Begriffsdefinition
Laut Psychiatriebarometer 2011 [1] nehmen nach eigenen Angaben rund drei Viertel der psychiatrischen Fachkrankenhäuser
und psychiatrischen Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern an der regionalen Versorgungsverpflichtung
bzw. Pflichtversorgung in der stationären Psychiatrie und Psychotherapie teil. Gleichzeitig
wird der Begriff der regionalen Pflichtversorgung im Rahmen der aktuellen Diskussion
zur Festlegung von qualitätsorientierten Personalvorgaben immer wieder als relevanter
Kostenfaktor angeführt [2], [3], da auch laut § 17 d KHG „die Vereinbarung von Regelungen für Zu- oder Abschläge
für die Teilnahme an der regionalen Versorgungsverpflichtung zu prüfen“ ist.
Dem steht gegenüber, dass der Begriff der regionalen Pflichtversorgung keiner abschließenden
Definition oder gar Operationalisierung unterliegt. In der Psychiatrie-Enquete 1975
[4] wird erstmals der Terminus der gemeindenahen Pflichtversorgung vor dem Hintergrund
von Standardversorgungsgebieten benutzt und es wird gefordert, dass geeigneten psychiatrischen
stationären Krankenhauseinheiten ein Pflichtaufnahmegebiet zugewiesen werden soll.
In der Regel wird der Begriff im Kontext einer gesetzlichen Verpflichtung für das
Krankenhaus zur Aufnahme von psychisch kranken Menschen aus einer bestimmten Region
verwendet [5], [6]. Godemann [7] nennt 2015 zusätzliche Kriterien, die zur Definition herangezogen werden könnten:
Basierend auf der Aufnahmepflicht für Patienten, die nach den Unterbringungsgesetzen
(Anm. d. V.: oder den Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzen) der Länder sowie nach dem
Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) eingewiesen werden, führt er die Merkmale der Vorhaltung
von geschützten Behandlungseinheiten, der zeitnahen richterlichen Anhörung und der
Überwachung durch eine Besuchskommission an. Außerdem nennt er weitere organisatorische
Maßnahmen wie einen 24h-Aufnahmebetrieb oder die Vorhaltung von Kapazitätsreserven
für ungeplante Aufnahmen. Schließlich wird das Vorhandensein eines durchlässigen Behandlungsangebotes
aus vollstationären, teilstationären und ambulanten Angeboten als Trennkriterium vorgeschlagen.
Allen Merkmalen gemeinsam ist dabei ein institutioneller und kategorialer Zugang zum
Begriff der regionalen Versorgungsverpflichtung im Sinne einer klaren dichotomen Entscheidungsfindung.
Patientenbezogene dimensionale Begriffsdefinition
Patientenbezogene dimensionale Begriffsdefinition
Vor diesem Hintergrund ist jedoch zu diskutieren, ob alle an der regionalen Pflichtversorgung
teilnehmenden Krankenhäuser dies in gleicher Intensität und Breite und mit vergleichbarem
finanziellem Aufwand umsetzen. Auch ist die regionale Zuständigkeit nur punktuell
eindeutig geregelt [8]. Doppelzuständigkeiten oder Diskrepanzen zwischen formeller und realer Zuständigkeit
sind keinesfalls ausgeschlossen. Auch Godemann [7] erörtert in Hinblick auf strukturelle Mehrkosten, dass diese nur begrenzt von der
Zuordnung einer psychiatrischen Pflichtversorgung, sondern eher von patientenbezogenen
Merkmalen abhängen könnten. Deshalb wird im Folgenden eine alternative Methode zur
Operationalisierung des Begriffs der regionalen Pflichtversorgung untersucht. Dieser
Ansatz geht von einem dimensionalen Pflichtversorgungsbegriff aus, wodurch das einzelne
Krankenhaus differenziert auf einem Kontinuum zwischen 0 % und 100 % Pflichtversorgung
abgebildet werden kann. Die Gesamtversorgungsleistung eines Krankenhauses ergibt sich
dann rechnerisch als Summation von einem elektiven Versorgungsanteil und einem Pflichtversorgungsanteil.
