliche Rolle gespielt, hat zum Wachstum des gesamten Forschungsgebietes beigetragen und ist nach wie vor eines der wichtigsten Instrumente zur Beurteilung von Burnout [16]. Dennoch gibt es auch Kritik an der Verwendung des MBI, da es weder auf einer soliden theoriegeleiteten, klinischen noch empirischen Grundlage entwickelt wurde. Um der klinischen Burnout-Forschung Rechnung zu tragen, sollte zudem eine Weiterentwicklung der Burnout-Definition diskutiert werden [16].


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Internationale Einteilung arbeitsbezogener Störungen

Der Arbeitsbezug einer psychischen Störung kann unterschiedlich ausgeprägt sein. Der resultierende Einfluss auf Krankheits- und Therapieverlauf legt eine entsprechende Einteilung nahe.

Definition

Die Internationale Arbeitsorganisation (engl. International Labour Organization, ILO) hat 3 Kategorien zur Einteilung arbeitsbezogener Erkrankungen vorgeschlagen [18]:

  • Erkrankungen, welche die erwerbstätige Bevölkerung betreffen

  • arbeitsbezogene Erkrankungen

  • Berufskrankheiten

Zusatzinfo

Information zur ILO

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ist eine dreigliedrige UN-Sonderorganisation, sie wurde 1919 gegründet und hat sich als Ziel gesetzt, Regierungen, ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen zusammenzubringen, um

  • internationale Arbeits- und Sozialnormen zu formulieren und durchzusetzen,

  • die Globalisierung sozial und fair zu gestalten,

  • menschenwürdige Arbeit als zentrale Voraussetzung für die Armutsbekämpfung zu schaffen.

Auf arbeitsbezogene psychische Erkrankungen übertragen, lassen sich die in den folgenden Abschnitten dargelegten Ausführungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfassen.

Psychische Erkrankungen, welche die erwerbstätige Bevölkerung betreffen

Hierunter werden Erkrankungen verstanden, die nicht durch Arbeit verursacht, aber durch berufsbedingte Risikofaktoren verstärkt werden können. Als Risikofaktoren für psychische Erkrankungen können sowohl arbeitsbezogene (Arbeitsaufgaben, Arbeitsorganisation, soziale Situation am Arbeitsplatz) als auch sonstige sozioökonomische Bedingungen wirken [5].

Fallbeispiel

Die 40-jährige Frau B., Erzieherin in der Jugendhilfe, schilderte, dass sie eines Nachmittags bei der Arbeit mit einem anstrengenden Klienten nicht mehr habe umgehen können. Sie habe sich überfordert und hilflos gefühlt, Herzklopfen, Hitzegefühl und Kurzatmigkeit entwickelt und habe nach Hause gehen müssen. Danach habe sie sich krankschreiben lassen, aber die Panikattacken seien fast täglich aufgetreten. Sie habe bereits seit einigen Wochen eine reduzierte Belastbarkeit am Arbeitsplatz sowie zunehmend Versagensängste und Selbstzweifel bemerkt. Zu Hause sei sie niedergeschlagen, weine und habe keinen Antrieb, die Hausarbeit zu erledigen.

Es wurde die Diagnose einer mittelgradigen depressiven Episode (F32.1) sowie einer Panikstörung (F41.0) gestellt. In Bezug auf die Arbeit konnten keine weiteren depressiogenen Faktoren erhoben werden. Das Beschwerdebild ist daher als psychische Erkrankung, die die erwerbstätige Bevölkerung betrifft, einzuordnen. Es wurde eine medikamentöse Behandlung mit Citalopram begonnen sowie ein stationärer Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik in die Wege geleitet.


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Arbeitsbezogene psychische Erkrankungen (im engeren Sinn)

Arbeitsbezogene psychische Erkrankungen beschreiben Störungen, deren Genese unter anderem direkt von arbeitsbezogenen Umwelt- und Risikofaktoren beeinflusst wird. Ausgehend von einem multifaktoriellen Erkrankungsmodell wird Arbeit dabei als eine von mehreren Ursachen psychischer Erkrankungen angesehen. Die Definition einer arbeitsbezogenen psychischen Erkrankung erfolgt unter Studienbedingungen oft durch Selbstauskunft oder Experten und wird je nach Kontext operationalisiert.

