ergopraxis 2019; 12(10): 45-47
DOI: 10.1055/a-0957-9501
Perspektiven
Selbstführung
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Ja? Nein? Vielleicht später … – Unangenehme Entscheidungen treffen

Barbara Freitag-Herse
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Publication Date:
04 October 2019 (online)

 

Ein Konfliktgespräch steht an. Und nun? Erst mal einen Tee zu trinken und die Pflanzen zu gießen, ist keine gute Idee. Als Führungskraft begegnen Sie Ihrer Angst vor unliebsamen Entscheidungen am besten mit Mut und Entschlossenheit – das gelingt mit nur sechs Schritten.


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Barbara Freitag-Herse

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Barbara Freitag-Herse ist selbstständige Ergotherapeutin, Coach, Dozentin und Kommunikationstrainerin. Seit vielen Jahren begleitet sie therapeutische und pädagogische Teams in Findungs- und Konfliktsituationen. Hier und auch in den Familiencoachings liegt ihr besonders der wertschätzende und gleichwürdige Umgang miteinander am Herzen. „Gemeinsam zu Begeisterung, Lachen und Entwicklung“ ist ihr Grundthema bei Workshops und Seminaren.

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass wir tagtäglich rund 20.000 Entscheidungen treffen. Bei dieser enormen Anzahl sind natürlich auch kleine „Mini“-Entscheidungen inbegriffen. Stehen wir beim ersten Klingeln des Weckers auf oder drücken wir auf die Snooze-Taste? Tee oder Kaffee? Marmelade, Wurst oder vegan, Low Carb? Wir haben schon Unmengen an Dingen ausgewählt und entschieden, bevor wir überhaupt an unserem Arbeitsplatz angekommen sind – aber dann geht es erst richtig los mit dem Abwägen und sich Festlegen.

Da wir alle, die wir dies hier lesen können, es irgendwie geschafft haben, durch Schule, Ausbildung oder Studium zu kommen, scheinen wir mit der kleinen alltäglichen Auswahl der Varianten zurechtzukommen. Wir waschen uns, ziehen uns an, ernähren uns. Vieles ist längst Gewohnheit geworden oder wir haben es einfach nie hinterfragt. Es gibt unendlich viele Regeln und Normen, die uns das Nachdenken, Überlegen und nachstehende Entscheiden abnehmen. Das dient der Vereinfachung des Lebens, aber auch der Sicherheit. Es ist durchaus sinnvoll, dass wir nicht jeden Tag neu entscheiden können, ob für uns heute der Links- oder der Rechtsverkehr gilt.

Was uns hindert, zügige Entscheidungen zu treffen, ist entweder mangelnde Information oder Angst

Wir Praxisinhaber haben zusätzlich zu Ernährungsform, Lebensstil und Familienstand auch noch die Entscheidung getroffen, uns selbstständig zu machen, also die eigene Chefin, der eigene Chef zu sein. Dies beinhaltet unglaublich viele kleinere und größere Wahlmöglichkeiten. Privat oder Kasse? Mitarbeiter oder im Solotanz? Fokussierung auf eine Fachrichtung oder die ganze Bandbreite? Dahinter stecken viele Überlegungen, Pro-Kontra-Listen und Grübeleien. Aber schließlich haben wir es hinbekommen – der eine einfacher, der andere mit mehr Geburtswehen. Das Treffen von Entscheidungen ist allerdings geblieben. Tagtäglich. Wenn Sie auch noch Mitarbeiter beschäftigen, ist die Zahl noch größer.

