Anliegen und Ziel
Die AWMF und ihre Fachgesellschaften treten für eine wissenschaftlich begründete,
patientenzentrierte Medizin ein [1]. Sowohl einer Unter-, Über- als auch einer Fehlversorgung ist entgegenzutreten [2]. Im solidarisch finanzierten Gesundheitssystem ist zudem eine angemessene, effiziente
und gerechte Verwendung der zur Verfügung gestellten Mittel geboten. Insofern sind
Medizin und Ökonomie nicht zu trennen.
Ökonomische Interessen dürfen jedoch medizinische Entscheidungen nicht unangemessen
beeinflussen [3]
[4]. Nach der Berufsordnung (§ 2 Abs. 4) dürfen Ärzte hinsichtlich ihrer ärztlichen
Entscheidungen keine Weisungen von Nicht-Ärzten entgegennehmen. Unter den jetzigen
Rahmenbedingungen kommt es allerdings zunehmend zu Konflikten zwischen betriebswirtschaftlichen
Anforderungen und einer evidenzbasierten, patientenzentrierten Versorgung [5]
[6]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11].
Die daraus resultierende „Ökonomisierung“ – eine Entwicklung, bei der betriebswirtschaftliche
Erwägungen jenseits ihrer Dienstfunktion zunehmende Definitionsmacht über individuelle
und institutionelle Handlungsziele in der Patientenversorgung gewinnen [4] – gefährdet die an den Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten orientierte,
evidenzbasierte Medizin, das Patientenwohl und die Versorgungsgerechtigkeit. Zudem
belastet sie Ärztinnen und Ärzte, Pflegende sowie andere Berufsgruppen im Gesundheitswesen
[9]
[
1
]. Die AWMF verfolgt diese Entwicklung mit großer Sorge.
Die Mitglieder der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind als klinisch
und wissenschaftlich Tätige Gestaltende des Gesundheitswesens. Sie entwickeln interdisziplinäre,
multiprofessionelle, evidenzbasierte Leitlinien für die medizinische Versorgung und
Empfehlungen für die Sicherstellung notwendiger Strukturen. Sie gestalten deren Umsetzung
in freiwilligen Initiativen des Qualitätsmanagements und der Qualitätsverbesserung,
z. B. durch Zertifizierungsverfahren, professionelles Peer-Review, Benchmarking und
Register. Sie beraten und unterstützen mit ihrer fachlichen Expertise die Institutionen
des Gesundheitswesens in wissenschaftlichen Beiräten und Kuratorien. Sie setzen sich
in der individuellen Versorgung auf der Patient-Arzt-Ebene für die wissenschaftlich
begründete, partizipative Entscheidungsfindung und den vernünftigen Umgang mit den
im Gesundheitssystem begrenzt verfügbaren Ressourcen ein. Die Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften in der AWMF sehen sich jedoch auch in der Verantwortung, kritische
Entwicklungen der Gesundheitsversorgung zu adressieren und der Politik Lösungsvorschläge
im Sinne konkreter Maßnahmen zu unterbreiten.
Der Fokus gilt im ersten Schritt vornehmlich dem Krankenhaussektor, da sich dort die
Konflikte zwischen betriebswirtschaftlichen Zielen und medizinisch-ethischen Anforderungen
in besonderer Schärfe manifestieren. Die AWMF ist sich bewusst, dass Lösungen über
die Sektorengrenzen hinweg gedacht und implementiert werden müssen. Alle Entscheidungsträger
und Akteure sind aufgefordert, in ihrem jeweiligen Handlungsfeld die erforderlichen
Schritte zur Versorgungsverbesserung anzugehen. Diese Schritte bedürfen einer gemeinsamen
Abstimmung. Die AWMF sucht den konstruktiven Dialog mit allen beteiligten Akteuren
in Politik, Management, Selbstverwaltung und Patientenvertretungen.
