Pneumologie 2019; 73(10): 617-619
DOI: 10.1055/a-0960-4164
Leserbrief
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Leserbrief zu Schulz H, Karrasch S, Bölke G et al. Atmen: Luftschadstoffe und Gesundheit – Teil I. Pneumologie 2019; 73: 288 – 305

Andreas Schnitzler
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Dr. med. Andreas Schnitzler
Oedemer Weg 3a
21335 Lüneburg

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Publication Date:
17 October 2019 (online)

 

Sehr geehrte Redaktion!

Vorliegend geht es um Feinstaub bzw. Luftverschmutzung ausschließlich in klinisch (bislang) nicht nachweislich wirksamer Dosis (Exposition), also etwa in der Größenordnung heute diskutierter Grenzwerte [1] [2].

Ein aktueller Cochrane-Bericht wird hierzu wie folgt zitiert: „Nur weil sich kein Effekt nachweisen lässt, heißt das nicht, dass es keinen Zusammenhang gibt“ [3].

In dem Beitrag [1] ist hingegen die Rede von der „Tatsache, dass bisher keine Wirkungsschwelle identifiziert werden konnte, unterhalb derer die Gesundheitseffekte vernachlässigt werden könnten“.

Nach der so verstanden Darstellung [1] soll es also im Zweifel auch bei oder unterhalb der niedrigsten, (bislang) jemals gemessenen Feinstaubexposition von z. B. 2,4 µg/cbm PM2.5 [4] immer noch „mehr als Null“, also z. B. „einzelne“ Menschen geben, die durch Feinstaub ernstlich geschädigt werden bzw. zu Tode kommen (können).

Diese Aussage weicht nun vom Üblichen insofern ab, als dass bei einer Dosis von (ggf. sehr nahe) „Null“ im absoluten Regelfall auch „Null“ Folgen auftreten, bzw. die tatsächliche Wirkung eines (Gift-)Stoffes zumindest höchst unzuverlässig wird. Kann man aber wirklich und mit Gewissheit sagen, „jeder Atemzug verkürzt das Leben“ (keine Untergrenze)?

Wie dem auch sei: Für den Leser bleibt möglicherweise offen, in welchem konkreten Bereich eine solche Anzahl an „einzelnen“ Schadens- bzw. Sterbefällen liegen kann, ggf. pro Gruppe „Kinder, ältere Menschen, schwangere Frauen“ [1]; es wäre ja z. B. völlig undenkbar, dass dabei „alle“ nicht ausgeschlossen wäre.

Ich bitte daher höflichst um einen Hinweis, in welchem Bereich sich die angegebenen Gesundheitseffekte an der Untergrenze der Exposition zuverlässig bewegen.

Des Weiteren fällt auf, dass einzelne Angaben der Umweltepidemiologie auf der „Environmental Burden of Disease“ (EBD)-Methode beruhen [5]. Diese beschreibt das „Ausmaß der Krankheitslast, die einem umwelt- oder lebensstilassoziierten Risikofaktor oder einer Gruppe von Risikofaktoren zugeschrieben werden kann“, und ist gedacht, „insbesondere die vergleichende Beurteilung unterschiedlicher Risikofaktoren und hierzu ihre Darstellung in einem standardisierten Format [zu] ermöglichen“, damit diese dazu „genutzt werden können, um gezielt Informationen für politische Entscheidungen bereitzustellen“ [6].

Dabei wird in einem ersten Schritt festgestellt, wie sich das jeweils individuelle Sterbealter zur „statistische[n] Restlebenserwartung der verstorbenen Personen“ verhält [5]. Somit werden (innerhalb der jeweiligen Einzelbetrachtung) und bezogen auf jeweils eine definierte Todesursache quasi zwei Gruppen miteinander verglichen, bestehend aus den jeweils frisch verstorbenen Personen versus jeweils einem gedanklich noch lebenden „Zwilling“. Das Umweltbundesamt (UBA) nannte beispielsweise im März 2018 eine vielfach konkret verstandene Anzahl von Todesfällen bzw. verlorenen Lebensjahren durch Stickstoffdioxid (NO2):

„Unter Verwendung einer unteren Quantifizierungsgrenze von 10 µg/m³ NO2 wurden für das Jahr 2014 für die kardiovaskuläre Mortalität durch NO2-Langzeitexposition (basierend auf Jahresmittelwerten) 5966 (95 %-Konfidenzintervall: 2031 bis 9893) attributable vorzeitige Todesfälle und 49 726 (16 929 bis 82 456) verlorene Lebensjahre geschätzt“ [7].

Wenn man derartige Berechnungen jedoch aus dem ursprünglich vorgesehenen Kontext löst und „für sich allein“ hinstellt, ergeben sich beispielsweise folgende Probleme:

  • Was bitte ist eine „Lebenserwartung von Verstorbenen“? Was genau soll das bitte beweisen? Wie wäre diese Gegenüberstellung mit dem üblichen Grundsatz vereinbar, dass Vergleiche nur „Vergleichbares“ (Endpunkt!) betreffen sollten (können)? Ist also allein nach der EBD-Methode eine wahrheitsgetreue „Information für politische Entscheidungen“ möglich, dass „mehr als Null“ Menschen am NO2 (oder einem beliebigen anderen Faktor) sterben?

