Abb.: Farknot Architect/stock.adobe.com (Symbolbild)
In unserer täglichen Praxis sehen wir immer wieder Klienten, die nach einer Verletzung
oder aufgrund einer Erkrankung im Alltag überfordert sind. Möglichkeiten für Veränderungen
sehen sie kaum. Sie fühlen sich gestresst, überlastet, erschöpft und haben fast keine
Energie, um sich auf die Therapie einzulassen. Allein der Gedanke an eine Veränderung
oder an Übungen zu Hause überfordert sie.
Was können wir diesen Klienten anbieten? Wie können wir sie als Ergotherapeuten so
unterstützen, dass sie wieder aktiv werden und selbstwirksam ihren Rehabilitationsprozess
mitgestalten? Diese Fragen stellten wir uns zu Beginn der Entwicklung des Mini-Aktivitäten-Ansatzes
(MAA). Auf der Suche nach Antworten stießen wir auf das Konzept der Resilienz. Damit
entwickelten wir im Laufe der Jahre einen therapeutischen Ansatz, mit dem Resilienz
im ergotherapeutischen Setting einfach umsetzbar wird.
Resilienz ist ein Prozess und erlernbar
Resilienz ist ein Prozess und erlernbar
Resilienz beschreibt die Fähigkeit eines Menschen, nach einer Krise oder einem Schicksalsschlag
wieder aufzustehen und nicht daran zu zerbrechen [[1]]. Sie setzt, wie die Salutogenese [[2]], den Fokus auf Faktoren, die dem Menschen helfen, gesund zu bleiben oder in belastenden
Situationen wieder gesund zu werden. Als Metapher wird häufig das Bild des Schilfes
angewendet, das durch einen Sturm gebogen wird, nicht bricht und sich danach wieder
aufrichtet (ergopraxis 1/18, S. 18).
Neue Forschung zeigt, dass Resilienz nicht nur angeboren ist oder vererbt wird, sondern
auch durch Umweltfaktoren beeinflusst wird. Wir können sie ein Leben lang erlernen
und stärken [[3]]. Demnach versteht man Resilienz heute nicht mehr als Endstadium, sondern als Prozess.
Umdenken in der Praxis
Durch die diagnosebezogenen Verordnungen und Erwartungshaltungen unserer Klienten
orientierten wir uns in unserer Praxis viele Jahre eher an der Pathogenese. Zu Therapiebeginn
analysierten wir erkrankungsspezifisch Ursachen und Probleme im Alltag. Dann suchten
wir nach Lösungen. Ein Problem zu lösen, bedeutet meist, etwas zu verändern. Ein Veränderungsprozess
erfordert immer Energie, wie Schkade und Schulz (1992) in ihrem Modell „Occupational
Adaptation“ beschrieben [[4]]. Jede Veränderung im Tun benötigt Konzentration und Energie, bevor das neue Tätigsein
zu Gewohnheit oder Routine wird und Energie geben kann [[5]]. Genau diese Energie fehlt unseren Klienten häufig. Diesen Konflikt erkannten wir
erst durch die Auseinandersetzung mit der Thematik, insbesondere mit der Resilienz.
Resilienz setzt den Fokus auf die Faktoren, die den Menschen gesund erhalten. Konkret
stellt man das, was guttut, also die Ressourcen, ins Zentrum. Das erforderte von uns
ein Umdenken in der Praxis. Von diesem Punkt an galt es die Therapie nicht mehr mit
dem „Problem“ zu starten, sondern mit der Suche nach dem, „was guttut“. Das war eine
ganz andere, aber für Klienten und uns freudvolle Herangehensweise.
Kaffeeduft
riechen, Musik hören, herzhaft lachen. Kleine Aktivitäten können Energie spenden.
Resilienz in drei Bereichen stärken
Resilienz in drei Bereichen stärken
Zur Vertiefung unseres Wissens und unserer praktischen Fertigkeiten fragten wir uns:
Welche kurzen oder kleinen Aktivitäten geben mehr Energie, als für deren Durchführung
gebraucht wird? Mit dieser Frage führten wir eine Literaturrecherche durch. Dabei
stellten wir fest, dass im Bereich der positiven Psychologie und Resilienz bereits
sehr viel Forschung existiert. Im Hinblick auf unsere ergotherapeutische Perspektive
entschieden wir uns für drei Bereiche, in denen Resilienz durch das Ausführen von
bestimmten Tätigkeiten aktiv gestärkt werden kann:
Kurze Aktivitäten ohne Material überall durchführen
Kurze Aktivitäten ohne Material überall durchführen
Aufgrund der fehlenden Energie unserer Klienten entschieden wir uns, eine Sammlung
von Aktivitäten zu erstellen, die den Prinzipien der „Energiespender“ entsprechen
[[6]]. Die Sammlung beinhaltet zurzeit über 100 Karten, auf denen Mini-Aktivitäten in
den drei genannten Bereichen beschrieben sind ([ABB. 1]). Sie haben immer das Ziel, mehr Energie zu geben, als für deren Durchführung gebraucht
wird. Sprich, sie sollen einem guttun. Eine Aktivität soll nicht länger als zwei Minuten
dauern und möglichst ohne Material überall durchgeführt werden können.