Maßnahmen
Patienteninformation und partizipative Entscheidungsfindung
Die Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sehen Ärzte in der Verantwortung,
bedarfsgerechte und ressourcenbewusste Entscheidungen aufgrund einer wissenschaftlich
begründeten, individuell abgestimmten Indikationsstellung zu treffen. Dazu bedarf
es der gemeinsamen Entscheidungsfindung von Patient und Arzt und einer ganzheitlichen
Betreuung von Patienten und Angehörigen.
Empfehlungen für eine sachgerechte Versorgung im Sinne einer wissenschaftlich basierten
Medizin sollen Ärzten sowie Pflegenden und Angehörigen weiterer Gesundheitsberufe,
aber auch Patienten in geeigneter, leicht zugänglicher Form zur Unterstützung einer
partizipativen Entscheidungsfindung für eine patientenorientierte Versorgung als Leitlinien
zur Verfügung stehen. Die AWMF und ihre Fachgesellschaften empfehlen regelmäßige fachspezifische
und Team-Fortbildungen, um zu verstehen, wie Leitlinienempfehlungen in Behandlungspfade
etc. als Entscheidungskorridore unter Einbeziehung von Patientenpräferenzen zu integrieren
sind. Der adäquaten Indikationsstellung ist ein besonderer Stellenwert einzuräumen.
Für Leistungen, für die besonders häufig Über-, Fehl- oder Unterversorgung festzustellen
sind, sollten „Gemeinsam Klug Entscheiden“-Empfehlungen einschließlich Patienteninformationen
aus Leitlinien entwickelt und eingesetzt werden [2]
[12]. Dabei sind digitale Formate zu fördern, die am unmittelbaren Ort der Behandlung
(„Point of care“) zur Anwendung kommen, idealerweise mit der Möglichkeit eines direkten
Abgleichs von Patientendaten [13]. Bei relativer oder absoluter Mangelausstattung – bezogen auf in Leitlinien konsentierte
Behandlungsstandards – müssen potenzielle Patienten im Sinne der „Einrichtungsaufklärung“
entsprechend informiert werden [14].
Für ein ganzheitlich ausgerichtetes Patient-Arzt-Verhältnis ist ausreichend Zeit im
Arbeitsalltag vorzusehen [15]. Dies beinhaltet eine umfassende Anamnese ebenso wie die Besprechung der verschiedenen
möglichen Maßnahmen und Zeit für die gemeinsame Entscheidungsfindung, ggf. unter Einbeziehung
von Angehörigen oder anderen Bezugspersonen. Des Weiteren muss genügend Zeit eingeräumt
werden für interdisziplinäre bzw. interprofessionelle Fallkonferenzen und Abstimmungen.
Führungsverantwortung und Management im Krankenhaus
Managemententscheidungen im Krankenhaus müssen sich vorrangig an qualitativ hochwertiger
Patientenversorgung im Sinne des Versorgungsauftrags orientieren („ressourcenbewusste
Daseinsfürsorge“) statt sich nur an betriebswirtschaftlichen Zielgrößen (z. B. Erlössteigerung)
auszurichten. Dazu ist eine gemeinsame Krankenhausführung – Ärztliche Direktion, Pflegedirektion,
kaufmännische Leitung – mit Verhandlungen auf Augenhöhe erforderlich [16]. Die Personalausstattung und die Arbeitsbedingungen von Pflegenden, Ärzten und anderen
Gesundheitsberufen müssen eine evidenzbasierte, patientenzentrierte Versorgung ermöglichen.
Management- und Führungskonzepte sollten medizinische und wirtschaftliche Erwägungen
integriert berücksichtigen, statt diese in Opposition zu stellen [17]. Klinisch tätige Ärzte (v. a. leitende Ärzte) sind in übergeordnete Managementaufgaben
im Krankenhaus adäquat einzubinden, im Sinne eines kontinuierlichen Dialogs zwischen
Klinikern und Geschäftsführern und als Entscheidungsträger in ihren medizinisch-fachlichen
Verantwortungsbereichen einschließlich des Qualitätsmanagements. Die ärztliche Direktion
sollte von den Abteilungsleitern vorgeschlagen werden, ggf. als ärztliches Team aus
Klinikdirektoren bei nebenamtlicher Funktion. Als zielführend wird – zusammen mit
einer kontinuierlichen Prozessoptimierung – die Verwirklichung eines patienten- und
personalwertschätzenden Krankenhausmanagements bzw. eines Wertemanagements mit Berücksichtigung
ethischer Grundsätze im Sinne des Patientenwohls und der evidenzbasierten Medizin
gesehen [17]. In dieses sollten Angehörige aller Gesundheitsberufe einbezogen werden. Wir schlagen
vor, diese Aspekte künftig in Qualitätssicherungsverfahren obligat zu berücksichtigen.
