Diabetes aktuell 2019; 17(03): 104-107
DOI: 10.1055/a-0890-2007
Schwerpunkt
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Stationäre Diabetestherapie und Behandlung

Jeder vierte Patient in Kliniken leidet an Diabetes
Andreas Fritsche
1   Innere Medizin IV –Endokrinologie und Diabetologie, Angiologie, Nephrologie und Klinische Chemie, Universität Tübingen
2   Deutsches Zentrum für Diabetesforschung (DZD), Neuherberg
3   Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen des Helmholtz Zentrum München an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Andreas Fritsche
Stellvertretender kommissarischer ärztlicher Direktor
W3-Professur für Ernährungsmedizin und Prävention
Diabetologie
Medizinische Klinik IV
Otfried-Müller-Straße 10
72076 Tübingen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
17. Mai 2019 (online)

 

Zusammenfassung

In der Gesellschaft und Politik wird Diabetes mellitus oftmals noch als eine Krankheit angesehen, die leicht ambulant zu behandeln ist und nur selten eine stationäre Therapie erfordert. In Wahrheit ist jedoch jeder 4. stationär behandelte Patient an Diabetes erkrankt. Auch die Mortalität von Diabetes wurde bisher weit unterschätzt. Angesichts der demographischen Entwicklung und Zunahme der Diabetesprävalenz, der gleichzeitig sinkenden Anzahl von Diabetesabteilungen in den Krankenhäusern und der schlechten Abbildung von Diabetes im Vergütungssystem in den Krankenhäusern kommt ein großes Problem auf das Gesundheitssystem zu. Dieser Artikel zeigt die Notwendigkeit einer stationären Diabetologie auf und gibt Anregungen zur Behandlung und Forschung von Diabetes im Krankenhaus.


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Gemeinhin wird der Diabetes mellitus als eine Krankheit angesehen, die ambulant behandelt wird. Dies rührt daher, dass die Anzahl der stationär behandelten Diabetespatienten in der Gesundheitsberichterstattung extrem unterschätzt wird [1]. Hier werden nämlich nur Patienten mit der Hauptdiagnose Diabetes erfasst ([Tab. 1]), für Baden-Württemberg beispielsweise bedeutet dies, dass nur jeder 90. Krankenhauspatient wegen Diabetes in der Klinik liegt [2]. Erfasst man allerdings die Nebendiagnose Diabetes, hat bereits jeder 8. Patient die Stoffwechselerkrankung. Um die wirkliche Zahl der Diabetespatienten zu erfassen, haben wir im Universitätsklinikum Tübingen über 3 Monate alle stationären Patienten im Alter über 18 Jahre auf Diabetes und Prädiabetes untersucht und den HbA1c-Wert gemessen. Hier zeigte sich, dass 22,2 %, also jeder 4. Patient im Universitätsklinikum, einen Diabetes mellitus hat [3].

Tab. 1

Indikationen für stationäre Diabetestherapie (angelehnt an die Empfehlungen des Bundesverbands Klinischer Diabetes-Einrichtungen e.V.)

Mögliche Indikationen für eine stationäre Diabetestherapie

  • bei Erstmanifestation des Typ-1-Diabetes, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen

  • zur Behandlung nach wiederholten schweren Unterzuckerungen (Hypoglykämien) oder Ketoazidosen

  • bei stark schwankenden Blutzuckerwerten

  • bei schweren speziellen Stoffwechseldekompensationen (Steroidtherapie, pankreopriver Diabetes, Lebererkrankungen, häufige nächtliche Unterzuckerungen)

  • bei Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen

  • zur Einleitung einer Insulinpumpen-Therapie

  • zur Mitbehandlung von Folge- und Begleitkrankheiten des Diabetes (z. B. Herz-Kreislauferkrankungen, nicht alkoholische Fettlber (NAFLD), Nierenerkrankungen, Nervenerkrankungen, Arthropathie, arterielle Verschlusskrankheit, diabetische Retinopathie)

  • bei Einschränkungen der Mobilität z. B. durch erhebliche Gehbehinderung, Rollstuhlbenutzung, Seh- oder Hörbehinderung, die ein Aufsuchen einer ambulanten diabetologischen Praxis verhindert