Die weitere Operationalisierung folgt dabei einem semantisch-inhaltlichen Ansatz.
So wurden für alle Einzelaspekte des Begriffs („Pflicht“, „Regional“, „Versorgung“)
mögliche Konkretisierungen aus der Perspektive der Patienten oder der Versorgung gesucht
([
Tab. 1
]). Der Begriff „Pflicht“ wurde dabei über Parameter operationalisiert, die den Kategorien
Art, Schwere oder Akuität zuzuordnen sind. Im Einzelnen waren dies das Diagnosespektrum,
die Verweildauer, Wiederaufnahmerate, der Aufnahmeanlass, Aufnahmegrund und die Aufnahmezeit.
Der Begriff „Regional“ wurde über einen spezifischen Algorithmus operationalisiert,
der es gestattet, das Ausmaß und die Intensität der Versorgungsleistung eines Krankenhauses
in einer Region zu quantifizieren. Der Begriff „Versorgung“ wurde über den Umfang
der sektorenübergreifenden Versorgungsleistung erfasst. Aus der so erstellten Liste
([
Tab. 1
], Spalten 3 und 4) wurden dann diejenigen Parameter, die im Routinedatensatz gemäß
§ 21 KHEntgG enthalten sind, ausgewählt und über eine berechenbare Kennzahl abgebildet
([
Tab. 1
], Spalte 6).
Tab. 1
Schematischer Überblick zur Operationalisierung des Begriffs der regionalen Pflichtversorgung
mit Auflistung der untersuchten Parameter bzw. der daraus abgeleiteten Kennzahlen
Systematik
|
Perspektive
|
Parameter
|
|
§ 21 Datensatz
|
Kennzahl
|
Operationalisierung "Pflicht“
|
Patient
|
Art, Schwere, Akuität
|
Gerichtliche Unterbringung
|
nein
|
|
Art
|
Diagnosespektrum
|
ja
|
Kongruenz Verteilungsmuster
|
Schwere
|
Verweildauer
|
ja
|
Mittelwert
|
Median
|
Standard-abweichung
|
Zahl der Aufnahmen je Patient
|
ja
|
Mittelwert
|
Standard-abweichung
|
Akuität
|
Aufnahmeanlass: Notfall
|
ja
|
Anteil
|
Aufnahmegrund: Notfall
|
ja
|
Anteil
|
Aufnahmezeiten
|
ja
|
Anteil
|
Standard-abweichung
|
Operationalisierung "Regional"
|
Versorgung
|
Versorgungsregion
|
Hauptversorgungs-gebiet
|
ja
|
Spez. Algorithmus
|
Operationalisierung "Versorgung“
|
Versorgung
|
Sektorenübergreifende Versorgung
|
Vollstationäre und teilstationäre Behandlung
|
ja
|
Anteil
|
Ambulante und stationäre Behandlung
|
ja
|
Anteil
|
Auf diese Weise konnte erreicht werden, dass die Methodik einen primär patientenbezogenen
und versorgungsrelevanten Zugang zur Thematik gewährleistet und dass im Falle einer
Implementierung aufgrund der ausschließlichen Nutzung von Routinedaten kein zusätzlicher
Dokumentations- oder Rechtfertigungsaufwand für die Krankenhäuser entsteht.
Fragestellung
Lassen sich aus den Routinedaten der Krankenhäuser (gemäß § 21 KHEntgG) Kennzahlen
aus patientenbezogenen Merkmalen identifizieren, die geeignet sind, den institutionellen
Begriff der regionalen Pflichtversorgung in der Psychiatrie quantitativ abzubilden?