Evidenz- und konsensbasierte Leitlinien sollen zur fachlichen Orientierung in den
Qualitätsmanagementsystemen der Kliniken hinterlegt werden.
Die Abschaffung fallzahlbezogener/bonusabhängiger Chefarztverträge, die seit langem
gefordert wird, ist unbedingt durchzusetzen, ggf. auch mit weiteren gesetzlichen Nachbesserungen,
hier gibt es weiterhin deutlichen Handlungsbedarf [11]
[18]. Werden Aufgaben wie Infektionsschutz oder Arbeitsschutz in Chefarztverträgen benannt,
sind auch entsprechende personelle und sachliche Ressourcen aufzuführen. Leitende
Ärzte sollen weiterhin aktiv auf Missstände aufmerksam machen können (z. B. wenn das
Arbeitszeitgesetz aufgrund von Mitarbeitermangel nicht eingehalten werden kann). Der
ärztlichen und pflegerischen Leitung muss in begründeten Fällen ein fachliches „Vetorecht“
bei Fragen der Versorgungsqualität bzw. Patientensicherheit zugestanden werden. Eine
adäquate Personalpolitik mit entsprechender Ausstattung ist ebenfalls in Qualitätsmanagement-Vorgaben
aufzunehmen. Diese darf nicht konterkariert werden, indem Erlöse den Abteilungen „abgezogen“
werden. Die Erlöse (aus den Fallpauschalen – Diagnosis-Related-Groups – DRG) sollen
für die Zwecke zur Verfügung stehen, für die sie vorgesehen sind: Zur Deckung der
laufenden Personal- und Sachkosten und nicht für Investitionen oder abgeschöpften
Gewinn.
Die AWMF fordert Ärzte dazu auf, den Interessenkonflikt zwischen evidenzbasierter
Medizin und Patientenorientierung einerseits und den bestehenden Anreizen zur Leistungsausweitung
und damit potenzieller Über-, Fehl- bzw. Unterversorgung andererseits offen und explizit
zu thematisieren.
Krankenhausplanung und Finanzierung von Krankenhäusern sowie Vergütung stationärer
Leistungen
Die Krankenhausplanung muss im Rahmen regionaler, sektorenübergreifender Versorgungskonzepte
bedarfsorientiert gestaltet werden, mit dem Ziel, stationäre Überkapazitäten zu reduzieren.
Darüber hinaus ist eine Weiterentwicklung des Vergütungssystems zum Abbau von Fehlanreizen
dringend geboten.
Der Abbau der Dysbalance von Überkapazitäten im stationären Sektor einerseits und
dem Fehlen von Primärärzten, z. T. auch Fachärzten, andererseits, erfordert eine bedarfsorientierte,
sektorenübergreifende Planung mit regionaler Ausrichtung. Die ambulanten und teilstationären
Strukturen müssen einbezogen und entsprechend angepasst werden. Die Planung muss fächerspezifisch
bzw. ggf. fachabteilungsspezifisch erfolgen, da zwischen einzelnen Fachgruppen aufgrund
der Fallpauschalen-bezogenen Anreize für Kliniken große Versorgungsunterschiede bestehen.
