Schlüsselwörter
Ticagrelor - Anaphylaxie - Myokardinfarkt - unerwünschte Arzneimittelwirkung
Key words
ticagrelor - anaphylaxis - myocardial infarction - side effect
Abkürzungen
ACS:
Acute coronary Syndrome (akutes Koronarsyndrom)
BMI:
Body-Mass-Index
bpm:
Beats per Minute
CAST:
Cellular-Antigen-Stimulationtest
DGAKI:
Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie
EMA:
European Medicines Agency
ESC:
European Society of Cardiology
FDA:
Federal Drug Administration
IgE:
Immunglobulin E
MAD:
mittlerer arterieller Druck
PCI:
perkutane koronare Intervention
PCT:
Procalcitonin
ROSC:
Return of spontaneous Circulation
STEMI:
ST-Elevations-Myokardinfarkt
WHO:
World Health Organization
Einleitung
Die koronare Herzkrankheit ist die häufigste Todesursache weltweit [1]. Ticagrelor, ein P2Y12-Rezeptor-Antagonist, wird von der Europäischen Gesellschaft
für Kardiologie (ESC) als antithrombozytäre Therapie für PatientInnen mit akutem Koronarsyndrom
(ACS) ohne primäre kardiochirurgische Therapie empfohlen [2]. Die Zulassung des Medikaments erfolgte 2011 sowohl von der US-amerikanischen FDA
als auch der europäischen EMA [3], [4].
Im folgenden Fallbericht wird erstmalig eine schwere Schocksymptomatik infolge einer
anaphylaktoiden Reaktion nach Einnahme von Ticagrelor beschrieben.
Merke
Dieser Fallbericht soll betonen, dass auch sichere Medikamente einen histaminvermittelten
Schock auslösen können.
Der Fall
Ein 76-jähriger Patient kollabierte plötzlich aus völligem Wohlbefinden. Die Anwesenden
alarmierten den Rettungsdienst und führten sofort eine Herzdruckmassage bis zu dessen
Ankunft durch. Durch den Rettungsdienst konnte zeitnah ein Kammerflimmern diagnostiziert
und erfolgreich defibrilliert werden. Mit Wiedererlangung des Spontankreislaufs nach
ca. 30 Minuten („return of spontaneous circulation“, ROSC) folgte die Intubation mittels
Larynxtubus.
Während des Transportes ins nächstgeeignete Krankenhaus kam es zu einer Tubusdislokation
mit Aspiration von Mageninhalt mit konsekutiver respiratorischer Verschlechterung.
Klinisch und fremdanamnestisch konnten als relevante Nebendiagnosen eine arterielle
Hypertonie sowie eine Adipositas WHO Grad II (BMI 35 kg/m²) erhoben werden.
Bei Ankunft in der Notaufnahme zeigte der Patient eine adäquate neurologische Reaktion.
In Anbetracht der Gesamtkonstellation (V. a. STEMI mit ROSC, Aspiration mit respiratorischer
Insuffizienz mit einem Horowitz-Index von 184) entschieden wir uns für eine Fortsetzung
einer Respiratortherapie. Nach problemloser Umintubation von Larynxtubus auf eine
konventionelle endotracheale Intubation konnte bei dem Patienten zeitnah die leitliniengerechte
perkutane Koronarintervention (PCI) durchgeführt werden. In der PCI zeigte sich eine
80%ige Stenose des R. circumflexus mit einem poststenotischen Aneurysma. Die Kardiologen
und Kardiochirurgen legten sich gemeinsam auf eine konservative Therapie mit 80 mg
Ticagrelor 2 × täglich und Reevaluation nach wenigen Wochen bei ausreichender Konvaleszenz
fest.