Fallbeispiel

Frau M. berichtete von ihrer Arbeit als Krankenschwester auf einer Station mit schwerstkranken, palliativen Kindern. Sie beschrieb, seit einem halben Jahr starke Nackenverspannungen zu haben, sodass sie vor Schmerzen die Finger nicht mehr bewegen könne. Unter Schmerzmedikation habe sie weitergearbeitet. In der Arbeit hätten sie in dieser Zeit ein großes, schweres und aggressives Kind zu pflegen, das sich gegen sämtliche Pflegemaßnahmen wehren würde. Zu Hause wohne sie in einem Haus mit der psychisch kranken Mutter, deren Depression sich seit dem Tod des Vaters deutlich verschlechtert habe und um die sie sich kümmere. Seit einer Krankschreibung seien die Schmerzen etwas besser geworden.

Diagnostiziert wurde eine somatoforme Schmerzstörung (F45.4), die als arbeitsbezogene psychische Erkrankung einzuordnen ist. Eine stationäre psychosomatische Reha wurde beantragt, da die Herausnahme der Patientin aus dem pathogenen Umfeld für den Therapieerfolg essenziell erschien. Im Rahmen der Reha konnte Frau M. sich dazu entschließen, von der Mutter weg zu ihrem Partner zu ziehen. Zurück am Arbeitsplatz wurde im Team eine veränderte Aufteilung der zu pflegenden Kindern beschlossen, wodurch Frau M. im weiteren Verlauf einen zusätzlichen Schmerzrückgang bemerkte. Erst durch eine ambulante Psychotherapie konnten die Schmerzen zufriedenstellend behandelt werden.


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Psychische Berufskrankheiten

Eine Berufskrankheit liegt vor, wenn Arbeit als hauptsächliche oder sogar einzige Ursache psychischer Erkrankungen angesehen wird. Psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen wurden erstmals 2010 in die ILO-Liste der Berufskrankheiten aufgenommen [18]. Laut ILO müssen zur Anerkennung einer Berufskrankheit folgende Kriterien erfüllt sein:

  • Es existiert ein evidenzbasiertes, klar definiertes Modell zum zeitlichen und kausalen Zusammenhang von Exposition und Auftreten der Krankheit.

  • Es besteht ein kausaler Zusammenhang mit einem spezifischen Stoff, einer spezifischen Exposition oder einem spezifischen Arbeitsprozess.

  • Das Auftreten ist an eine spezifische Arbeitsumgebung und/oder Beschäftigung gekoppelt.

  • Die Inzidenz ist in der erwerbstätigen Population im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erhöht.

Diese Definition der ILO hat Empfehlungscharakter. Eine verbindliche Identifizierung und Anerkennung von Berufskrankheiten ist in den entsprechenden nationalen Gesetzgebungen der Mitgliedsstaaten geregelt. In Deutschland sind Berufskrankheiten im Sozialgesetzbuch (§ 9 SGB VII) verankert. Die einzige, national anerkannte psychische Berufskrankheit, die durch arbeitsbezogenen Stress verursacht wird, existiert in Japan. „Karojishatsu“ beschreibt eine psychische Störung mit resultierendem Suizid aufgrund von Überarbeitung [19]. Diese Diagnose stützt sich vor allem auf die Anzahl der Überstunden.


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Interventionsmodelle

Maßnahmen zur Prävention und Therapie arbeitsbezogener psychischer Erkrankungen können in klinische und arbeitsorientierte Interventionen unterteilt werden. Klinische Interventionen umfassen in der Regel eine symptombezogene Behandlung, die sich meist an kognitiv-verhaltenstherapeutischen Grundsätzen orientiert. Vermittelt werden Psychoedukation sowie unterstützende Strategien wie Entspannungstechniken und Achtsamkeitsübungen. Für dieses Vorgehen konnte eine Symptomreduktion nachgewiesen werden, jedoch keine frühere Rückkehr an den Arbeitsplatz [20]. Ausschließlich arbeitsplatzorientierte Interventionen befassen sich mit organisationalen Themen oder strukturellen Veränderungen am Arbeitsplatz.

Merke

Arbeitsplatzorientierte Interventionen sind vor allem primärpräventiv wirksam – bei bereits erkrankten Erwerbstätigen ist ein geringerer Effekt zu erwarten [21].

Über rein klinische bzw. arbeitsorientierte Angebote hinaus sind Kooperationsmodelle möglich, die gleichzeitig betriebliche Angebote und Strukturen sowie die fachpsychotherapeutische Behandlung einbeziehen. Solche individuell abgestimmten, zeitnahen und intensiven Kooperationen werden als „betriebsnahe Versorgungsnetzwerke“ bezeichnet.