Für eine solche Planung sind Instrumente zur Bedarfsanalyse für die künftige stationäre
Versorgung zu entwickeln, die die demografische Entwicklung und vorhandene Bedingungen
(z. B. Stadt-Land- oder regionales Gefälle) berücksichtigen [19]
[20]. Es müssen klare Anforderungen an eine qualitativ hochwertige Versorgung und deren
adäquate Refinanzierung festgelegt werden. Zu diskutieren sind gesetzliche Festlegungen
auf Landes- und Bundesebene. Die Krankenhausplanung im Rahmen regionaler Versorgungskonzepte
bedarf der Unterstützung aller Akteure und Betroffenen – auch bei ggf. schmerzhaften
Einschnitten. Eine zentralisiertere Versorgung ist nicht als Widerspruch zu, sondern
als Förderung einer qualitativ hochwertigen flächendeckenden Versorgung zu entwickeln.
Fehlanreize im DRG-System, die u. a. zu unangemessenen Leistungsausweitungen und „Portfolioanpassungen“
führen, müssen dringend eliminiert oder zumindest reduziert werden. Die Vergütung
sollte sich dabei an einem Modell patientenzentrierter Medizin orientieren [21]. Eine solche Anpassung muss z. B. die Anreize für stationäre Aufnahmen aus den Notfallaufnahmen
deutlich reduzieren, z. B. durch eine nicht diagnosebezogene Vergütung einer lediglichen
Beobachtung. Sie bedeutet aber auch die angemessene Berücksichtigung der Vergütung
von Kommunikation und Indikationsstellung sowie der interdisziplinären Betreuung.
Zuschläge für die Betreuung besonderer Patientengruppen sind zu diskutieren. Dabei
sind insbesondere Krankenhäuser der Maximalversorgung und Universitätskliniken adäquat
zu berücksichtigen, aber auch die Spezial- und transsektorale Versorgung.
Die Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind bereit, sich aktiv in
diesen Prozess einzubringen, indem sie die jährlichen Anpassungen der Operations-
und Prozedurenschlüssel (OPS) und die Internationale statistische Klassifikation der
Krankheiten (ICD – German Modification) beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation
und Information (DIMDI) mitgestalten, z. B. anhand nach Priorisierungskriterien ausgewählter
Leitlinienthemen. Die AWMF kann die Abstimmung und Bündelung von Vorschlägen unterstützen.
Zur Verbesserung qualitätsfördernder Strukturen, z. B. durch Förderung von Zertifizierungsinitiativen,
bieten die Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften ihre Zusammenarbeit
mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss und dem Institut für Qualität und Transparenz
im Gesundheitswesen an, um von den Fachgesellschaften entwickelte fachlich-strukturelle
Voraussetzungen einzubringen.
Die Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften fordern darüber hinaus eine
angemessene Investitionsfinanzierung für den bedarfsgerecht umgestalteten stationären
Sektor. Diese Forderung adressiert bei Beibehaltung der dualen Finanzierung die Länder,
bei Übernahme eines Modells wie vom Sachverständigenrat 2018 vorgeschlagen auch den
Bund (stärkere finanzielle Beteiligung des Bundes bei Erhalt der Entscheidungshoheit
der Länder, s. Abschnitt Krankenhausfinanzierung). Privat geführte Krankenhäuser sollen
ausschließlich im Sinne von Non-Profit-Unternehmen geführt werden. Die Erlösentnahme
aus Beiträgen der Patientenversorgung (DRGs) zur Generierung von Profiten wird nachdrücklich
abgelehnt.
Die Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften schlagen vor, ein gemeinsames
Diskussionsforum mit Vertretern der Bundes- und Landespolitik, der ärztlichen Selbstverwaltung
und Patientenorganisationen zum Sicherstellungsauftrag und dessen patientenorientierter
Umsetzung in den einzelnen Bundesländern einzurichten.
Hintergrundinformationen
Änderungen im Krankheitsspektrum, Entwicklungen in Diagnostik und Therapie, ökonomische
Folgen
Die deutsche Bevölkerung wird anteilmäßig älter, was eine Zunahme von altersassoziierten
Erkrankungen bedingt, die andere, aber nicht notwendigerweise deutlich mehr medizinische
Leistungen benötigen [22]
[23]. Auf der anderen Seite beinhaltet die wieder ansteigende Geburtenrate besondere
Herausforderungen (z. B. der Prävention), da das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit
von Kindern nach der Kinderrechtskonvention vorrangig zu berücksichtigen ist [24]. Viele Erkrankungen sind besser behandelbar als früher, es werden längere Überlebenszeiten
erreicht, dies gilt auch für angeborene und/oder seltene Erkrankungen bzw. Erkrankungen
des Kindes- und Jugendalters [25]. Diese Behandlungen sind oft kostenintensiv.