Die weitere intensivmedizinische Therapie umfasste im Wesentlichen eine Fortführung
der bestehenden Beatmungstherapie, der Katecholamin-Therapie mit Noradrenalin (maximal
0,22 µg/kgKG/min) mit einem Zielwert für den mittleren arteriellen Druck von mindestens
70 mmHg sowie eine kalkulierte antimikrobielle Therapie mittels Ampicillin/Sulbactam
bei nunmehr auch radiologisch gesicherter ausgeprägter Aspirationspneumonie.
In den folgenden Stunden entwickelte der Patient rezidivierende plötzliche Blutdruckabfälle
(120/60 mmHg versus 60/40 mmHg) und Herzfrequenzanstiege bis 110 bpm trotz adäquater
Flüssigkeitstherapie. Wir konnten den Patienten durch Erhöhung der Noradrenalin-Dosierung
(teilweise bis 0,4 µg/kgKG/min) und zusätzliche Flüssigkeitsgabe stabilisieren.
In Anbetracht der aktuellen Ereignisse interpretierten wir diese Kreislaufinstabilität
als septisches Geschehen auf Basis der stattgehabten präklinischen Aspiration.
In der durchgeführten Diagnostik stellten wir fest, dass trotz des PCT-Spiegels von
2,06 µg/l als potenziellem Marker einer bakteriellen Infektion weder organbezogene
klinische Zeichen noch die Blutkulturen einen Hinweis auf einen schweren septischen
Prozess lieferten. Eine kardiale Komponente im Sinne eines erneuten ACS oder einer
Embolie wurde paraklinisch und bildmorphologisch ausgeschlossen. Wir entschieden uns
trotzdem, die weitere antimikrobielle Therapie mit Moxifloxacin (400 mg/d) zu führen.
Beim 3. Blutdruckabfall (bis 40/15 mmHg), verbunden mit einer Tachykardie bis 120 bpm,
zeigte bereits eine sehr hohe Noradrenalin-Dosierung (0,9 µg/kgKG/min) eine nur unzureichende
Wirkung. Es erfolgte die intravenöse Bolusgabe von insgesamt 400 µg Adrenalin mit
anschließender kontinuierlicher Gabe (maximal 0,15 µg/kgKG/min). Dies führte zu einer
raschen Kreislaufstabilisierung ([Abb. 1]).
Abb. 1 Auszug aus der Patientenakte. Dargestellt ist der invasiv gemessene Blutdruck (durchgehende
rote Linien [RRsys/RRdia]), die in der Blase gemessene Temperatur (blaue durchgehende Linie [Tbl]), die Herzfrequenz
(rote gestrichelte linie [HR]). Die Pfeile markieren den Zeitpunkt der jeweiligen
Medikamentengabe von Ticagrelor und Adrenalin. Die blauen Zahlen zeigen die SpO2 und etCO2 [kPa]).
Obwohl wir in der klinischen Untersuchung keine Hautveränderungen oder pulmonale Veränderungen
im Sinne einer anaphylaktischen Reaktion feststellen konnten, entschieden wir uns
zur intravenösen Gabe von Methylprednisolon (100 mg), Dimetinden (0,1 mg/kgKG) und
Ranitidin (50 mg). Unter der laufenden Therapie konnte der Patient zügig stabilisiert
werden.
Durch dieses eindeutige klinische Ergebnis sahen wir unsere Verdachtsdiagnose als
klinisch bestätigt.
Die gemessene Serumtryptase, abgenommen 8 Stunden nach dem kritischen Ereignis, war
mit 3,45 µg/l normwertig.
Zu diesem Zeitpunkt war der Auslöser dieser Anaphylaxie unklar. Als potenzielle Auslöser
kamen vor allem Moxifloxacin sowie Ticagrelor infrage. Nach kritischer Durchsicht
der Patientendokumentation stellten wir den zeitlichen Zusammenhang mit der Ticagrelor-Gabe
fest. Nach Rücksprache mit unseren Kardiologen wurde die Plättchenaggregation auf
Prasugrel umgestellt. Moxifloxacin wurde für insgesamt 7 Tage belassen. Eine weitere
Hypersensitivitätsreaktion wurde nicht beobachtet. Sowohl die Gabe von Adrenalin als
auch die von Noradrenalin konnten innerhalb von 48 Stunden beendet werden.