ABB. 1 Über 100 Karten mit jeweils einer Aktivität befinden sich bereits im Repertoire
des Mini-AktivitätenAnsatzes. Sie teilen sich auf die Bereiche soziale Kontakte, positive
Einstellung und gutes Körpergefühl auf.
Mini-Aktivitäten geben mehr Energie, als für deren Durchführung gebraucht wird.
Da die Wirkmechanismen von Mini-Aktivitäten im Körper unterschiedlich sind, geht es
uns im MAA darum, dass der Klient im Verlauf der Therapie möglichst verschiedene Mini-Aktivitäten
aus allen drei Bereichen ausführt. Dadurch aktiviert er diverse Wirkmechanismen im
Körper, die wir im Folgenden anhand der drei Bereiche beispielhaft erläutern.
1. Bereich: angenehme soziale Kontakte
1. Bereich: angenehme soziale Kontakte
Gute soziale Kontakte zu leben, ist für die Gesundheit einer der wichtigsten Faktoren.
Menschen mit guten sozialen Kontakten leben länger und gesünder. Das Fazit einer groß
angelegten Metaanalyse ist, dass Hausärzte primär nachfragen sollten, wie ihre Klienten
gute soziale Kontakte leben, bevor sie sie zu mehr Aktivität oder Sport motivieren
[[7]].
Wie und warum gute soziale Kontakte wirken, kann unter anderem mit dem Wirkmechanismus
des Hormons Oxitocyn erklärt werden. Oxitocyn wird umgangssprachlich häufig als das
„Bindungshormon“ bezeichnet. Bekannt ist, dass es bei der Geburt im mütterlichen Körper
in hohem Maße ausgeschüttet wird, damit sich sofort eine Bindung zum Neugeborenen
bildet. Oxitocyn hat eine direkt senkende Wirkung auf das körpereigene Cortisol (Stresshormon).
Damit wirkt es stressregulierend, blutdrucksenkend und fördert die Wundheilung. Zudem
hilft Oxitocyn bei der Vertrauensbildung und lässt uns stärker und besser fühlen [[8]]. In Kontakt zu sein mit lieben Menschen oder sich um Angehörige zu kümmern, löst
bei uns das Hormon Oxytocin aus. Es kann auch über Massage und Berührung steigen [[9], [10]]. Sogar über Augenkontakt, SMS oder Facebook konnte eine Wirkung gezeigt werden.
Wichtig dabei ist, dass der Kontakt bewusst und als wohlwollend wahrgenommen wird.
Als konkrete Mini-Aktivitäten entwickelten wir daraus unter anderem:
-
acht Personen pro Tag umarmen [[9], [10]]
-
sechs Sekunden die Hände von jemandem halten [[11]]
-
jemandem eine positive Nachricht schreiben [[8]]
2. Bereich: positive Einstellung/Gedanken/Gefühle
2. Bereich: positive Einstellung/Gedanken/Gefühle
Unter einer positiven Einstellung wird im Zusammenhang mit Resilienz verstanden, dass
man Probleme in einem größeren Rahmen (zeitlich oder auch in einer anderen Dimension)
sehen kann. Dies hilft, an einem Problem nicht zu zerbrechen, sondern Distanz zu gewinnen
und das größere Ganze zu sehen. Lange glaubte man, dass Resilienz eine angeborene
Fähigkeit sei. Erst die neuere Forschung konnte aufzeigen, dass es möglich ist, sie
lebenslang zu erlernen [[12]].