Praxistipp

Eine frühere Rückkehr zum Arbeitsplatz bei gleichzeitiger Symptomreduktion lässt sich durch betriebsnahe Versorgungsnetzwerke erreichen [22]. Diese greifen durch einen niedrigschwelligen Zugang sowie eine verbesserte, interdisziplinäre Versorgung.

Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb

Ein gut untersuchtes Angebot im Rahmen betriebsnaher Versorgungsnetzwerke ist die „Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb“ (PSIB) [23]. Sie ist eine Kooperation zwischen Betrieb und psychotherapeutischen Experten, die eine zeit- und betriebsnahe Kurzintervention durchführen. Finanziert wird das Angebot meist vom Betrieb bzw. der Betriebskrankenkasse.

Die PSIB beinhaltet folgende Kernelemente [23]:

  • Beziehungsaufbau

  • diagnostische Einschätzung

  • Psychoedukation

  • Motivation und Unterstützung

Beziehungsaufbau

Der Beziehungsaufbau erfolgt in der PSIB zwischen zwei zunächst sich fremden Personen. Erfahrungsgemäß stellen sich dort häufig Menschen vor, die erstmalig Kontakt mit einem Versorgungsangebot zur Förderung psychischer Gesundheit haben.


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Diagnostische Einschätzung

Die diagnostische Einschätzung bezieht sich auf Diagnose, psychosoziale Situation und funktionelle Einschränkungen. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei den Arbeitsbedingungen und dem Umgang der Betroffenen damit zu.


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Psychoedukation

Bei der Psychoedukation klären die Therapeutin bzw. der Therapeut über die diagnostische Einschätzung auf. Zusätzlich vermitteln sie Informationen zu Störungsbild, geeigneten Arbeitsstressmodellen und Behandlung. Dies beeinflusst das Inanspruchnahmeverhalten und den Behandlungserfolg, z. B. für Depressionen, positiv.


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Motivation und Unterstützung

In der Phase der Motivation und Unterstützung werden Behandlungsmöglichkeiten skizziert. Ziel ist, dass die Patienten eine Behandlungsmotivation entwickeln. Zudem erhalten sie Unterstützung bei der Behandlungsaufnahme.


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Arbeitsbezogene Psychotherapie

Eine – verglichen mit der Akutbehandlung – lange Historie hat berufsbezogene Psychotherapie in der psychosomatischen Rehabilitation. Studien zeigten, dass Patienten mit ausgeprägten beruflichen Problemen von einer Behandlung, die einen stärkeren Arbeitsbezug in Diagnostik und Therapie aufweist, mehr profitieren als von einer herkömmlichen medizinischen Rehabilitation [24].

Auch in der psychotherapeutischen Akutversorgung hat berufsbezogene Therapie in den letzten Jahren Einzug gehalten. Effekte zeigten sich sowohl hinsichtlich symptomatischer als auch berufsbezogener Outcome-Parameter: AU-Zeiten, Symptombelastungen und Kosten wurden reduziert [25]. Im Rahmen arbeitsbezogener Gruppentherapie zeigten sich positive Auswirkungen auf Erwerbstätigkeit, Einschätzung der beruflichen Perspektive und der Behandlungszufriedenheit.

Ziele und Indikationen

Spezifische Ziele arbeitsbezogener Psychotherapie sind in der Regel die Wiederherstellung oder der Erhalt der Arbeitsfähigkeit bzw. die Verhinderung einer Chronifizierung [25]. Dabei können der Abbau von Überforderung oder Konflikten am Arbeitsplatz, der Ausbau von Bewältigungsstrategien oder die Veränderung arbeitsbezogener Einstellungen im Fokus stehen. In folgenden Konstellationen erscheint eine arbeitsbezogene Psychotherapie sinnvoll:

  • Vorliegen einer psychisch bedingten AU bzw. eingeschränkten Arbeitsfähigkeit

  • Sorgen um den Arbeitsplatz durch das Vorliegen einer psychischen Erkrankung

  • Vorliegen einer Arbeitsbelastung als Ursache einer psychischen Störung

  • berichtete Konflikte, Unzufriedenheit oder Probleme am Arbeitsplatz


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Diagnostik

Das diagnostische Vorgehen stützt sich in der Regel auf eine arbeitsplatzbezogene Anamnese, in der objektive und subjektive Merkmale der Arbeit erfragt werden [25]. Eine anschließende Arbeitsanalyse kann als Grundlage für die Therapie und ggf. Wiedereingliederung dienen. Hierzu werden Haupt- und Nebenaufgaben nach Beschaffenheit, Dauer, Frequenz und Umsetzbarkeit analysiert. Allgemeine und arbeitsbezogene Ressourcen und Kompetenzen werden herausgearbeitet.