Das Krankheitsspektrum verschiebt sich weiterhin hin zu mehr chronischen Erkrankungen
und psychischen/psychosomatischen Erkrankungen mit einer steigenden Zahl an multimorbiden
Patienten [26]
[27]. Dies erfordert zunehmend langfristige Behandlungen und umfassende Betreuung, mit
einem hohen Bedarf an Vernetzung. Der ganzheitliche Blick wird allerdings während
der ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung erschwert, da diese in einer zunehmenden
Spezialisierung und Fächer-Aufsplittung stattfindet [28]. Die Anforderungen an diese komplexe Behandlungs- und Betreuungssituationen sind
in den Fallpauschalen (DRG) derzeit nicht adäquat abgebildet. Dagegen ist im europäischen
Vergleich eine Häufung und Zunahme einzelner Elektiveingriffe zu verzeichnen [29].
Die Einnahmebasis der umlagefinanzierten GKV wird längerfristig durch den steigenden
Anteil nicht mehr Erwerbstätiger/Rentner geschwächt, insbesondere ab Renteneintritt
der geburtenstarken Jahrgänge („Babyboomer“) [30]. Dies erfordert einen sehr bewussten Umgang mit knapper werdenden Ressourcen.
Zugang zu und Angebot von stationären Gesundheitseinrichtungen
Der Zugang zu stationären Einrichtungen ist in Deutschland nicht begrenzt, die Zahl
stationärer Einrichtungen, Betten und Fallzahlen liegt deutlich über EU- bzw. OECD-Durchschnitt
[31]. Deutschland zeichnet sich durch viele kleine Krankenhäuser aus, deren Ausstattung
häufig für eine qualitativ hochwertige Versorgung nicht ausreichend ist. Vielfach
sind deshalb Verlegungen erforderlich und häufig bestehen nur kleine Fallzahlen für
bestimmte Eingriffe [32]. Dabei gibt es Assoziationen von niedrigen Fallzahlen mit höheren Komplikationsraten
und höherer Mortalität für viele Indikationen [33].
Für bestimmte Erkrankungen findet eine Verlagerung von Diagnostik und Therapie in
den ambulanten Bereich statt (z. B. onkologische Therapien, chronisch entzündliche
Darmerkrankungen oder Rheuma). Geplante stationäre Einweisungen nehmen insgesamt zwar
ab, aber Notaufnahmen entwickeln sich zum zentralen Ort für Krankenhausaufnahmen [34]. Hierfür können häufig auch abrechnungsbedingte Gründe angenommen werden, da die
Vergütung ambulanter Leistungen für Krankenhäuser, insbesondere Universitätskliniken,
nicht kostendeckend ist und stationäre Aufnahmen deutlich attraktiver sind (pers.
Mitteilungen).
Rahmenbedingungen stationärer Versorgung
Die sektorale Gliederung des deutschen Gesundheitssystems in ambulante und stationäre
Versorgung und Rehabilitation bedingt jeweils getrennte Akteure, Regulierungen, Finanzierungstöpfe
und -modalitäten, was einer sektorübergreifenden „integrierten“ Versorgung bzw. der
jeweils sinnvollsten Leistungserbringung abträglich ist. Im SVR-Gutachten 2018 wird
deshalb eine sektorenübergreifende Versorgungsplanung vorgeschlagen [12].
Ebenfalls abrechnungsbedingte verkürzte Liegezeiten der Patienten bedingen bei wenig
sinkender Bettenzahl einen höheren Turnover [35], im Zusammenspiel mit geänderten Arbeitszeiten für ÄrztInnen (Arbeitszeitgesetz)
und mehr Teilzeitstellen, fehlstrukturiertem Management sowie einem drastischen Mangel
an Pflegekräften [36] führt dies vielfach zu einem angespannten Arbeitsklima inkl. Personalfluktuation
und Krankenstand [37]
[38]
[39]
[40]
[41]. Dies erhöht das Gefährdungsrisiko (Komplikationen, Sterblichkeit) für Patienten.
