Pouwels KB.
et al.
Duration of antibiotic treatment for common infections in English primary care: cross
sectional analysis and comparison with guidelines.
BMJ 2019;
364: l440
Die Querschnitts-Studie griff auf Daten englischer Allgemeinarztpraxen der Grundversorgung
von 2013 – 2015 zurück. Zur Auswertung kamen 931 015 Arztkontakte, welche zu einer
Verschreibung einer antibiotischen Therapie führten. Indikationen waren
-
akute Sinusitis,
-
akute Rachenentzündung,
-
akuter Husten und Bronchitis,
-
Lungenentzündung,
-
akute Exazerbation einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung,
-
akute Otitis media,
-
akute Zystitis,
-
akute Prostatitis,
-
Pyelonephritis,
-
akute Hautinfektionen,
-
Impetigo,
-
Scharlach und
-
Gastroenteritis.
Primäre Fragestellungen waren
-
die prozentuale Häufigkeit von antibiotischen Verschreibungen mit einer Behandlungsdauer
über die von den Leitlinien empfohlene hinaus und
-
die absolute Zahl an Tagen außerhalb der empfohlenen Dauer für die einzelnen Indikationen.
Die häufigsten Gründe für die Verschreibung einer antibiotischen Therapie waren
-
akuter Husten und Bronchitis (386 972 Personen, 41,6 % der Konsultationen),
-
akute Rachenentzündung (239 231, 25,7 %),
-
akute Otitis media (83 054, 8,9 %) und
-
akute Sinusitis (76 683, 8,2 %).
Ein Zusammenhang von Verschreibungspraxis und Ko-Morbiditäten oder Lebensalter ließ
sich nicht nachweisen. Infekte der oberen Atemwege, akuter Husten und Bronchitis waren
verantwortlich für über 2/3 der Verschreibungen. Über 80 % dieser Behandlungen überschritten
in der Behandlungsdauer die Leitlinien-Empfehlungen. Ausnahmen waren akute Sinusitis
und akute Rachenentzündung, wo lediglich 9,6 % (95 % Konfidenzintervall (KI) 9,4 – 9,9)
resp. 2,1 % (95 % KI 2 – 2,1 %) die empfohlene Behandlungsdauer überschritten.
Bei der akuten Zystitis der Frau lagen über die Hälfte der Verordnungen über der empfohlenen
Dauer (54,6 %, 95 % KI 54,1 – 55). Für weitere nicht-respiratorische Infekte war der
Prozentsatz mit Überschreitung der empfohlenen Behandlungsdauer niedriger. Insgesamt
waren bei 931 015 Arztkontakten mit Verordnung einer antibiotischen Therapie an die
1,3 Millionen Tage jenseits der Zeit, welche einer leitliniengerechten Therapiedauer
entsprechen würde.
Die Tendenz in der vorliegenden Studie ging zu einer Verschreibungsdauer über 5 oder
7 Tage oder ein Vielfaches davon, 7 Tage waren die häufigste Zeitspanne. Bei Erkrankungsmodalitäten,
bei denen die Leitlinien eine längere Therapiedauer empfehlen, war auch die Prozentzahl
an darüberhinausgehenden Verordnungen erheblich geringer als bei Indikationen mit
nur kurzzeitig empfohlener Therapie. Eine kürzere als empfohlene Therapiedauer zeigte
sich bei der akuten Prostatitis mit 52,3 % unter den empfohlenen 28 Tagen und 26 %
unter 14 Tagen sowie bei der akuten Zystitis des Mannes mit 31,8 % unter 7 Tagen.
Bei den meisten Indikationen entsprachen ≥ 75 % der verordneten antibiotischen Therapeutika
den hierfür von den Leitlinien empfohlenen Substanzen. Eine relevante Ausnahme bot
die Gastroenteritis, bei der lediglich 12,8 % mit einem der empfohlenen Wirkstoffe
behandelt worden waren. Auch anders als bei anderen Indikationen war hier die Therapiedauer
betrachtet lediglich für die in den Leitlinien empfohlenen Antibiotika kürzer (40 %
vs. 53,3 %).
Die übermäßige Nutzung antibiotischer Therapien fördert, so Pouwels et al., nicht
nur die Resistenzentwicklung, sondern auch das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen.
Diese beinhalten z. B. Diarrhoe, Exantheme oder die Entwicklung einer Candidiasis
oder Clostridium-difficile-Infektion. Ein besseres Verständnis der Gründe für die
mangelnde Adhärenz an die Leitlinien könnte dazu führen, Interventionsstrategien zu
entwickeln.
Eine erhebliche Zahl antibiotischer Verordnungen bei häufig auftretenden Infekten
innerhalb der Grundversorgung in englischen Allgemeinarztpraxen überschreitet die
in den Leitlinien empfohlene Behandlungsdauer. Die Anpassung der Dauer einer antibiotischen
Therapie an die Leitlinien kann daher – so Pouwels et al. – bereits einen wesentlichen
Beitrag leisten, die absolute Verordnungsmenge zu reduzieren und damit Resistenzentwicklungen
entgegenzutreten.