Merke

Zur Beurteilung psychosozialer Belastungen und Beanspruchungen am Arbeitsplatz gibt es zahlreiche Fremd- und Selbstbeurteilungsinstrumente.

Eine Selbsteinschätzung der Patienten kann den Beziehungsaufbau und den Einstieg in die Therapie unterstützen. Drei Beispiele für entsprechende Fragebögen sind:

  • Work Ability Index (WAI)

  • Fragebogen zur Messung beruflicher Gratifikationskrisen (Effort-Reward Imbalance, ERI)

  • Fragebogen Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM).

Der WAI schätzt in 7 Dimensionen die Arbeitsfähigkeit ab. Der ERI gibt mittels 16 Items Auskunft über Verausgabung, Belohnung und Verausgabungsbereitschaft. Der AVEM umfasst 66 Items (Kurzform: 44 Items) und misst subjektives, arbeitsbezogenes Verhalten und Erleben. Die Ergebnisse können dimensional 4 Mustern zugeordnet werden: gesundheitsförderlich, Schonung, überhöhte Anstrengung bzw. Selbstüberforderung und „Burnout-Syndrom“ (Überforderung, Erschöpfung, Resignation).


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Therapeutisches Vorgehen

Wie auch in anderen Formen der Psychotherapie erfolgt in der arbeitsbezogenen Psychotherapie zunächst ein Motivationsaufbau, z. B. durch motivierende Gesprächsführung [25].

Merke

Als Besonderheit der arbeitsbezogenen Psychotherapie sollten psychosoziale Funktionen der Arbeit in Bezug auf Aktivität und Kompetenz, Zeitstrukturierung, Kooperation und Kontakt sowie soziale Anerkennung Beachtung finden.

Im Rahmen der Informationsvermittlung ist die Erarbeitung eines individuellen Belastungs- und Beanspruchungsmodells anzustreben. Dabei können Belastungen auf gesellschaftlicher, betrieblicher, sozialer und psychischer Ebene unterschieden werden. In diesem Zusammenhang sollte auch der Einfluss der psychischen Störung auf die Arbeitsfähigkeit thematisiert werden.

Weiterhin ist es sinnvoll, über die Vorteile einer stufenweisen Wiedereingliederung (SWE) als Baustein des betrieblichen Wiedereingliederungsmanagements (BEM) aufzuklären [25]. Hierzu zählen das Erleben positiver Erfahrungen und Anerkennung, die Gelegenheit, dysfunktionale Kognitionen zu überprüfen und sich in eine graduierte Konfrontation zu begeben. Insgesamt wird die Schwelle zur kompletten Rückkehr an den Arbeitsplatz reduziert. Mögliche Probleme oder Hindernisse sollten systematisch gelöst bzw. beseitigt werden, die Patienten dazu ggf. direkt Kontakt mit betrieblichen Ansprechpartnern aufnehmen.

Praxistipp

Während einer SWE sollten insbesondere Ängste Beachtung finden, die sich typischerweise auf Beschwerdezunahme, Arbeitsinhalte, Organisation, Beziehungen, Umgebung oder Einstellung zur Arbeit beziehen.

In der kognitiven Verhaltenstherapie mit Arbeitsplatzfokus kommen entsprechende Techniken wie Ressourcenaktivierung, Entspannungsverfahren oder Konfrontationsübungen bei arbeitsplatzbezogenen Ängsten zur Anwendung [25]. Therapieelemente können zudem die Stärkung sozialer Kompetenzen sowie kognitive Techniken sein, um arbeitsbezogene gedankliche Verzerrungen abzubauen. Von therapeutischer Seite kann eine akzeptanzbasierte Haltung dazu beitragen, Akzeptanz und emotionale Kompetenzen bei den Patienten zu stärken.

