Einleitung
Bei einer hörsturzartig aufgetretenen hochgradigen Innenohrschwerhörigkeit oder
Ertaubung wird oftmals eine Ruptur des runden Fensters vermutet, insbesondere wenn
der Patient über eine extreme körperliche Anstrengung, insbesondere das Heben einer
schweren Last, berichtet hat. Selbst das heftige Nasenschneuzen sowie ein forciertes
Valsalva-Manöver wurden schon als Ursache einer Perilymphleckage vermutet [1].
Rupturen des runden Fensters wurden auch in Zusammenhang mit einer Reanimation, einer
intensivmedizinisch notwendigen Überdruckbeatmung und CPAP-Maskenbeatmung bei
Schlaf-Apnoe beobachtet [3]. Eigene gutachtliche
Fälle betreffen z. B. das Anheben einer Rüttelplatte auf eine Ladefläche, das
mehrfache Ein- und Ausladen von Reisekoffern durch einen Taxifahrer, das Anschieben
einer verklemmten Schiebetür usw.
Als diagnostisch/therapeutische Maßnahme wird dann in den meisten Fällen eine
Tympanoskopie mit Inspektion der runden Fensternische und Abdeckung mit einem
Bindegewebsstückchen durchgeführt. Die diagnostische Sicherung wird jedoch häufig
durch mehrere Umstände erschwert.
Der Einblick in die Rundfensternische ist meist durch eine überhängende Knochenlippe
beeinträchtigt. Hier wird verschiedentlich empfohlen, diese mit dem Bohrer oder
einem scharfen Löffel abzutragen. Andererseits verbieten sich invasive Maßnahmen bei
einer akuten Innenohrpathologie. Der bessere Weg ist dann die endoskopische
Untersuchung mit einem kurzen geraden Ohrendoskop, welches auch bei der
endoskopischen Tympanoplastik verwendet wird. Wenn aber die Rundfenstermembran nicht
eingesehen werden konnte, bzw. wenn der Operateur nicht alle diagnostischen
Möglichkeiten ausgenutzt hat, kann eine Ruptur evtl. nur vermutet werden, ist aber
nicht nachgewiesen.
Auch der sichere Nachweis einer Fensterruptur mittels eines bildgebenden Verfahrens
(MRT, hochauflösendes Felsenbein-CT) ist bisher nicht möglich.
In diesem Zusammenhang muss auch berücksichtigt werden, dass eine Ansammlung freier
Flüssigkeit vor dem runden oder ovalen Fenster, welche im Zuge einer Tympanoskopie
gesehen wird, keinen Vollbeweis für das Vorliegen einer Fistel darstellt. Nicht
selten diffundiert das in den Gehörgang injizierte Anästhetikum in das Mittelohr und
kann hier mit Perilymphflüssigkeit verwechselt werden. Eine interessante Innovation
zur Fahndung nach Perilymphfisteln stellt der sog. Cochlin-Test dar. Das in Japan
entwickelte Testverfahren beruht auf dem ELISA-gestützten intratympanalen Nachweis
des Cochlin-Tomo-Proteins (CTP) als perilymphspezifischen Marker [2].
Aus gutachterlicher Sicht ist der überzeugende Nachweis einer Fensterruptur von
ausschlaggebender Bedeutung. Das gilt sowohl für die gesetzliche als auch die
private Unfallversicherung, in der die Kausalitätsansprüche noch strenger sind. Die
versicherungsrechtliche Kausalitätsprüfung hat grundsätzlich in zwei Schritten zu
erfolgen.
1. Schritt
Zunächst müssen die Tatbestände 1 bis 3 (eine ungewöhnlich belastende
Körperanstrengung als Arbeitsunfall (1), eine Fensterruptur (2) und die plötzlich
eingetretene Innenohrschwerhörigkeit bzw. Ertaubung (3) im Vollbeweis nachgewiesen
werden.
2. Schritt
Im zweiten Schritt ist die kausale Verknüpfung zwischen den Tatbeständen 1 bis 3 zu
prüfen. Hier reicht dann für einen Zusammenhang zwischen den Tatbeständen in der
gesetzlichen Unfallversicherung die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus, in der
privaten Unfallversicherung wäre allerdings die an Sicherheit grenzenden
Wahrscheinlichkeit zu fordern ([
Abb. 1
],
dieses Schema gilt analog auch für andere Unfall-Beurteilungen).
Abb. 1 Eine Schwerhörigkeit oder Ertaubung kann nur dann mit der für
die gesetzliche Unfallversicherung notwendigen hinreichenden
Wahrscheinlichkeit auf einen Arbeitsunfall zurückgeführt werden, wenn die
vermutete Fensterruptur im Vollbeweis belegt worden ist [2].
Bei fehlendem Nachweis einer Fensterruptur gibt es keinen Anlass für eine
wohlmeinende Beurteilung zu Gunsten des Versicherten, um ihm in seiner
Auseinandersetzung mit seiner Versicherung zu helfen. Es sollte bedacht werden, dass
auch der „klassische“ Hörsturz zu einer plötzlichen Ertaubung führen kann, ein
Krankheitsbild, welches uns allen aus Praxis und Klinik geläufig ist. Im Übrigen
sind gehäufte Fensterrupturen auch bei Gewichthebern nicht bekannt, die unter
extremer Anstrengung Langhanteln von enormem Gewicht durch Reißen oder Stoßen zur
Hochstrecke bringen. Außerdem führen auch die Presswehen einer Schwangeren nicht in
gehäuftem Maße zu einer Fensterruptur.
Fazit
Eine plötzlich aufgetretene Innenohrschwerhörigkeit oder Ertaubung kann nur dann auf
eine vermutete Fensterruptur zurückgeführt werden, wenn diese im Vollbeweis
nachgewiesen ist. Wenn die runde Fensternische aus anatomischen Gründen
(vorspringende Knochenlippe) nicht eingesehen werden kann und der Operateur nicht
alle diagnostischen Möglichkeiten (Endoskopie) ausnutzt, können diese Umstände nicht
als Beweiserleichterung angeführt werden. Es reicht nicht aus, wenn eine
Fensterruptur nur für möglich oder für „wahrscheinlich“ gehalten wird. Auch der
Hinweis, dass der Operateur die Fensternische prophylaktisch mit einem
Bindegewebsstückchen abgedichtet hat, ist kein Beweis dafür, dass tatsächlich eine
Fensterruptur vorgelegen hat. Ist aber eine Fensterruptur tatsächlich nachgewiesen,
reicht in der ges. Unfallversicherung die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus, um
einen Zusammenhang mit einer plötzlich eingetretenen Schwerhörigkeit/Ertaubung
herzustellen, wenn der Tatbestand 1 (ungewöhnliche Kraftanstrengung) nachgewiesen
ist.