Studienpopulation
Eingeschlossen wurden alle im Kalenderjahr 2017 in der Versorgungsregion „Bezirk Oberpfalz“
(1,1 Mio. Einwohner) aus stationärer psychiatrischer Behandlung entlassener Patienten
mit einer primären vollstationären Aufnahme in der Fachabteilung Psychiatrie und Psychotherapie/PSY
(Fallbetrachtung, N = 9659). Die Population stammte dabei aus 3 Standorten unter dem
Dach einer gemeinsamen Trägerstruktur. Daten zu anderen Fachabteilungen (Psychosomatik/PSO
sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie/KJP) oder zum teilstationären Behandlungssetting
lagen entweder nicht für die gesamte Versorgungsregion (andere Trägerschaft) oder
nur für 2 Standorte (mit eingeschränkter Beurteilbarkeit) vor.
Beobachtungseinheit
Als Beobachtungseinheit wurden alle im Kalenderjahr 2017 in den 3 Standorten aus vollstationärer
psychiatrischer oder psychosomatischer Behandlung entlassenen Fälle herangezogen,
deren korrespondierende Aufnahme in der Fachabteilung Psychiatrie und Psychotherapie
erfolgte. Dadurch wurde ein Ausschluss derjenigen Fälle vermieden, die im Laufe ihrer
Behandlung einen internen Fachabteilungswechsel von PSY nach PSO durchlaufen hatten.
Da einzelne Patienten im Beobachtungszeitraum im Falle von Wiederaufnahmen auch mit
mehreren Fällen in die Analyse eingegangen sind, können die Beobachtungseinheiten
„Fälle“ nicht als voneinander unabhängig bewertet werden.
Studientyp
Die Untersuchung basiert auf einer beobachtenden epidemiologischen Analyse von historischen
Daten im Sinne einer ökologischen Studie. Sie nutzt dazu den Routinedatensatz gemäß
§ 21 KHEntgG mittels sekundärer Datenanalyse.
Messverfahren
Ziel der Analyse ist es, geeignete Messinstrumente für die Fragestellung zu identifizieren,
sodass die Bewertung der Validität und Güte der Methodik den Endpunkt der Untersuchung
darstellt. Die erzielbare Reliabilität ist dagegen von der Art der im Detail ausgewählten
Messparameter abhängig. So unterscheiden sich beispielsweise die Items Aufnahmegrund
und Aufnahmezeit in diesem Punkt deutlich. Auch das Skalenniveau ist abhängig von
den jeweils ausgewählten Parametern.
Fallzahl
Aufgrund des explorativen Charakters der Studie war die Fallzahl auf Basis eines Kalenderjahres
limitiert (N = 9659). Eine Fallzahlsteigerung wäre zwar mittels Ausweitung des Beobachtungszeitraums
möglich gewesen, jedoch nur unter Inkaufnahme einer steigenden Abhängigkeit der beobachteten
Fälle. Eine weitere Fallzahlsteigerung im Rahmen einer konfirmatorischen Analyse ist
mittels eines multizentrischen Studiendesigns geplant.
Methode
Studienbeschreibung
Die Studie vergleicht im Rahmen einer explorativen Analyse mögliche, kardinalskalierte
Kennzahlen mit den intervallskalierten Ergebnissen eines Expertenratings [11]. Abhängig vom Übereinstimmungsgrad der beiden Bewertungsinstrumente und einer inhaltlichen
Plausibilitätskontrolle wird die Eignung der Kennzahlen für die Operationalisierung
des Begriffs der „regionalen Pflichtversorgung“ eingeschätzt.
Expertenrating
[
Tab. 2
] zeigt die wesentlichen Charakteristika für die untersuchten Standorte A, B und C.
Mangels objektiver Datengrundlage für eine graduelle Abbildung der an den 3 untersuchten
Standorten realisierten Pflichtversorgungsleistung erfolgte deren Beurteilung anhand
einer im Vorfeld durchgeführten Expertenschätzung mittels Rangfolgebildung auf einer
intervallskalierten Skala. Demnach wurden die Standorte A, B und C wie folgt charakterisiert:
Tab. 2
Charakterisierung der untersuchten Standorte: Daten aus 2017, vollstationäre Aufnahmen,
Fachabteilung Psychiatrie und Psychotherapie (PSY) und Psychosomatik (PSO).