Fallbeispiel

Die 50-jährige Frau D. stellte sich in unserer PSIB wegen mehrerer Anfälle von Brustenge, Herzrasen und Beklemmung vor. Sie sei als Sekretärin tätig, eigentlich mit 50%, habe jedoch aufgrund des hohen Arbeitsaufkommens im letzten Jahr in Vollzeit, zuletzt auch samstags, gearbeitet. Sie sei am Arbeitsplatz Ansprechpartnerin für alle. Zu Hause kümmere sie sich um den pflegebedürftigen Schwiegervater. Ihr eigener Mann sei überraschend vor mehreren Jahren gestorben, seither sei sie allein und fühle sich zu Hause nicht mehr wohl. In der Folge habe sie sich in der Arbeit verkrochen und 20 kg abgenommen. Zuletzt habe sie nichts Schönes mehr für sich gemacht. Nachts habe sie schlecht geschlafen, ausstehende Aufgaben seien ihr ständig durch den Kopf gegangen. Sie sei erschöpft, zittrig, angespannt und leicht reizbar gewesen und habe viel geraucht. Am Arbeitsplatz bekomme sie nichts mehr auf die Reihe.

Wir stellten die Diagnosen Panikattacken (F41.0) und Burnout (Z73) und leiteten eine stationäre, psychosomatische Reha ein. Danach begleiteten wir die SWE psychotherapeutisch. Es gelang Frau D., sich am Arbeitsplatz besser abzugrenzen und ihre Freizeit bewusster zu gestalten. Die SWE war erfolgreich und Frau D. blieb im Katamnese-Zeitraum (1 Jahr) im Erwerbsleben. In Situationen mit viel Druck spüre sie zwar aufkommende Panikattacken, habe aber zunehmend früher und besser reagieren und vorsorgen können: Sie sagte z. B. das Erledigen von Aufgaben nicht mehr zu einem bestimmten Zeitpunkt zu.


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Handlungsempfehlungen

Um die Versorgungs- und Behandlungsqualität arbeitsbezogener psychischer Störungen zu sichern, sind entsprechende Leitlinien bzw. anderweitige Handlungsempfehlungen wünschenswert.

International

Leitlinien zur Therapie arbeitsbezogener psychischer Störungen sind in Ländern wie Japan, Finnland, Großbritannien oder den Niederlanden vorhanden [26]. Diese empfehlen, Symptomkataloge anzuwenden, Diagnosen zu klassifizieren sowie Leistungseinschränkungen und Arbeitsplatzfaktoren zu erfassen und zu beachten. Zur Unterstützung der Rückkehr an den Arbeitsplatz werden spezifische, arbeitsbezogene Interventionen vorgeschlagen. Sie sollen eine psychologische bzw. psychotherapeutische Behandlung beinhalten sowie die Kommunikation zwischen involvierten Akteuren berücksichtigen [26]. In einer internationalen Literaturübersicht wurden allerdings auch Qualitätsdefizite der Leitlinien in folgenden Bereichen sichtbar [27]: Präventionsempfehlungen und Praxishilfen, Austausch mit der Zielgruppe, Verhältnisorientierung und Beachtung geografischer Besonderheiten.


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National

Cave

National gültige Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung arbeitsbezogener psychischer Störungen existieren in Deutschland nicht.

Im deutschsprachigen Raum findet sich insgesamt eine heterogene Landschaft von Informationen und Handlungshilfen, die das Thema psychische Gesundheit am Arbeitsplatz aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Online frei verfügbar sind hierzu beispielsweise Informationen der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ (inqa.de), der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (baua.de) und der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga-info.de). Bei diesen Angeboten werden überwiegend Hintergrundinformationen zum Zusammenhang von Arbeit und psychischer Gesundheit dargestellt sowie Handlungsempfehlungen aus betrieblicher Perspektive gegeben.


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Kernaussagen
  • Arbeitsbezogene psychische Erkrankungen treten häufig auf – arbeitsbedingte Faktoren sind dabei für den Behandlungserfolg relevant und sollten in der Psychotherapie Beachtung finden.

  • Arbeitsstressmodelle beschreiben evidenzbasiert die Zusammenhänge zwischen Arbeit und psychischer Gesundheit.

  • Die Symptomatik arbeitsbezogener psychischer Störungen ist heterogen, eine eindeutige diagnostische Einordnung dadurch häufig erschwert.

  • Der Symptomkomplex Burnout beschreibt einen chronischen Stresszustand mit Arbeitsbezug und kann in der therapeutischen Arbeit konstruktiv genutzt werden.