  • bei Gründen, die eine psychologische Mitbehandlung erforderlich machen (begleitende Depression, Motivationsstörung, Compliance-Störung, Akzeptanzstörung)

  • bei diabetischem Fußsyndrom, insbesondere

    • bei Verdacht auf einen infizierten diabetischen Fuß

    • bei Verdacht auf eine durch den Diabetes mellitus verursachte Knochenerkrankung

    • peripherer arterieller Verschlusskrankheit

Werden die individuellen Therapieziele und der individuelle HbA1c-Zielwert nach 9–12 Monaten ambulanter Therapie nicht erreicht, sollte eine stationäre Behandlung in einem Diabeteszentrum geprüft werden.

Die Bedeutung der Diabeteserkrankung in der stationären Behandlung zeigt sich auch darin, dass beispielsweise verschiedene medikamentöse Therapien (Psychopharmaka, Onkologika, Steroide etc.) häufig zu einer Stoffwechseldekompensation und zu lebensbedrohlichen Zuständen führen. Auch elektive Eingriffe sollten bei Diabetespatienten von einer prä-, peri- und postoperativen spezifischen Diabetestherapie begleitet werden. Dekompensiert der Stoffwechsel, ist die Komplikationsrate während des Eingriffs und während des Aufenthalts höher und die Patienten sind länger in der Klinik [3].

Dass die Diabetesdiagnose gerade bei stationären Diabetespatienten nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf, zeigen die Mortalitätsraten für Diabetes [4]. Bisher wurden Mortalitätsraten für Diabetes anhand der Totenscheine erfasst. Doch diese Vorgehensweise führt zu einer erheblichen Unterschätzung der Diabetesmortalität. Die aktuellen Daten, die die sogenannte diabetesbedingte Exzessmortalität erheben, zeigen, dass jeder 5. Deutsche an Diabetes stirbt [4].

Das Krankenhaus – ein idealer Ort für Diabetesscreening

In Deutschland erkranken immer mehr Menschen an Diabetes. Bis zum Jahr 2040 werden 12,3 Millionen Menschen an der Stoffwechselerkrankung leiden, wie aktuelle Hochrechnungen zeigen, die die demografische Entwicklung berücksichtigen [5]. Somit wird die Zahl der im Krankenhaus zu behandelnden Diabetespatienten weiter stark zunehmen. Es ist auch extrem wichtig, zu wissen, ob ein Patient Diabetes hat. Die Klinik ist der ideale Ort, um auf Diabetes zu screenen. Die Patientenerfassung und das HbA1c-Screening lässt sich mit einem gut ausgestatteten, modernen Zentrallabor mit automatisierter HbA1c-Messung und durch vollautomatisches Einpflegen der Informationen in das Patientenmanagementsystem praktisch gut umsetzen [3]. Unsere Untersuchungen im Universitätsklinikum Tübingen zeigten zudem, dass Patienten mit Diabetes etwa 1,47 Tage länger in der Klinik behandelt werden mussten, als Patienten mit der gleichen Diagnose ohne Diabetes. Die Betroffenen hatten darüber hinaus ein höheres Risiko für Komplikationen: Bei 24 % der Patienten mit Diabetes traten Komplikationen auf. Zum Vergleich: nur 15 % der Patienten ohne Diabetes waren von Komplikationen betroffen [3]. Es ist also wichtig zu wissen, ob man einen bisher unerkannten Diabetespatienten vor sich hat. Also ist ein Screening nötig und ebenso natürlich eine darauffolgende strukturierte, interdisziplinäre Behandlung.


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Stationäre Behandlung von Diabetespatienten – das Konsilwesen