Mit dieser Vorgeschichte und Übung sollte es uns doch nun wirklich leichtfallen, uns bei einer neu auftretenden Situation auf eine von vielen Möglichkeiten festzulegen. Natürlich, es gibt die Souveränen, die auch im größten Trubel ein zielsicheres Votum abgeben, sich daran halten, „es“ durchziehen und dabei auch noch entspannt aussehen können. Die Mehrheit ist aber anders. In meinen Coachings rangiert das Thema „Entscheidungen“ stets auf Platz eins – und dies sowohl im privaten wie im beruflichen Bereich. Welche Mitarbeiter stelle ich ein? Wo werbe ich überhaupt? Wie viele Urlaubstage gewähre ich? Was mache ich mit dem wirklich respektlosen Patienten, was mit der unpünktlichen Mitarbeiterin? Und warum ist es eigentlich so schwierig, solche Entscheidungen zu treffen? Warum fallen uns manche so leicht und andere nicht?

Angstfrei Entscheidungen treffen

1. Atmen!

Das hört sich so lax an, ist es aber gar nicht. In Stresssituationen (und unangenehme Aufgaben im Nacken sind Stress!) neigen wir dazu, nur noch sehr flach und kurz zu atmen. Das führt zu Verspannungen, Unterversorgungen, Schmerzen – aber das muss ich Therapeuten ja nicht erklären. Entschließt sich ein Mensch zu einer Herausforderung, sei es Stabhochsprung bei den Olympischen Spielen oder ein Kündigungsgespräch, kommt es völlig natürlich zu dem großen tiefen Atemzug, dem Kraftschöpfen.

2. Jetzt!

Stehen Sie jetzt auf und machen Sie jetzt den ersten Schritt! Legen Sie die Zeitschrift beiseite, gehen Sie rüber in den Pausenraum und vereinbaren Sie jetzt einen Termin zu einem Mitarbeitergespräch. Rufen Sie jetzt bei der Bank, dem Vermieter oder dem Berufsverband an. Machen Sie den ersten Schritt, ruhig einen kleinen, aber den wichtigsten!

3. Formulieren Sie Ihr Kopfkino!

Das diffuse Sorgenvolle im Hirn ist maximal zeit- und kraftraubend! Lassen Sie doch mal Ihre Angst sprechen. Nehmen wir das Beispiel des herausgeschobenen Konfliktgesprächs. Was soll den wirklich schlimmstenfalls passieren? Dass Sie nicht mehr als nett und locker wahrgenommen werden? Dass Sie ohne diese Therapeutin dastehen? Dass sie sich krankmeldet? Ja, das kann geschehen. Und gibt es dafür keine Lösungen oder Veränderungen, auf die Sie dann reagieren können? Ganz sicher ist, dass Ihr Herz nicht stehen bleiben wird, wenn Sie nicht mehr „everybody’s darling“ sind.

4. Formulieren Sie Ihr Kopfkino!

Das kennen Sie bestimmt inzwischen aus dem Effeff: Schreiben Sie auf, welche Dinge in der Warteschleife Ihres Hirnflughafens kreisen und skalieren Sie diese nach Dringlichkeit.

5. Schreiben Sie Ihre Not-to-do-Liste!

Listen Sie auf, welche Dinge, Handlungen und Einstellungen sie beim Abarbeiten Ihrer To-do-Liste NICHT tun werden, zum Beispiel:

  • Zeitfressern wie Handy und Internet nachgeben

  • Alles wieder umwerfen

  • Meinen Ängsten Raum geben

  • Ablenkungsjobs annehmen

  • Mit einer bestimmten Freundin sprechen, die immer alles hinterfragt und mich so verunsichert

6. Belohnungen vertagen!

Ich bin ja ohnehin kein großer Verfechter von Smiley-Listen, aber in diesem Fall rate ich Ihnen dringend, eine Belohnung nach getaner Arbeit zu vertagen. Wenn nun also diese Aufgabe endlich, endlich, endlich erledigt ist, halten Sie bitte einen langen Moment lang inne. Fühlen und horchen Sie mal in sich hinein, wie es sich anfühlt: geschafft! Was spüren Sie in Ihrem Körper? Wie ist es im Kopf? Wie genau fühlen sich bei Ihnen Erleichterung und Stolz an? Nehmen Sie es bitte ganz bewusst wahr, denn das ist die größte Belohnung. Erst wenn Sie dies komplett verinnerlicht haben, gönnen Sie sich, was auch immer Sie sich als Belohnung zuvor ausgedacht haben.