|
Standort A
|
Standort B
|
Standort C
|
Anzahl der Betten am Standort (PSY und PSO)
|
475
|
50
|
165
|
Anzahl der Fälle mit dokumentierter gerichtlicher Unterbringung
|
656
|
0
|
318
|
Somatische Klinik am Standort
|
ja
|
ja
|
nein
|
Typisierung des Einzugsgebietes
|
städtisch
|
städtisch/ländlich
|
ländlich
|
-
In Anbetracht der Standortcharakteristika zu den gerichtlich untergebrachten Fällen
wurde den Standorten A und C durch die Experten ein höherer Grad an Pflichtversorgung
zugeschrieben als dem Standort B. Daraus resultiert für die untersuchten Kennzahlen
K:
Prüfkriterium 1:
K(A) > K(B) und K(C) > K(B)
Für den Fall einer negativen Korrelation der Kennzahl K wurde auch die Alternative
(K(A) < K(B) und K(C) < K(B) untersucht.
-
Unter zusätzlicher Berücksichtigung der Bettenzahl wurde der Standort C bzgl. des
Umfangs der Pflichtversorgungsleistung außerdem als ähnlicher zu Standort A als zu
Standort B eingestuft. Daraus resultiert für die untersuchten Kennzahlen K:
Prüfkriterium 2:
|K(A) – K(C)| < |K(A) – K(B)|
-
Die unterschiedliche Anbindung an eine somatische Klinik und die Typisierung des Einzugsgebietes
führten schließlich dazu, dass dem Standort A ein höherer Grad an Pflichtversorgung
zugeschrieben wurde als dem Standort C. Daraus resultiert für die untersuchten Kennzahlen
K:
Prüfkriterium 3:
K(A) > K(C)
Auch hier wurde zusätzlich die Alternative (K(A) < K(C) für den Fall einer negativen
Korrelation untersucht.
Primäre Kennzahlen
Im Vorfeld war zu erwarten, dass die im Datensatz enthaltenen Parameter „Aufnahmeanlass
Notfall“ und „Aufnahmegrund Notfall“ über die Abbildung der Akuität der aufgenommenen
Krankheitsbilder einen Beitrag zum Grad der realisierten Pflichtversorgung liefern
können. Deswegen wurde als mögliche Kennzahl der Anteil der so charakterisierten Patienten
an allen am Standort aufgenommenen Patienten bestimmt ([
Tab. 1
]).
Analog wurde auch der Anteil aller außerhalb der regulären Dienstzeiten (hier 7:00
Uhr bis 19:00 Uhr) aufgenommenen Patienten sowie die Streuung der Aufnahmezeiten (Stundenwerte)
untersucht. Laut Hamburg Center for Health Economics [9], [10] kann der Parameter „Anzahl Fälle außerhalb der Kernarbeitszeit (vollstationär)“
als Indikator für Notfälle genutzt werden.
Als möglicherweise mit dem Schweregrad der Erkrankung assoziierte Parameter wurden
außerdem die Lagemaße (Mittelwert bzw. Median) und Streuungsmaße zur Verweildauer
und zur Zahl der Aufnahmen je Patient bestimmt. Um die Art der aufgenommenen Krankheitsbilder
mittels einer einzigen Kennzahl abbilden zu können, wurde das auf Basis der 2-stelligen
ICD-10-Hauptdiagnose normierte Diagnoseverteilungsmuster der Standorte mit dem analog
normierten Verteilungsmuster der InEK-Kalkulationsstichprobe für den Fachabteilung
Psychiatrie und Psychotherapie [12] abgeglichen und daraus ein Übereinstimmungsgrad (0 = keine Übereinstimmung bis 1,0
= vollständige Übereinstimmung mit der InEK-Stichprobe) errechnet.
Für die Abbildung der sektorenübergreifenden Versorgungsleistung wurde zum einen der
Anteil an Patienten bestimmt, die im Beobachtungszeitraum sowohl vollstationär als
auch teilstationär in den Standorten behandelt worden sind, zum anderen wurde der
Anteil an Patienten bestimmt, die sowohl stationär als auch ambulant behandelt worden
sind.