Nach erfolgreichem Respirator-Weaning konnte der Patient am 21. Behandlungstag in
eine Rehabilitationsklinik verlegt werden.
Diskussion
Schwere Überempfindlichkeitsreaktionen durch Ticagrelor wurden bisher sehr selten
beschrieben [5]. Die klinische Manifestation ist sehr variabel. Aktuell informiert die FDA über
insgesamt 36 registrierte unterschiedliche Reaktionen, beschrieben mit Dyspnoe als
häufigster Form (in ca. 14% der Fälle, Stand Mai 2019) [6]. Bis Mai 2019 wurden 8 anaphylaktische Reaktionen im Zusammenhang mit einer Ticagrelor-Gabe
der FDA und 4 der EMA berichtet [6], [7].
In der aktuellen Literatur findet sich kein Bericht über eine Anaphylaxie ohne respiratorische
Symptome, Exanthem/Urtikaria oder Ödembildung durch eine Ticagrelor-Gabe. Der erste
Fall einer Ticagrelor-Überempfindlichkeitsreaktion wurde 2014 publiziert [8]. Quinn und Connelly berichteten über einen Patienten mit einer Typ-IV-Hypersensitivität
am 5. Tag der Behandlung mit einem Exanthem und histologisch nachgewiesener perivaskulärer
Dermatitis mit lymphozytärem Infiltrat. Durch den Wechsel der Medikation, ähnlich
wie in unserem Fallbeispiel, konnte die Problematik behoben werden [8].
Dies ist allerdings nicht immer der Fall, denn wie ebenfalls bereits beschrieben,
existieren auch Kreuzreaktionen zwischen den unterschiedlichen P2Y12-Plättchenaggregationshemmern,
speziell bei den Thienopyridinen (Clopidogrel, Prasugrel, und Ticlopidin) und den
Cyclopentyl-Triazolo-Pyrimidinen (Ticagrelor und Cangrelor). In der Arbeit von Chin
et al. konnte die P2Y12-Therapie durch eine erfolgreiche protokollgeführte Desensibilisierung
mit Clopidogrel fortgeführt werden [9].
In unserem Fall wurde die anaphylaktoide Reaktion erst nach der 3. Gabe als solche
differenzialdiagnostisch in Erwägung gezogen, nachdem die Behandlung der vorangegangenen
Kreislaufinstabilitäten nicht mehr erfolgreich gewesen war und ein weiteres kardiales
Ereignis als Ursache neben der potenziell möglichen Verschlechterung eines septischen
Krankheitsbildes ausgeschlossen wurde. Eine sichere klinische Differenzierung zwischen
einer IgE-vermittelten allergischen Reaktion und einer direkten Histamin-Freisetzung
im Sinne einer pseudoallergischen Reaktion ist allerdings meist nicht möglich. Chin
et al. spekulierten beispielsweise in Bezug auf die Pathogenese der Kreuzreaktion
chemisch unterschiedlich strukturierter P2Y12-Plättchenaggretgationshemmer dahingehend,
dass ihrer Meinung nach der zugrunde liegende Mechanismus eher in der gemeinsamen
chemischen Wirkung als in ihrer immunologischen Erkennung zu suchen sei. In diesem
Fall konnte keine eindeutige Pathogenese nachgewiesen werden.
Die aktuellen S2-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische
Immunologie (DGAKI) zu Akuttherapie und Management der Anaphylaxie beschreiben die
Diagnosestellung als rein symptombezogen [10]. Die laborchemische Bestimmung spezifischer Mediatoren beschränkt sich auf eine
unterstützende Funktion in der Diagnosestellung. Insbesondere die Bestimmung der Serumtryptase
kann durchaus hilfreich sein, um eine abgelaufene Degranulation der Mastzellen auf
Basis einer IgE-vermittelten Immunreaktion nachzuweisen. Je nach Cut-off-Wert finden
sich in der Literatur eine Spezifität von 88 – 93% sowie eine Sensitivität zwischen
36% und 86% [11], [12], [13].