Ein Wirkmechanismus von positiver Einstellung ist folgender: Der präfrontale Kortex
sowie das Limbische System sind Zentren im Gehirn, in denen positive oder negative
Gedanken stattfinden können. Gedanken haben einen direkten Einfluss auf unsere Hormone
und Neurotransmitter. Hormone können bereits nach wenigen Minuten im Körper ausgeschüttet
werden, und wir fühlen uns wohl bzw. bei Ärger, Trauer oder Wut unwohl. Neurotransmitter
werden in den Synapsen im Rückenmark ausgeschüttet und können Schmerzen begrenzen
(positive Gedanken = Ausschüttung von Serotonin, Noradrenalin) oder verstärken (negative
Gedanken = Ausschüttung von Glutamat und Cholezystokinin). Fotos, Musik, Geschichten,
Gerüche etc. können positive bzw. negative Gedanken und somit Hormone und Neurotransmitter
auslösen. Das heißt, wir können unser Wohlbefinden und unsere Schmerzen direkt beeinflussen.
Als Mini-Aktivitäten beschreiben wir für diesen Bereich zum Beispiel:
-
die Musik hören, die einem gefällt [[13]]
-
Fotos von Tierbabys anschauen
-
Menschen auf der Straße zulächeln
3. Bereich: ein gutes Körpergefühl
3. Bereich: ein gutes Körpergefühl
Diverse Studien beschreiben den Einfluss der Körperhaltung auf die Hormone [[14]]. Wenn wir uns zum Beispiel in eine gebeugte Haltung begeben, löst dies eine Cortisol-Ausschüttung
aus. Im Gegensatz dazu steigt der Testosteronspiegel, wenn wir uns in eine „Winnerposition“
begeben und die Hände ausbreiten. Wichtig für das körperliche Wohlbefinden von uns
Menschen sind auch alle Tätigkeiten, die unseren Stoffwechsel, die Durchblutung, Belastbarkeit
und Kondition stärken.
Daraus entstanden Mini-Aktivitäten wie:
Vorgehen in der Therapie
Der MAA eignet sich sowohl für das Einzel- als auch für das Gruppensetting. Wir führen
ihn in beiden Formen in folgenden Schritten durch:
-
Edukation: Wir beginnen meist damit, dem Klienten das Konzept der Resilienz und die Zusammenhänge
von Stress, Schmerz und Gesundheit auf einer biologisch-physiologischen Ebene zu erklären.
-
Mini-Aktivitäten finden: Im Gespräch versuchen wir, dem Klienten selbst Vorschläge zu entlocken, welche Mini-Aktivitäten
ihm guttun, welche Ideen er selbst hat, die er durchführen kann. Bei Bedarf, und um
den Prozess einfacher zu gestalten, können wir das Karten-Set der Mini-Aktivitäten
zu Hilfe nehmen, lassen den Klienten drei Kärtchen ziehen oder bewusst auswählen ([Abb. 1]). Im Normalfall entscheidet sich der Klient für ein bis drei Mini-Aktivitäten.
-
Tun/durchführen: Wir führen die Aktivitäten gleich in der Therapie durch. Dadurch erlebt der Klient
zum einen, dass sie tatsächlich ohne großen Aufwand, einfach und schnell möglich sind.
Zum anderen kann er direkt das positive Gefühl – im Idealfall den „Energie-Boost“
– wahrnehmen. Wenn die theoretischen Erklärungen im Rahmen der Edukation zu schwierig
sind, führen wir einzelne Mini-Aktivitäten direkt durch, um dem Fokus „Spüren, wie
es guttut“, nachgehen zu können.
-
Transfer in den Alltag: Eine hohe Relevanz hat die Implementierung im Alltag. Durch das direkte Erleben in
der Therapie erhoffen wir uns eine hohe und anhaltende Adhärenz. Dennoch erarbeiten
wir mit den Klienten, was ihnen im Alltag hilft, sich daran zu erinnern. Die Klienten
entscheiden sich schlussendlich selbst, wie, wann, wo und wodurch sie sich erinnern
lassen möchten. Dies kann auf unterschiedlichste Weise geschehen: visuell durch ein
Post-it oder ein Hintergrundfoto auf dem Bildschirm/Smartphone, auditiv durch einen
Wecker oder eine Erinnerungs-App. Unser Ziel ist es, sich mindestens dreimal pro Tag
gut zu fühlen und somit mindestens dreimal täglich ein angenehmes Gefühl und positive
Gedanken, ein gutes Körpergefühl und/oder positive soziale Kontakte wahrzunehmen.
Kurz: das Positive zu üben und Energie zu gewinnen.
-
Repertoire und Flexibilität: Ein wichtiger Aspekt der Resilienz ist es, flexibel neue, andere Lösungswege zu gehen.
