ADHS - Entstehungsbedingungen, Transition und Verlauf
Gibt es nur eine Art von ADHS? Wie verläuft die Transition in das Erwachsenenalter?
Welche Persönlichkeitsstörungen sind am häufigsten bei ADHS?
Diese und andere Fragen wollen wir mit diesem Schwerpunktheft zum Thema ADHS beantworten.
Die Diagnosestellung einer ADHS mit Persistenz im Erwachsenenalter gehört heutzutage
unbestritten zum klinischen Alltag. Gleichwohl sind sowohl die korrekte Diagnosestellung
als auch die Wahl der individuell passenden Therapie stets herausfordernd. Genauso
wenig wie es die typische Schizophrenie oder die typische Depression gibt, treffen
wir auf die typische ADHS. Die Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass es verschiedene
Ursachen für eine ADHS geben kann und dass eine ADHS-Symptomatik bei manchen Krankheiten
zusätzlich auftreten kann. In diesem Heft sollen die Schwerpunkte einerseits bei den
Entstehungsfaktoren und begleitenden Erkrankungen sowie andererseits auf den Verlauf
mit Entwicklung von Komorbiditäten und speziell Suchterkrankungen liegen.
Unter den psychiatrischen Erkrankungen weist die ADHS die höchste Erblichkeit auf.
Dieser hohe Wert von ca. 80 % in Zwillingstudien konnte bislang in methodisch anderen
Studien noch nicht erreicht werden. In einem Übersichtartikel von Oliver Grimm und
Kollegen zum Stand der aktuellen genetischen Forschung werden die verschiedenen Ansätze
und Ergebnisse dargestellt.
Ismene Hermann und Koautoren diskutieren, ob es sinnvoll sein könnte, eine vor allem
genetisch verursachte und familiär gehäufte „primäre“ ADHS von „sekundären“ Formen
abzugrenzen. Bei Letzteren würden durch ein Grundleiden gestörte neurofunktionelle
Veränderungen zu einem ADHS-Syndrom führen. Es werden Überlegungen angestellt, ob
dies bei Erkrankungen mit Chromosomenaberrationen oder monogenem Erbgang sowie bei
erworbenen organischen Formen durch prä-, peri- oder postnatale Umweltfaktoren eine
sinnvolle Abgrenzung sein könnte.
Das gleichzeitige Auftreten von ADHS mit einem hochfunktionalen Autismus wurde in
der Vergangenheit abgelehnt. Gleichwohl wird seit der Etablierung von Spezialambulanzen
für erwachsene Menschen mit ADHS diese Komorbidität gesehen. Auch wenn es eine eher
kleine Fallzahl betrifft, stellt diese Kombination an Diagnostik und Behandlung besondere
Herausforderungen. Lesen Sie mehr dazu in dem CME-zertifizierten Beitrag von Daniel
Schöttle und Kollegen.
Die Transition von Jugendlichen mit ADHS in das Erwachsenenalter bedeutet für viele
immer noch häufig den Abbruch der etablierten Behandlung. Daneben ist weiterhin nicht
vorhersehbar, welche Patienten auch im Erwachsenenalter betroffen sein werden und
weiterhin eine Behandlung benötigen. Die Krankheitsschwere im Kindesalter sowie das
Vorhandensein von Komorbiditäten scheinen Einfluss auf die Persistenzrate zu haben.
Über dieses Thema berichtet Daniel Alvarez Fischer und Koautoren.
Nicht wenige erwachsenen Patienten mit ADHS leiden zusätzlich an einer Persönlichkeitsstörung.
Insbesondere treten emotional-instabile, dissoziale, histrionische sowie narzisstische
Persönlichkeitsstörungen in Kombination mit einer ADHS gehäuft auf. Eine begleitende
Persönlichkeitsstörung hat erhebliche Auswirkungen auf den weiteren Krankheitsverlauf
einer ADHS. Zu diesem Thema referiert Christian Jacob.
Neben den Persönlichkeitsstörungen beeinflussen Missbrauch und Abhängigkeit vor allem
von Cannabis, Amphetaminen und Alkohol die Diagnostik und Behandlung einer ADHS. Zur
hohen Komorbidität mit Suchterkrankungen wurden 3 Hypothesen formuliert und werden
von Martin Ohlmeier diskutiert: Sucht als Selbstbehandlung, Sucht zum Ausgleich eines
Dopaminmangels und Sucht im Rahmen einer erhöhten Risikobereitschaft.
Wie bereits erwähnt, weisen Patienten mit ADHS eine hohe Inzidenz von Cannabismissbrauch
auf. Cannabis ist als leichtes Sedativum geeignet, einige Symptome der ADHS wie innere
Unruhe, Rastlosigkeit und Schlafstörungen im Sinne einer Selbstmedikation zu verbessern.
Unabhängig hiervon wird wissenschaftlich seit vielen Jahren ein Zusammenhang zwischen
einer Störung des physiologischen endogenen Cannabinoidsystems und der Genese einer
Reihe von psychiatrischen Erkrankungen gesehen. Das Endocannabinoidsystem bietet potenziell
neue pharmakologische Behandlungsansätze, wie z. B. durch den Einsatz von synthetischen
Cannabinoiden. Es werden von Nathalie Brunkhorst-Kanaan und Sarah Kittel-Schneider
die grundlegenden Mechanismen des Endocannabinoidsystems erläutert, die Zusammenhänge
mit der Genese des ADHS beleuchtet und ein Ausblick auf mögliche Therapieoptionen
mit Cannabinoiden gegeben.
Obwohl neue bildgebende Analysemethoden immer tiefere Einsichten in die neuroanatomischen
Grundlagen des Gehirns bei psychiatrischen Erkrankungen ermöglichen, stellen die Heterogenität
des Krankheitsbildes sowie unterschiedlich ausgeprägte neuroanatomische Merkmale bei
Kindern und Erwachsenen mit ADHS große Herausforderungen bei der Interpretation dar.
Ebenso liegen kaum gesicherte Erkenntnisse zu Zusammenhängen zwischen beobachteten
neuroanatomischen Veränderungen und klinischen Symptomen bzw. neuropsychologischen
Defiziten vor. Gleichwohl werden in dem Artikel von Simon Maier et al. die wichtigsten
Ergebnisse hirnstruktureller, funktioneller und neurochemischer Bildgebungsstudien
bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS zusammenfasst und deren Potenzial für die Entwicklung
neurobiologischer Marker diskutiert.
Inzwischen sind auch für die medikamentöse Behandlung erwachsener Patienten verschiedene
Wirkstoffe zugelassen, sodass hier eine gute individuelle Auswahl möglich ist. Neben
der psychopharmakologischen Behandlung – auf die wir in diesem Heft nicht eingehen
– sind Psychoedukation und Coaching wichtige therapeutische Module und werden von
Matthias Bender und Kollegen diskutiert. Neben Aufklärung über die Erkrankung, den
Verlauf und die Therapiemöglichkeiten ist der Erwerb von Fähigkeiten des Selbstmanagements
überaus geeignet eine gute Funktionsfähigkeit im Alltag zu erreichen.