Im stationären Sektor besteht seit 2004 eine „leistungsorientierte“ Vergütung von
Fällen, klassifiziert durch Diagnosis-Related-Groups [42] mit bundesweiten Relativgewichten und fast identischem Basisfallwert [42]
[44], erarbeitet durch ein Institut zur DRG-Weiterentwicklung [45].
Fehlentwicklung unterstützt durch Vergütungssystem und Gewinnorientierung
Das DRG-Vergütungssystem erfordert eine prospektive Leistungsplanung mit Angaben von
Fallzahlen für das nächste Jahr (Erlösbudget). Da reine Vorhaltekosten der Krankenhäuser
– Löhne und Gehälter des Personals, Energie, Infrastruktur etc. – nicht adäquat berücksichtigt
sind, besteht ein Anreiz zu Fallzahlerhöhung und Aufsplittung von komplexen Fällen
zu besser vergüteten Einzelfällen.
Das DRG-System vergütet Krankenhäusern die bei der Versorgung durchschnittlich entstehenden
Kosten, wobei bestimmte Leistungen (insbesondere operative Eingriffe, aber z. B. auch
Beatmungen) für eine DRG-Fallgruppe konstitutiv sind, während andere Leistungsbestandteile
nicht Voraussetzung für die Abrechnung einer DRG sind. So ist die sprechende Medizin
im Sinne der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit Patienten bzw. die Betreuung unter
Einbeziehung der Angehörigen (inkl. Eltern, Sorgeberechtigte) im Verlauf der zeit-
und personalintensiven Behandlung von z. B. Kindern und Jugendlichen, aber auch von
gebrechlichen Älteren, für die Vergütung nicht konstitutiv [16]. Auch die interdisziplinäre bzw. interprofessionelle Abstimmung [15] sind so weitgehend „unvergütet“, ebenso wie Leistungen für Bedürfnisse von besonderen
Patientengruppen (z. B. bei der Transition).
Dagegen nehmen Beteiligte deutliche Anreize für Leistungsänderungen von Krankenhäusern
wahr zugunsten lukrativerer Leistungen („Portfolioänderungen“, „Rosinenpicken“) mit
zum Teil fraglicher Indikationsstellung [7]. Dies hat zur Konsequenz, dass schlechter vergütete Leistungen ggf. nicht mehr erbracht
werden und der Fokus auf das Erreichen hoher Fallzahlen gut vergüteter Leistungen
gelegt wird [9]. Es ist zu befürchten, dass diese Entwicklung zulasten finanziell unattraktiver
Patientengruppen weiter fortschreitet.
Seit mehr als einem Jahrzehnt sind diese Fehlanreize in der Vergütung der Krankenhausleistungen
bekannt, wurden bisher jedoch nicht durch eine Weiterentwicklung des Vergütungssystems
korrigiert [46]. Die im SGB V verankerte Grundmaxime nach einnahmeorientierten Ausgaben wird insbesondere
im stationären Sektor verletzt; während die einzelnen Fälle im „Preis“ real konstant
vergütet werden, führen kontinuierlich steigende stationäre Fallzahlen zu höheren
Krankenhausausgaben [47].
Die Investitions-Finanzierung im stationären Bereich ist in hohem Maße unzureichend.
Die für die Krankenhausplanung und -ausstattung zuständigen Länder [43] haben einen Investitionsstau zu verantworten, der die oft mangelnde Prozess-Effizienz
inkl. fehlender Umsetzung von Digitalisierungskonzepten in vielen Krankenhäusern verstärkt
[48]
[49] und eine systemwidrige Querfinanzierung aus DRG-Erlösen zwingend erforderlich macht
[9]
[50], was strikt abzulehnen ist.
Gleichzeitig wurde die Privatisierung von Krankenhäusern mit gewinnorientierten Konzernstrukturen
akzeptiert [51]
[52] und damit die profitbestimmte Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen (2017:
36,5 % aller Krankenhäuser mit 17,8 % der aufgestellten Betten) bei bestehenden Überkapazitäten.