Dr. Birgit Gappa, Penzberg
Ursächlich für die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen ist bekanntermaßen vermeidbarer
Antibiotikaeinsatz in Massentierhaltung und Humanmedizin. Bisher fokussierten nationale
Strategien (in Deutschland DART2020) für die Humanmedizin auf Indikationsstellung
und Substanzauswahl mit Schwerpunkt auf der stationären Versorgung – das ändert sich
derzeit [1]. Die vorliegende Querschnittsstudie unterstreicht hierzu die Bedeutung
der Anwendungsdauer und des ambulanten Sektors. Annehmbar sind die Ergebnisse auch
auf das deutsche Gesundheitswesen übertragbar und werden daher das Design zukünftiger
Surveillance-Studien [2] und schließlich auch geplante Interventionen beeinflussen
[3].
Der Befund, dass 80 % der Verordnungsmengen die Leitlinienempfehlungen übersteigen,
ist beeindruckend, auch wenn dieser (nur) auf Sekundärdatenanalysen und nicht auf
beobachteter Anwendungsdauer beruht. Hochgerechnet auf ganz Großbritannien würden
sich allein aus einer leitliniengerechten Anwendungsdauer der Antibiotikatherapie
bei Atemwegs- und Harnwegsinfekten jährlich 10 000 000 vermeidbare Tagesdosen in menschlichen
Körpern und Umwelt ergeben. Im Durchschnitt wären pro Antibiotikatherapie 1,5 Anwendungstage
vermeid- und verzichtbar.
Zu den Ursachen und Steuerungsmöglichkeiten dieses Missstandes gehört die notwendige
Aktualisierung unserer Wissensvorräte: So sind heute „Fünf Tage Cotrim“ für unkomplizierte
Harnwegsinfekte oder „Zehn Tage Oral-Penicillin“ bei Tonsillitis obsolet, wurden aber
von der Mehrzahl der heute niedergelassenen Ärzte noch so gelernt. Deshalb geht es
nicht nur um geeignete und verständliche Leitlinien zu Antibiotikatherapien, sondern
auch um deren zielgruppengerechte Verbreitung und Implementierung. Was hierzu im Krankenhaus
die „Antibiotic Stewardships“ sind, werden im ambulanten Bereich Qualitätszirkel und
vielleicht einmal Peer-Vergleiche als Anteile verhaltensändernder Interventionen werden
[4]. Dabei wird idealerweise das gesamte Praxisteam Adressat, denn die Hausarztpraxis
der Zukunft wird mehr Aufgaben zur Patientenkommunikation und Qualitätssicherung auf
nicht-ärztliche Gesundheitsberufe übertragen [5].
Die zeitliche Verkürzung von Antibiotikatherapien ist weniger aufwändig über Information
und Gespräch mit den Patienten umzusetzen als deren Vermeidung; deshalb ist die vorliegende
Studie so bedeutsam. Trotzdem: Weniger Rezepte schreiben, kostet im Zweifel mehr Gesprächszeit.
Dafür müssen wir die Bedingungen in unserem Gesundheitssystem und unseren Praxen entsprechend
gestalten.
Autorinnen/Autoren
Prof. Dr. med Andreas Klement ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Chirurgie. Als niedergelassener Hausarzt arbeitet
er in Teilzeit als Ärztlicher Manager im Kompetenzzentrum für die Weiterbildung Allgemeinmedizin
der Universität Halle-Wittenberg
Literatur
[1] Bundesministerium für Gesundheit. DART 2020: Dritter Zwischenbericht 2018 (April
2018). Im Internet: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/D/DART_2020/BMG_DART2020_3-Zwischenbericht_2018_DT.PDF; Stand 23. 03. 19
[2] Zweigner J, Meyer E, Gastmeier P et al. Rate of antibiotic prescriptions in German
outpatient care – are the guidelines followed or are they still exceeded? GMS Hyg
Infect Control 2018; 13: Doc04. doi:10.3205/dgkh000310
[3] Bätzing-Feigenbaum J, Schulz M, Schulz M et al. Outpatient Antibiotic Prescription.
Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 454 – 459. doi:10.3238/arztebl.2016.0454
[4] Meeker D, Linder JA, Fox CR et al. Effect of Behavioral Interventions on Inappropriate
Antibiotic Prescribing Among Primary Care Practices: A Randomized Clinical Trial.
JAMA 2016; 315: 562 – 570. doi:10.1001/jama.2016.0275
[5] Wagner EH, Flinter M, Hsu C et al. Effective team-based primary care: observations
from innovative practices. BMC Fam Pract 2017; 18: 13. doi:10.1186/s12875-017-0590-8