Zur Operationalisierung des Regionalitätsaspektes wurde ein spezifischer Rechenalgorithmus
angewandt, der in einem ersten Schritt je Postleitzahl denjenigen Standort ermittelte,
der die meisten Patienten mit dieser Postleitzahl als Wohnsitz aufnahm (Hauptversorger).
In einem zweiten Schritt wurde dann je Standort der Anteil derjenigen Patienten bestimmt,
die aus den zugehörigen Hauptversorgungsgebieten aufgenommen worden sind. [
Abb. 1
] zeigt links die Visualisierung der Hauptversorgungsgebiete der untersuchten Standorte.
Nicht zugeordnete Areale („weiße Flächen“) resultieren dabei aus einer numerischen
Äquivalenz der aufgenommenen Patienten aus verschiedenen Standorten.
Abb. 1 Grafische Darstellung der standortassoziierten Hauptversorgungsgebiete im Vergleich
zwischen den Aufnahmen innerhalb (links) und Aufnahmen außerhalb der Kernarbeitszeit
(rechts)
Sekundäre (bedingte) Kennzahlen
Aus der Liste aller möglichen bedingten Kennzahlen (z. B. Verweildauer unter der Bedingung
einer Aufnahme aus dem Hauptversorgungsgebiet) wurden für alle Kennzahlen auch die
Bedingungen „Aufnahmen innerhalb der regulären Dienstzeit“, und „Aufnahmen außerhalb
der regulären Dienstzeit geprüft. Als Aufnahme außerhalb der regulären Dienstzeit
galt dabei jede Aufnahme zwischen 19:00 Uhr und 7:00 Uhr sowie an Wochenenden und
an Feiertagen. [
Abb. 1
] zeigt im Seitenvergleich beispielhaft den Einfluss der genannten Bedingungen auf
die Berechnung des Hauptversorgungsgebietes.
Bewertung
Alle primären und sekundären (bedingten) Kennzahlen wurden abschließend hinsichtlich
der Erfüllung der Prüfkriterien 1 bis 3 aus dem Expertenrating untersucht, sodass
daraus eine Bewertung zwischen 0 und 3 Punkten je Kennzahl resultierte.
Ergebnisse
[
Tab. 3
] zeigt die ermittelten Kennzahlen für die 3 Standorte im Überblick. Exemplarisch
ist der Tabelle zu entnehmen, dass der Übereinstimmungsgrad des Diagnosespektrums
für alle Aufnahmen mit der InEK-Stichprobe am Standort A bei 89 %, am Standort B bei
57 % und am Standort C bei 82 % liegt. Während die Kennzahlen für die Aufnahmen innerhalb
der regulären Dienstzeit nahezu identische Werte liefern, finden sich bei den Aufnahmen
außerhalb der regulären Dienstzeit je nach Standort geringe Abweichungen von obigen
Werten mit jeweils unterschiedlichem Vorzeichen.
Tab. 3
Übersicht zu den errechneten Kennzahlen für die untersuchten Standorte (A, B und C)
für alle Aufnahmen sowie differenziert nach Aufnahmen innerhalb und außerhalb der
regulären Dienstzeit.