Qualitätserfassung lückenhaft
Zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung
wurde im Krankenhausstrukturgesetz [53] die Beauftragung des Instituts für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen
(IQTIG) mit Start 2015 gesetzlich festgeschrieben [54]. Teil des gesetzlichen Institutsauftrags ist die Entwicklung planungsrelevanter
Indikatoren sowie „qualitätsorientierter“ Zu- und Abschläge, die durch den Gemeinsamen
Bundesausschuss (G-BA) in Richtlinien umgesetzt werden [55]. Das gesetzlich vorgeschriebene Qualitätsmanagement und die verpflichtenden Qualitätsindikatoren
sind jedoch bisher ungeeignet, die Qualität der gesamten Versorgung bzw. des Gesundheitssystems
zu messen und transparent zu machen, da sie auf kleine Teilbereiche bezogen sind [56].
Fazit
Die AWMF und ihre Fachgesellschaften nehmen eine zunehmende Dominanz betriebswirtschaftlicher
Ziele vor allem im stationären Gesundheitssektor wahr, die sich negativ auf die Patientenversorgung
auswirken und diese gefährden. Es bestehen Fehlanreize gegen eine patientenorientierte,
wissenschaftliche Medizin durch das Vergütungssystem, die Anzahl und Ausstattung von
Krankenhäusern bzw. Fachabteilungen und deren Grundfinanzierung.
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, werden Maßnahmen auf allen Ebenen des Gesundheitssystems
vorgeschlagen. Es bedarf der gemeinsamen Anstrengung aller Akteure, der „Ökonomisierung“
in der Medizin entgegenzuwirken und den Patienten und seine Gesundheit wieder in den
Mittelpunkt zu stellen.
Auf der Ebene Patient-Arzt ist der Ausbau der sprechenden Medizin adressiert, eine
Stärkung der gemeinsamen Entscheidungsfindung und der interdisziplinären Abstimmung.
Durch die konsequente Implementierung von Leitlinien und von laienverständlichen Formaten
(„Gemeinsam Klug Entscheiden“) sollen mögliche Überdiagnostik und Übertherapie klar
adressiert werden, aber auch Fehlentwicklungen im Sinne einer Unterversorgung.
Krankenhausleitungen haben den Auftrag, Wertemanagement- und Führungskonzepte zu verwirklichen,
die medizinische und wirtschaftliche Erwägungen gleichermaßen berücksichtigen, anstatt
sich vorrangig an betriebswirtschaftlichen Anforderungen auszurichten. Dafür bedarf
es einer gemeinsamen Führung (Ärztliche Direktion, Pflegedirektion, kaufmännische
Leitung). Die Vergütung nach Fallpauschalen ist im Sinne einer patientenorientierten
Medizin anzupassen, Fehlanreize für Interventionen sind zu korrigieren. Die „sprechende
Medizin“ einschließlich der interdisziplinären Abstimmung im Krankenhaus und mit weiteren
Kollegen sollte besser vergütet werden.
Der Krankenhaussektor insgesamt kann nicht weiter isoliert betrachtet werden. Die
Planung muss nach Bedarf erfolgen im Rahmen sektorübergreifender Konzepte. Dabei sind
vorhandene stationäre Überkapazitäten abzubauen und geeignete teilstationäre und ambulante
Strukturen zu entwickeln und vorzuhalten. Definierte Qualitätsanforderungen sollten
für alle Krankenhausbereiche vorliegen.
Die AWMF und ihre Fachgesellschaften werden mit Politikern, Managern und Vertretern
der Selbstverwaltung sowie Patienten bzw. Patientenvertretern Gespräche führen, um
gemeinsam diese wichtigen Ziele zu erreichen.
Dieses Papier wurde unter Federführung der AWMF von der AG „Medizin und Ökonomie“
erstellt mit redaktioneller Unterstützung von Anne-Katrin Döbler (AWMF-Pressestelle).
Berlin, im Dezember 2018