Die Spezifität im Nachweis stattgehabter IgE-abhängiger Mastzellreaktion kann deutlich
verbessert werden, sofern ein Anstieg der Serumtryptase von > 506% des Baseline-Wertes
messbar ist (Sensitivität 52,8%, Spezifität 84,2%, positiver prädiktiver Wert 86,4%,
negativer prädiktiver Wert 48,5%) [14]. Die in unserem Fall gemessene Serumtryptase ist nur von begrenzter Verwertbarkeit,
da es sich zudem um einen Einzelwert, erhoben 8 Stunden nach dem Ereignis, handelt
und eine ereignisbezogene Dynamik aufgrund fehlender Baseline-Bestimmung fehlt.
Auch in dem hier beschriebenen Fall ist eine eindeutige Diagnosestellung einer klassischen
IgE-vermittelten anaphylaktischen Reaktion nicht möglich gewesen. Unabhängig davon,
ob der zugrunde liegende Pathomechanismus einer Typ-I-Allergie oder einem pseudoallergischen
Mechanismus unterliegt, sprechen die mehrfach aufgetretenen hämodynamischen Akutereignisse
mit rapiden und kritischen Blutdruckabfällen sowie konsekutivem Anstieg der Herzfrequenz
im zeitlichen Zusammenhang mit Ticagrelor mit sich anschließender klinischer Stabilisierung
nach Gabe von Adrenalin in Kombination mit Methylprednisolon, einem H1- sowie H2-Blocker, für ein histaminvermitteltes Geschehen, zumal mit der vorangegangenen Gabe
von Noradrenalin eine nur unzureichende Kreislaufstabilität erzielt werden konnte.
Zudem trat nach Umstellung von Ticagrelor auf Prasugrel kein weiteres Akutereignis
dieser Art auf. Leider entzog sich unser Patient der weiterführenden allergologischen
Diagnostik (Prick, Intrakutantestung, CAST).
Cave
Wenngleich anaphylaktische Reaktionen häufig mit den typischen kutanen Zeichen wie
Flush, Urtikaria etc. als Leitsymptom einhergehen, sind schwerwiegende kardiovaskuläre
Veränderungen Ausdruck der fortgeschrittenen Erkrankungsschwere. Sie werden nicht
selten als alleiniges klinisches Zeichen einer Anaphylaxie bzw. anaphylaktoiden Reaktion,
gerade auch in Bezug auf differenzialdiagnostisch mögliche kardiopulmonale Akutereignisse,
im klinischen Alltag, unterschätzt.
Der vorliegende Fallbericht soll dahingehend sensibilisieren, dass auch dann, wenn
in der Literatur keine Anaphylaxie vorher beschrieben wurde, trotz alledem vermeintlich
sichere Medikamente schwere anaphylaktoide Reaktionen auslösen können. Insgesamt sind
anaphylaktoide Reaktionen durch Ticagrelor sehr selten. Erschwert wird die Diagnosestellung
dadurch, dass diese Patienten aufgrund ihrer kardialen und nicht kardialen Komorbidität
bereits einem hohen Risiko für akute kardiopulmonale Ereignisse ausgesetzt sind.
Take Home Message
Dieser Fall sollte das Bewusstsein dafür wecken, dass ein vermeintlich sicheres Medikament
auch einen anaphylaktischen Schock auslösen kann.
Kernaussagen
Ticagrelor als P2Y12-Rezeptor-Antagonist wird bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom
ohne primäre kardiochirurgische Therapie empfohlen. Schwerwiegende relevante Nebenwirkungen,
insbesondere anaphylaktische Reaktionen, wurden in der aktuellen Literatur noch nicht
beschrieben.