Erfahrung gibt Sicherheit

Besonders leicht fallen uns Entscheidungen, wenn wir Erfahrungswissen haben, Experte sind. Wenn wir also zuvor – entweder an uns selbst oder aus verlässlicher Quelle – gefühlt, gesehen oder gehört haben, welche Konsequenz auf unsere Wahl folgt. Dieses Erfahrungswissen schafft Sicherheit, und wir nehmen die einzelnen Handlungsschritte nicht mehr als eine Summe von Entscheidungen wahr, zum Beispiel, wenn wir eine Verordnung zur Abrechnung vorbereiten. Das sah am Anfang ganz anders aus! Inzwischen lässt es unseren Blutdruck nicht mehr steigen, wenn wir unseren Autogrammschnörkel in das vorgesehene Kästchen setzen. Ich erinnere mich gut an meine erste „eigene“ Verordnung. Hab ich alles richtig ausgefüllt? Nichts vergessen? Noch mal kontrollieren … vielleicht noch mal? Inzwischen machen wir dies intuitiv, erfahren und routiniert.

Schwieriger ist es bei Entscheidungen, deren Konsequenzen wir nicht genau kennen. Ist es besser, Bewerber A oder B einzustellen? Wird die neue Mitarbeiterin ins Team passen? Soll ich mit den Praxisräumen umziehen? Wäre es besser, die Hausbesuche einzuschränken oder auszubauen?

Was uns hindert, zügige Entscheidungen zu treffen, ist entweder mangelnde Information oder Angst. Gegen mangelnde Information kann man schnell etwas tun: Fragen Sie sich, wenn Sie eine Entscheidung immer wieder aufschieben, ob Ihnen eine konkrete Information fehlt, um sich festlegen zu können. Sie könnten beispielsweise die potenziell neue Mitarbeiterin zu einer Teamsitzung einladen, damit Ihre bisherigen Mitarbeiter sie kennenlernen können und Ihnen hinterher ein Feedback geben. Auch das ist natürlich keine Garantie, aber eine zusätzliche Information, die vielleicht ihre eigene Tendenz bestärkt.


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Sie müssen nicht alles selbst wissen

Sie brauchen nicht immer selbst das Erfahrungs- oder Expertenwissen zu haben, um eine gute Entscheidung zu treffen. Finden Sie Menschen, Websites, Bücher und Dateien, die zu den wichtigen Themen des (Berufs-)Lebens eine Koryphäe darstellen, und stellen Sie diese zu Ihrem persönlichen „Rat der Weisen“ zusammen. In meinem persönlichen „Rat der Weisen“ gibt es neben ein paar ausgewählten Büchern und Dateien einen Schreiner, einen Neurologen, eine Mitarbeiterin des Berufsverbands, einen Architekten, einen Autor und Coach, eine Physiotherapeutin, eine OP-Schwester und eine wundervolle alte Dame, deren großartige Kompetenz für mich allein darin besteht, mich wann immer ich mich völlig busy im Gedankenkarussell verloren habe in ihren Garten zu holen, Tee zu kochen und zwischen den Pflanzen werkeln zu lassen. Ohne zu reden. Wunderbar!

Manche dieser Menschen wissen gar nichts von ihrer Ehrenmitgliedschaft in meinem „Rat der Weisen“. Das ist auch nicht unbedingt erforderlich. Wichtig ist – und ich empfehle Ihnen wirklich, diese Liste schriftlich anzulegen –, dass SIE wissen, auf wen und was Sie als Ressource zurückgreifen können. Erstellen Sie diese Liste, BEVOR Sie sie brauchen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass ein von Schreck und Sorgen gebeuteltes Hirn nicht wirklich gut in der Lage ist, konstruktive Lösungen zu finden.