Wir erleben immer wieder, dass Klienten zum Beispiel Mini-Aktivitäten auf körperlicher
Ebene aufbauen, den sozialen Bereich aber weiterhin vernachlässigen. Oder andere Klienten,
die mit den Mini-Aktivitäten eine Routine und Gewohnheit, ja sogar eine gewisse Sturheit
entwickeln. Dies ist nicht die Idee des MAA, der im Sinne von Resilienz auch den Schritt
hin zur Flexibilität fördern möchte. Und genau diese Flexibilität hilft Menschen nach
schweren Ereignissen, neue, andere Lösungswege zu gehen [[16]]. Darum liegt uns der folgende Anwendungsschritt als Übungsmöglichkeit besonders
am Herzen:
Therapie
mit dem MAA startet nicht mit dem Problem, sondern mit der Suche nach dem, was guttut.
Voraussetzungen für Flexibilität schaffen
Voraussetzungen für Flexibilität schaffen
Der Klient hat bereits zehn Mini-Aktivitäten, von denen er weiß, dass sie ihm guttun,
oder wir lassen ihn zehn Karten ziehen. Er überlegt sich kurz drei Momente, Orte oder
Zeitpunkte in den letzten Tagen, die schwierig waren aufgrund der Schmerzen/Krankheit/Verletzung.
Nun versetzt er sich in einen dieser Momente und hält kurz inne, um sich zu überlegen,
welche dieser Karten ihm gerade jetzt am besten helfen könnte. Das Ziel dieser Übung
ist, Flexibilität zu lernen, auf sich zu hören und zu entscheiden, was brauche ich
gerade jetzt, was tut mir gut? Kurz: positive Flexibilität zu entwickeln. Im Moment
zu spüren, welche Aktivität gerade guttun würde. Diese Phase hat das Ziel, die Wahrnehmung
und die möglichen Ressourcen zu verbreitern, noch unbekannte Ressourcen aus den anderen
Bereichen auszubauen, mehr Varianten kennenzulernen, um die Voraussetzung für eine
größere Flexibilität zu schaffen.
Mit energiespendenden Tätigkeiten Veränderungen ermöglichen
Mit energiespendenden Tätigkeiten Veränderungen ermöglichen
Der MAA hat unsere therapeutische Sichtweise verändert und hilft uns von Beginn an,
in der Therapie den Fokus vermehrt auf Ressourcen zu legen. Er hat uns sowohl bei
Schmerzklienten als auch in der Handrehabilitation befähigt, einen betätigungsfokussierten
Ansatz zu verfolgen. Der Ansatz hilft uns, in komplexen Situationen beim Einstieg
in die Therapie eine Lücke zu schließen. Die Lücke, die das Engagement der Klienten
aufgrund des Energiemangels häufig beeinträchtigte. Nun führen wir zuerst Tätigkeiten
durch, die Energie spenden, bevor wir mit den Klienten größere Verhaltensveränderungen
angehen [[15]].
Die spontanen Reaktionen unserer Klienten auf die Mini-Aktivitäten sind in den meisten
Fällen sehr positiv. Viele sind freudig überrascht, dass sie nun etwas tun dürfen,
das nicht „hartes Training oder Üben“ ist, sondern einfach „guttut“. Wir erleben immer
wieder, dass sie dadurch relativ schnell in den Therapieprozess einsteigen und aktiv
positive Veränderungen im Leben angehen.
Mit energiespendenden Tätigkeiten Veränderungen ermöglichen
Mit energiespendenden Tätigkeiten Veränderungen ermöglichen
Bei der Entwicklung des Ansatzes bezogen wir unsere Ergotherapieteams aus Klinik und
Praxis aktiv mit ein. Neben den fachlichen Schulungen und Workshops zogen wir Mini-Aktivitäten
als Kärtchen und übten regelmäßig selbst damit unsere Resilienz. Dies war eine sehr
lustvolle, Resilienz fördernde Aktion im Team. Das Finden von neuen Mini-Aktivitäten
und sich immer wieder gegenseitig auffordern und anspornen, etwas durchzuführen, blieb
eine beliebte und willkommene Team-Aufmunterung im oft anstrengenden Arbeitsalltag.
Wer mehr über den Mini-AktivitätenAnsatz und unsere Workshops erfahren möchte, darf
sich gerne bei uns melden oder auf der Homepage umsehen: www.handrehabilitation.ch/weiterbildung. Die Karten können mittlerweile auf Deutsch, Französisch und Niederländisch bestellt
werden.
Barbara Aegler, Franziska Heigl, Fay Zischeck