  • Die internationale Einteilung arbeitsbezogener Störungen der ILO bildet den Grad des Arbeitsbezugs psychischer Erkrankungen ab.

  • Interventionen sollten möglichst im Rahmen betriebsnaher Versorgungsnetzwerke erfolgen, um Symptome zu verringern und gleichzeitig die Rückkehr an den Arbeitsplatz zu beschleunigen.

  • Die Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb ist eine Kooperation zwischen Betrieben und psychotherapeutischen Experten: Betroffene Mitarbeitende erhalten so niedrigschwellig und zeitnah Hilfe im Rahmen einer Kurzintervention.

  • In der arbeitsbezogenen Psychotherapie steht der Arbeitsplatz im Fokus. Wichtige Elemente sind eine Arbeitsanalyse, die Erarbeitung eines individuellen Belastungs-Beanspruchungs-Modells sowie die Planung und Begleitung der Rückkehr ins Erwerbsleben.

  • Anders als in vielen anderen Ländern existieren in Deutschland keine nationalen Leitlinien zur Therapie arbeitsbezogener psychischer Störungen.

Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen

Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Simone Braun, Ulm.


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Autorinnen/Autoren

Simone Braun

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Dr. med. Jahrgang 1986. 2006 – 2012 Studium der Humanmedizin an der Charité Berlin und der Universität zu Lübeck. 2013 – 2018 Facharztausbildung Allgemeinmedizin. 2018 Fachärztin für Allgemeinmedizin. 2015 – 2017 Studium Public Health an der Leuphana Universität Lüneburg. Seit 3/2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum Ulm für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz. Schwerpunkt: Betriebliche Gesundheitsinterventionen.

Franziska Kessemeier

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M. Sc. Jahrgang 1991. 2010 – 2015 Studium der Psychologie an der Universität Bremen. 2016 – 2019 Promotionsstipendiatin der DRV Braunschweig-Hannover und der Universität Bremen. Seit 3/2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum Ulm für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz. Schwerpunkte: Return to Work, Berufsbezogene Interventionen in der psychosomatischen Rehabilitation, Betriebliche Gesundheitsinterventionen.

Elisabeth Maria Balint

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Dr. med. 2000 – 2008 Studium der Humanmedizin in Regensburg und Ulm. 2008 Promotion zum Dr. med. 2009 – 2013 Innere Medizin in der Universitätsklinik Ulm. Seit 2013 Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in der Universitätsklinik Ulm sowie seit 2017 am Kompetenzzentrum für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz in Ulm tätig. Schwerpunkte: Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb, Psychophysiologie.

Elena Schwarz

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M. Sc. Jahrgang 1989. 2010 – 2015 Studium der Psychologie an der Universität Tübingen. Seit 5/2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Ulm. Seit 10/2017 Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin. Schwerpunkt: Betriebliche Gesundheitsinterventionen.

Michael Hölzer

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Priv. Doz. Dr. med. Jahrgang 1956. 1977 – 1984 Studium der Humanmedizin an der Universität Ulm. 1985 – 1986 Post-Doc Downstate Medical Center SUNY. Facharztausbildung Psychosomatische Medizin bis 1995. Psychoanalyse (DPV). 1997 Habilitation über das „Affektive Diktionär“. Seit 2006 Medizinischer Geschäftsführer der Sonnenberg Klinik Stuttgart. Koordination des SINOVA Kliniken Verbundes.

Harald Gündel

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Prof. Dr. med. 1983 – 1989 Medizinstudium in Münster, Wien und New York. 2003 Habilitation Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. 2006 – 2010 Univ.-Prof. und Leiter der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Med. Hochschule Hannover. Seit 2010 Leitung des Lehrstuhls und der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Ulm. Schwerpunkte: Berufsleben und Gesundheit, somatoforme Störungen.

Eva Rothermund

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Dr. med. 1995 – 2004 Studium und Promotion Charité, Universitätsmedizin Berlin. 2013 Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Aktuell oberärztliche Leitung der Hochschulambulanz der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Ulm und Senior Researcher am Kompetenzzentrum für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz. Weitere Schwerpunkte: Versorgungsforschung, Gruppentherapie, Schmerztherapie.

Interessenkonflikt

Erklärung zu finanziellen Interessen
Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma: nein.
Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. med. Simone Braun
Universität Ulm
Kompetenzzentrum Ulm für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz
(Leadership Personality Center Ulm, LPCU)
Kornhausgasse 9
89073 Ulm

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
30. Oktober 2019 (online)

Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York


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