|
|
Alle Aufnnahmen
|
Aufnahmen innerhalb der regulären Dienstzeit
|
Aufnahmen außerhalb der regulären Dienstzeit
|
|
|
Standort A
|
Standort B
|
Standort C
|
Standort A
|
Standort B
|
Standort C
|
Standort A
|
Standort B
|
Standort C
|
Diagnosespektrum
|
Kongruenz Verteilungsmuster
|
0,89
|
0,57
|
0,82
|
0,89
|
0,56
|
0,81
|
0,83
|
0,61
|
0,77
|
Verweildauer (in Tagen)
|
Mittelwert
|
28,62
|
33,85
|
24,97
|
32,02
|
33,84
|
26,47
|
23,85
|
35,28
|
20,55
|
|
Median
|
19,00
|
35,00
|
19,00
|
22,00
|
35,00
|
21,00
|
11,00
|
34,00
|
13,00
|
|
Standardabweichung
|
36,17
|
17,96
|
26,71
|
37,92
|
16,57
|
26,60
|
33,35
|
29,91
|
24,95
|
Zahl der Aufnahmen je Patient
|
Mittelwert
|
1,35
|
1,31
|
1,35
|
1,43
|
1,31
|
1,40
|
1,53
|
1,60
|
1,51
|
|
Standardabweichung
|
0,80
|
0,63
|
0,74
|
0,88
|
0,61
|
0,79
|
0,99
|
1,06
|
0,92
|
Aufnahmeanlass: Notfall
|
Anteil
|
0,64
|
0,70
|
0,29
|
0,36
|
0,65
|
0,10
|
0,27
|
0,05
|
0,19
|
Aufnahmegrund: Notfall
|
Anteil
|
0,64
|
0,70
|
0,27
|
0,35
|
0,65
|
0,07
|
0,29
|
0,06
|
0,20
|
Aufnahmezeiten
|
Anteil
|
keine Aussagekraft
|
keine Aussagekraft
|
keine Aussagekraft
|
0,64
|
0,92
|
0,72
|
0,36
|
0,08
|
0,28
|
|
Standardabweichung
|
5,03
|
3,14
|
4,61
|
2,58
|
2,09
|
2,57
|
7,33
|
8,28
|
7,06
|
Hauptversorgungsgebiet
|
Spez. Algorithmus
|
0,93
|
0,54
|
0,88
|
0,91
|
0,77
|
0,87
|
0,96
|
0,27
|
0,92
|
Vollstationäre und teilstationäre Behandlung
|
Anteil
|
0,04
|
0,07
|
0,05
|
0,05
|
0,07
|
0,05
|
0,00
|
0,00
|
0,00
|
Ambulante und stationäre Behandlung
|
Anteil
|
0,33
|
0,76
|
0,24
|
0,37
|
0,76
|
0,27
|
0,29
|
0,70
|
0,19
|
In [
Abb. 2
] finden sich die Bewertungsergebnisse für die Indikatoren. Im Beispiel erfüllen demnach
die Standortkennzahlen für die Kongruenz des Diagnosespektrums alle Prüfkriterien
1 bis 3 – unabhängig davon, ob alle Aufnahmen oder nur die Aufnahmen innerhalb oder
nur die Aufnahmen außerhalb der regulären Dienstzeit betrachtet werden. Anhand der
Farbkodierung ist unschwer zu erkennen, dass die geringste Übereinstimmung zwischen
Kennzahl und Expertenrating bei den Parametern „Mittelwert der Verweildauer“ und „Sektorenübergreifende
Versorgung: Ambulante und stationäre Behandlung“ erzielt werden konnte.
Abb. 2 Bewertung der untersuchten Kennzahlen unter Anwendung der Prüfkriterien des Expertenratings.
Eine Bewertung mit 0 (rot) bedeutet dabei, dass keines der drei Prüfkriterien erfüllt
ist, eine Bewertung mit 3 (grün) zeigt dagegen an, dass alle 3 Prüfkriterien erfüllt
sind.
Die Kennzahl „Sektorenübergreifende Versorgung: Vollstationäre und teilstationäre
Behandlung“ zeigt eine deutlich bessere Übereinstimmung – allerdings mit negativer
Korrelation. So korrespondieren unter 2 der 3 gewählten Bedingungen hohe Werte für
die sektorenübergreifende Versorgung mit einem niedrigen Expertenrating zur Pflichtversorgung.
Die Kennzahlen „Aufnahmeanlass Notfall“ und „Aufnahmegrund Notfall“ erfüllten nur
bei Betrachtung der Aufnahmen außerhalb der regulären Dienstzeit alle Bedingungen
des Expertenratings. Bei der Nachbetrachtung zeigten sich außerdem standortspezifisch
unterschiedliche Gepflogenheiten bei der Zuweisung dieser Kodierungen im Rahmen des
administrativen Aufnahmeprozesses.