Wie ist die Situation in den Krankenhäusern der Maximalversorgung? Komplikationen des Diabetes werden in vielen unterschiedlichen Fachabteilungen behandelt. Hierzu zählen Kardiologie, Nephrologie, Herz- und Gefäßchirurgie, Allgemein- und Unfallchirurgie, Gynäkologie, Ophthalmologie, Dermatologie, Orthopädie und viele mehr. Die Behandlung des Diabetespatienten wird in solchen Abteilungen meist in die Hände des Pflegepersonals gelegt oder gar dem Patienten selbst überlassen. Das kann zu Behandlungsfehlern führen: Insuline werden verwechselt oder gar abgesetzt, Typ-1- und Typ-2-Diabetes werden durcheinander gebracht, die Blutzuckermessung erfolgt nicht oder nur fehlerhaft, Hypoglykämien werden nicht erkannt, es wird auf blutzuckererhöhende Medikamente nicht reagiert. Die Komplikationsrate und die Verweildauer im Krankenhaus können sich dramatisch erhöhen. Allerdings gibt es bisher noch keine verlässlichen Zahlen hierzu. Dies liegt auch daran, dass solche Fehlbehandlungen nicht erfasst werden und nicht auffallen, wenn eine diabetologische Fachabteilung fehlt. Eine stationäre Fachabteilung für Diabetologie ist daher essentiell für größere Krankenhäuser. Hier kann durch eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit und ein leistungsfähiges Konsiliarsystem eine Fehlbehandlung vermieden werden. In unserer Universitätsklinik können Diabeteskonsile jederzeit angemeldet werden, ein erfahrener Diabetologe untersucht den Patienten innerhalb von 12 Stunden, legt die Therapie fest und vermittelt bei Bedarf eine Diabetesberatung. Benötigen die Patienten eine grundlegende Umstellung ihrer Diabetestherapie, werden sie auf unserer Diabetesstation aufgenommen.


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Behandlung von Diabetespatienten – die Diabetesstation

Bei der Behandlung der Diabeteserkrankung kommt es auf eine sprechende und präventive Medizin an. Diese wird jedoch nicht vergütet [6]. In Krankenhäusern wird zunehmend eine Reparaturmedizin betrieben. Dies ist mit demVergütungssystem begründet, denn seit Einführung des DRG-Systems (disease related groups) werden hauptsächlich nur Prozeduren wie Operationen oder andere Interventionen bei akuten Erkrankungen vergütet. Sprechende oder präventive Medizin und chronische Krankheiten werden dagegen schlecht honoriert. Dies führt zu einer Selektion der im Krankenhaus behandelten Erkrankungen, da die Krankenhäuser immer stärker ausschließlich auf den wirtschaftlichen Profit fixiert werden [7]. Ganz besonders trifft dies auch die stationäre pädiatrische Diabetologie.

Auch in der Diabetologie kommen neue „Prozeduren“ zur Anwendung: digitale Techniken, ausgefeilte kontinuierliche Zuckermessungen und Insulinpumpensystem, bis hin zu den kommenden Closed-loop -Systemen. Manche Ärzte und Patienten sind mit diesen neuen Techniken überfordert, gerade dann, wenn bei Patienten zusätzliche Handicaps dazukommen, also andere chronische Erkrankungen, psychische Leiden, zunehmendes Alter und Vieles mehr. Solche Patienten erfordern teilweise eine stationäre Behandlung in Diabetes-Spezialabteilungen. Es gibt natürlich weitere etablierte Indikationen für eine stationäre Diabetestherapie, die in der Tabelle 1 aufgeführt sind.

Wir haben in unserer Klinik seit Jahrzehnten eine intensive, strukturierte Diabetesbehandlung über 5 Tage auf der Diabetesstation etabliert. Die Behandlung erfolgt in Gruppen, die nach Diabetestyp und Behandlungsart zusammengestellt werden. Neben dem Glukosestoffwechsel werden die arterielle Hypertonie und der Lipidstoffwechsel untersucht bzw. behandelt und es wird eine standardisierte Untersuchung auf Folgeerkrankungen durchgeführt. Die Visite findet mit visualisierten Blutzuckerkurven mit einem Beamer in der Gruppe statt. Dabei legen wir großen Wert auf Motivation durch die Gruppe und durch das Behandlungsteam (Diabetologen, Diabetesberater). Die früher übliche Formulierung „Diabetesschulung“ trifft die Form der Behandlung nicht mehr ganz. Der Patient wird vielmehr interaktiv und intensiv im Team therapiert. Mit der Diabetologie kooperieren andere medizinische Fachbereiche, beispielsweise besteht mit der Abdominal- und Unfallchirurgie, der Herzchirurgie, der Gynäkologie und natürlich der pädiatrischen Diabetologie eine enge Zusammenarbeit. Konkrete Beispiele der Zusammenarbeit sind:

  • Insulintherapie bei pankreoprivem Diabetes nach kompletter Pankreatektomie;

  • Diabetes im Zusammenhang mit Nieren- oder Pankreastransplantation (Post-Transplant Diabetes mellitus, PTDM);

  • Diabetes mellitus vor oder nach bariatrischer Operation;

  • Diabetes bei kardiochirurgischen und endoprothetischen Operationen;

  • Diabetes in der Schwangerschaft;

  • strukturierte Prävention von Sekundärproblemen;

  • optimales Komplikationsmanagement (Niere, Gefäße)

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Abb. 1 Prävalenz des Diabetes mellitus in einem Krankenhaus der Maximalversorgung (Universitätsklinik) [3].
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Abb. 2 Die Diabetes-Spezialstation als Mittelpunkt für die Versorgung und klinische Forschung in einer Universitätsklinik.

Nach der Entlassung können die Patienten dann bei Bedarf in der Diabetesambulanz und Diabetesberatung, die in der Station integriert ist, nochmals nachuntersucht werden, bevor sie dem niedergelassenen Diabetologen oder Hausarzt übergeben werden. Durch die Bündelung der Patienten in Gruppen kann die Station trotz geringer Vergütung wirtschaftlich arbeiten.


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Die klinische Diabetesforschung

Die diabetologische Grundlagenforschung ist in Deutschland gut aufgestellt. Im Deutschen Zentrum für Diabetesforschung (DZD) haben sich exzellente universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen zusammengeschlossen, um Erkenntnisse der Diabetesforschung möglichst schnell vom Labor in klinische Studien und dann zum Patienten zu bringen.Wichtig ist die Translation zum Menschen hin, und nicht zuletzt die Einführung von neuen Behandlungsmethoden in das gesamte Gesundheitswesen. Die ambulante, niedergelassene Diabetologie kann nur in sehr begrenztem Umfang translationale Forschung betreiben, hierzu bedarf es interdisziplinärer Teams von Wissenschaftlern. Es braucht also starke universitäre stationäre Einrichtungen für solche klinische Forschung, die Stoffwechseluntersuchungsmethoden wie beispielsweise hypo-, eu- und hyperglykämische Clampuntersuchungen oder Gewebebiopsien beinhalten, die im ambulanten Setting nicht mit ausreichender Sicherheit durchführbar sind. Die Untersuchung und Behandlung von Diabetesfolgeerkrankungen (Gefäß-, Nieren-, Nerven- und Krebserkrankungen, Demenz, Depression) ist eine Domäne der stationären klinischen Diabetologie. Ohne Fachabteilungen an den Uni versitäten und Aufbau von entsprechenden Kohorten, klinischen Studien und innovativen Informationstechnologien [8] ist dies schlicht nicht möglich.


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Ausblick

Angesichts des riesigen Problems der steigenden Diabetespatientenzahlen und der hohen Mortalität dieser Erkrankung muss auch die Notwendigkeit der guten stationären Versorgung von Diabetespatienten ins Blickfeld rücken. Hier droht die immer größer werdende Gefahr einer ungenügenden Versorgung der Patienten [9]. Modelle, wie eine Versorgung im Krankenhaus erfolgt, sind im Artikel und in Abbildung 2 zusammengefasst.


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Danksagung

Der Autor bedankt sich beim Diabetesteam der Medizinischen Klinik IV, Universität Tübingen und bei den Professores A. Peter, N. Stefan, R. Wagner, M. Heni, B. Gallwitz und H.-U. Häring.


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Interessenkonflikt

Es besteht kein Interessenkonflikt.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Andreas Fritsche
Stellvertretender kommissarischer ärztlicher Direktor
W3-Professur für Ernährungsmedizin und Prävention
Diabetologie
Medizinische Klinik IV
Otfried-Müller-Straße 10
72076 Tübingen


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Abb. 1 Prävalenz des Diabetes mellitus in einem Krankenhaus der Maximalversorgung (Universitätsklinik) [3].
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Abb. 2 Die Diabetes-Spezialstation als Mittelpunkt für die Versorgung und klinische Forschung in einer Universitätsklinik.