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Angst führt zu Aufschieberitis

Eine diffuse Angst ist jedoch sicherlich der gewichtigste Grund dafür, Entscheidungen zu vermeiden. Das unbestimmte Gefühl, sich nicht sicher zu sein, nicht zu wissen, was die einzig wahre und richtige Entscheidung ist, einen Fehler zu machen. So werden dann Entscheidungen und Handlungen immer weiter aufgeschoben und wabern als unangenehmer Nebel in unserem Nacken hinter uns her. Es entsteht das, wogegen sich sicherlich die halbe Menschheit liebend gern impfen lassen würde: Prokrastination oder Aufschieberitis! Statt das Konfliktgespräch mit dem Mitarbeiter überlegt und strukturiert anzugehen, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, verharren wir oftmals lieber in der Situation, halten aus und sind mit anderen Dingen, die uns urplötzlich einfallen, entsetzlich beschäftigt. Wollten Sie nicht dringend einmal den Bestand an Büroklammern erfassen? Das Sommerfest im nächsten Jahr planen? Im Internet nach einer neuen Fortbildung suchen? So schlimm ist das Verhalten von XY ja nicht … Erst muss ich noch … – aber dann! Aus dem Dann wird allzu oft ein Nie, und Unangenehmes türmt sich auf.

Stellen Sie sich einen persönlichen „Rat der Weisen“ zusammen

Sich nicht zu entscheiden ist allerdings auch eine Entscheidung. Sie entscheiden sich dann, mal mehr, mal weniger bewusst, zum Beibehalten genau des Zustands, den Sie jetzt haben. Sie sagen ja zu dem respektlosen Patienten, der unpünktlichen Mitarbeiterin oder einem anderen Umstand, den Sie aushalten. Dabei wäre es gerade Ihre Aufgabe als Arbeitgeber, genau diese Dinge anzugehen. Es liegt in Ihrer Verantwortung. In dem Moment, als Sie den ersten Arbeitsvertrag eines Mitarbeiters unterschrieben haben, haben Sie die Verantwortung übernommen, sich auch um die Konflikte zu kümmern. Nicht nur Ihr Mitarbeiter hat einen Job angenommen – Sie auch! Wenn Sie also diese Aufgabe nicht annehmen, sind Sie – verzeihen Sie mir – eventuell genauso unzuverlässig wie der kritisierte Mitarbeiter.


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Seien Sie mutig!

Überwinden Sie die Aufschieberitis und die dahinterstehenden Ängste und Sorgen. So gewinnen Sie nicht nur Erfahrungswissen, sondern auch eine gehörige Portion Selbstvertrauen und Führungskompetenz. Ja, Sie benötigen dazu vielleicht Mut. Aber beachten Sie bitte, dass es Mut ohne Angst gar nicht geben kann! Wenn jemand alles macht, was ihm leichtfällt, wirkt das vielleicht souverän, aber mutig ist es nicht. Mut ist Handeln TROTZ Angst und Sorgen!

Wie kann ich nun diese Ängste, eine falsche Entscheidung zu treffen, mich festzulegen oder zu positionieren, überwinden? Es hat mal ein paar psychologische Forscher gegeben, die eine Formel entwickelt haben, um mögliche negative Konsequenzen einer persönlichen Entscheidung zu berechnen. Das Ergebnis ist ein Punktwert, der anzeigen soll, wie dringlich eine Entscheidung zu treffen ist. Ich erspare Ihnen den Vorgang der Berechnung. Stattdessen sollten Sie aktiv werden. In der Arbeit an und mit mir und meinen Klienten hat sich eine Herangehensweise bewährt, die sechs Punkte berücksichtigt (INFO).


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Schöne Nebenwirkungen

Die Kraft und Erfahrung, etwas Unangenehmes erledigt zu haben, zu einer Entscheidung zu stehen, sich zu positionieren, macht Sie zu einer Führungspersönlichkeit, auf die man sich gern verlässt und der man vertrauen kann. So werden Sie selbst zu einem Experten und sitzen, ohne es vielleicht selbst zu wissen, in irgendeinem anderen „Rat der Weisen“.


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