Bei den verweildauerbasierten Kennzahlen „Median Verweildauer“ und „Streuung Verweildauer“
fanden sich unter 2 von 3 Bedingungen jeweils 2 von 3 Prüfkriterien erfüllt. Tendenziell
waren dabei in den Standorten mit einer höheren Zuschreibung an Pflichtversorgung
Patienten, die außerhalb der regulären Dienstzeit aufgenommen wurden, kürzer in Behandlung
als Patienten, die innerhalb der regulären Dienstzeit aufgenommen wurden. Eine komplette
Übereinstimmung der Kennzahlen mit dem Expertenrating fand sich bei 2 von 3 Bedingungen
bei den Parametern „Mittelwert Zahl der Aufnahmen je Patient“, „Streuung Zahl der
Aufnahmen je Patient“, „Anteil Aufnahmezeiten“ und „Streuung Aufnahmezeiten“.
Schließlich konnte bei den Kennzahlen „Diagnosespektrum: Kongruenz Verteilungsmuster“
und „Hauptversorgungsgebiet“ unter allen 3 Aufnahmebedingungen eine vollständige Übereinstimmung
zwischen den ermittelten Werten und dem Expertenrating gefunden werden.
Diskussion
Die Studie zeigt einen alternativen Weg zur Operationalisierung des Begriffs „regionale
Pflichtversorgung“ auf. Verwendung finden dabei nur Routinedaten auf Individualebene,
die mittels einfacher Algorithmen zu Kennzahlen für den jeweiligen Krankenhausstandort
transformiert werden. Hierdurch entsteht kein zusätzlicher Erhebungsaufwand für die
Klinken und kein zusätzlicher Überprüfungsaufwand für die Kostenträger und den MDK.
Die objektive Aussagekraft dieser Daten übersteigt dabei die Validität der per Selbstauskunft
zur Teilnahme an der regionalen Pflichtversorgung vorliegenden Informationen deutlich.
So kann etwa mit dem Algorithmus des Hauptversorgungsgebietes das tatsächliche Versorgungsgebiet
– unabhängig von dem politisch zugewiesenen Gebiet – dargestellt und quantifiziert
werden. Auch können bestehende regionale Unterschiede (z. B. zwischen Stadt und Land)
durch Berechnung der Kennzahlen unter der Bedingung der jeweiligen Hauptversorgungsregion
besser berücksichtigt werden.
In der untersuchten Stichprobe fand sich eine unbefriedigende Abbildung des Pflichtversorgungsbegriffs
durch die Fallklassifikation „Notfall“. Ursache dafür können fehlende Ausfüll- und
Kodierhinweise sein. Derzeit ist daher nicht von einer ausreichenden Durchführungsobjektivität
und Reliabilität für diesen Parameter auszugehen.
Auch fand sich keine positive Korrelation zwischen dem Umfang der am jeweiligen Standort
erbrachten sektorenübergreifenden Versorgung und der Experteneinschätzung zum Umfang
der erbrachten Pflichtversorgungsleistung. Insbesondere die Eignung der Kennzahl zur
sektorenübergreifenden voll- und teilstationären Behandlung muss bei Vorliegen einer
negativen Korrelation aus inhaltlicher Sicht kritisch gesehen werden.
Auch die Verwendung der Zahl der Aufnahmen je Patient als Kennzahl ist trotz des Vorliegens
einer hohen Übereinstimmung zwischen dem ermittelten Wert und dem Expertenrating versorgungspolitisch
zu hinterfragen. Es wäre zu prüfen, ob mittels diagnosespezifischer Stratifizierung
noch ein Beitrag zur Operationalisierung des Parameters geleistet werden kann. Darüber
hinaus fanden sich hohe Übereinstimmungswerte zwischen den ermittelten Kennzahlen
und dem Expertenrating vor allem bei den Parametern, die den Aspekt der Vollversorgung
(„Diagnosespektrum: Kongruenz Verteilungsmuster“) der Notfallversorgung („Aufnahmezeiten“)
und den Aspekt der Versorgungsleistung in der Region („Hauptversorgungsgebiet“) abbilden.
In diesem Zusammenhang ist zudem anzumerken, dass eine stärkere Ausrichtung des Pflichtversorgungsbegriffs
auf diese Aspekte anstelle der Fokussierung auf die Zahl der gerichtlichen Unterbringungen
sogar positiv bewertet werden kann. Neben den methodischen Vorteilen eröffnet dieses
Vorgehen die Perspektive einer Generalisierbarkeit des Begriffs der Pflichtversorgung
auf andere Fachabteilungen ohne die psychiatriespezifische Besonderheit der gerichtlichen
Unterbringung.
Allen Indikatoren (Ausnahme: Kennzeichnung als „Notfall“) kann dabei eine ausreichende
Objektivität und Reliabilität zugeschrieben werden („Diagnosespektrum“ nur eingeschränkt).
Die inhaltliche Plausibilität und Validität der Indikatoren ist dadurch gewährleistet,
dass die Definition des zu prüfenden Konstrukts erst eingangs – unter Abgleich mit
den späteren Prüfkriterien – erarbeitet worden ist. Die Gültigkeit der vorgeschlagenen
Indikatoren für davon abweichende Begriffsdefinitionen zur regionalen Pflichtversorgung
ist nicht beurteilbar.
Zur weiteren Evaluation der vorgeschlagenen Kennzahlen bedarf es als nächsten Schritt
der Ausweitung der Untersuchung auf eine größere Anzahl von Standorten und Trägern.
Im Rahmen eines multizentrischen Designs ist sowohl eine konfirmatorische statistische
Analyse als auch der Einbezug der Fachabteilungen der Psychosomatik und der Kinder-
und Jugendpsychiatrie in die Analyse sicherzustellen. Anstelle eines Expertenratings
sollte das Vergleichsranking dann auf Basis der Ergebnisse einer Kostenträgerrechnung
erfolgen, sodass auch der graduell-dimensionale Charakter der Kennzahlen evaluiert
werden kann.
Neben der endgültigen Auswahl von geeigneten Kennzahlen verbleibt abschließend noch
die Aufgabe, diese mittels Gewichtung oder gegenseitige Bedingtheit zu einem Komplexindex
zusammenzuführen, welcher eine valide Abbildung des Konstrukts „regionale Pflichtversorgung“
erlaubt und dann auch Basis für eine adäquate Ressourcenzuweisung sein kann.
Beispielhaft können auf Basis der in der Studie imponierenden Kennzahlen „Diagnosespektrum:
Kongruenz Verteilungsmuster (außerhalb der regulären Arbeitszeit)“ und „Hauptversorgungsgebiet
(außerhalb der regulären Arbeitszeit)“ unter der Prämisse der gleichen Gewichtung
und Adjustierung der Kennzahlen folgende Ergebnisse für die untersuchten Standorte
errechnet werden:
Standort A: = 0,90
Standort B: = 0,44
Standort C: = 0,85
Die so ermittelten Werte geben ein sehr gutes Abbild des Expertenratings zu den Standorten
wieder und erlauben somit eine valide Abbildung des Konstrukts „regionale Pflichtversorgung“
gemäß der hier vorgeschlagenen Definition.
Angesichts der derzeitigen gesundheitspolitischen Weichenstellungen, die zu einer
Neuordnung der Personalbemessung in der Fächern Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik
und Kinder- und Jugendpsychiatrie führen sollen, ist eine objektivierbare Operationalisierung
des Begriffs „Pflichtversorgung“ von höchster Relevanz.
-
Der Begriff der „regionalen Pflichtversorgung“ ist grundsätzlich dimensional abbildbar.
-
Eine Operationalisierung ist unter alleinigem Rückgriff auf Routinedaten möglich.
-
Als relevant erweisen sich die Aspekte der Vollversorgung, der Notfallversorgung und
der Versorgungsleistung in der Region.
-
Die Methodik kann die Basis für eine leistungsgerechte Ressourcenzuweisung liefern.
-
Weitere konfirmatorische Studien sind notwendig.