  • Wäre das Ergebnis nicht zwangsläufig determiniert? Eine „Restlebenserwartung“ von tatsächlich Überlebenden ist doch ohne eine einzige Ausnahme (sonst möge man sie bitte nennen) „größer als Null“, auf Seiten der Verstorbenen, also selbst bei Hochbetagten, ergibt sich somit immer ein Verlust. Ist die Anwendung dieser Methode aber substanziiert, wenn man nicht ausschließen kann, dass einzelne Menschen in Wahrheit keinen (feststellbaren) Verlust an Lebenszeit z. B. durch NO2 erleiden, zumal sich summarisch „kein Effekt nachweisen“ lässt [3]? Ansonsten möge man bitte nachvollziehbar erläutern, aus welchem rationalen Grund „alle“ Menschen jeden Alters auch bei noch so niedriger Exposition Lebenszeit verlieren (müssen). Oder sollte etwa doch zumindest eine Art „klinischer“ Grenzwert (z. B. eine „untere Quantifizierungsgrenze“) existieren?

  • Kann man nach dieser Methodik Faktoren bzw. Sachverhalte nicht übersehen, die das Leben bei einer anderen als der gerade betrachteten Todesursache in Wahrheit nicht negativ beeinflussen, oder sogar („auf Bevölkerungsebene“; relativ) verlängern könnten? Allein im Verzeichnis der „Todesursachen laut „‚Europäischer Kurzliste‛“ werden 13 Hauptgruppen geführt [8]. Ist das für eine Todesursache spezifische Ergebnis (hier die Hauptgruppe „kardiovaskuläre Mortalität“) somit ohne Weiteres auf die Summe aller Todesursachen übertragbar, oder wäre nicht sogar – ganz und gar hypothetisch – eine Art „Selektion“ vorstellbar?

Kann es also angemessen sein, wenn hier – scheinbar analog zu echten Vergleichsstudien – ganz grundsätzlich irgendeine (virtuelle) „Anzahl an verlorenen Lebensjahren“ oder „vorzeitigen Todesfällen“ kommuniziert wird, die gemäß ihrem Wortlaut z. B. in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken könnte, mit Realität oder gar Beweis irgendetwas zu tun zu haben, anstelle – wie vorgesehen – rein abstrakten Indexzahlen für einen sehr speziellen Sachverhalt?

Das UBA stellte diesen Sachverhalt – Anfang 2019 – immerhin richtig [5]:

„Die so ermittelten Zahlen sind als Indikatoren für den Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung zu sehen. Sie sind keinesfalls klinisch identifizierbare Todesfälle, die auf Stickstoffdioxid zurückgeführt werden können.“

Es stellt sich die Frage, ob eine solche Klarstellung aus Gründen der Transparenz nicht in die erste Pressemitteilung (Adressat!) gehört hätte. Darüber hinaus könnte selbst diese Aussage, jedenfalls im zweiten Satz, erneut missverstanden werden, denn man könnte hier – durch den Einschub „klinisch identifizierbare“ – sowohl:

  • „Sie sind ... Todesfälle“ (nur dass man sie eben „nicht sehen“ kann, ähnlich wie Cholesterin und Herzinfarkt), als auch das genaue Gegenteil, nämlich

  • „Sie sind keinesfalls ... Todesfälle“ (im Sinne von: nie und nimmer würden wir behaupten, dass hier in der Realität Menschen sterben) verstehen.

Rhetorisch bemerkenswert, aber 1. steht doch offenkundig gar nicht fest, dass gerade NO2 hier überhaupt in irgendeiner Weise tödlich sein muss: „vergleichsweise geringeren Gesundheitsbelastung durch Stickstoffdioxid« [9], vgl. auch Stickstoffmonoxid und Medizinnobelpreis [2], und 2. siehe oben.

In Wahrheit werden mit der EBD-Methode also „Indexzahlen“ erstellt, auf der Basis reiner Gedankenexperimente: „was wäre wenn ... die Toten nicht gestorben wären ...“. Wie weit aber darf man z. B. eine Berufung auf das Vorsorgeprinzip gelten lassen, soweit (und natürlich nur falls) man einen beliebigen Faktor allein durch Anwendung einer bestimmten Rechenmethode als tödliches Risiko präsentiert? Hier ist also im Einzelfall dringend eine deutlich präzisere Ausdrucksweise zu wünschen, was genau denn mit den kommunizierten Sachverhalten gemeint sein kann.

Bei allem – ganz ausdrücklich zugestandenen – guten Willen: Ist eine „laute“ Botschaft wie „‚leiser Mörder‛ Luftverschmutzung“ [10] und auf unsere Verhältnisse bezogen wirklich die ganze Wahrheit, oder nicht doch eventuell hier oder da ein wenig „übereifrig“?

Nun gilt ganz grundsätzlich: „Absolut unhaltbar ist [die Gleichsetzung] signifikante[r] Korrelationen mit kausalen […]. Es gehört zu den Präliminarien jedes epidemiologischen Standardlehrbuches, auf diese Problematik hinzuweisen“ [11].

Im Fall „relativer Risiken unter 2“ wie bei [4] ist überdies gefordert: „A true relative risk of 2 or less may be tremendously important, but requires the more sensitive clinical trial (rather than observational epidemiological studies) for confirmation“ [12].

Zusätzlich: „Placebo experiments are not part of epidemiological, toxicological or clinical studies (typically with animals). We are not testing medication“ [13].

Wie bitte sind aber Ursache und Wirkung methodologisch festzustellen, wenn nicht experimentell, z. B. durch prospektive Vergleichsstudien, Stichwort „evidenzbasierte Medizin“? Gerade jüngst wird erneut darauf hingewiesen, dass noch so plausible oder wünschenswerte Konzepte eben nicht ausnahmslos einer klinischen Überprüfung standhalten müssen [14].

In dem Beitrag [1] tauchen aber Begriffe wie „kausal“ bzw. „ursächlich“ auffallend häufig auf (rein numerisch komme ich auf 24 Fundstellen).

Ich bitte daher höflichst um einen Hinweis, in wessen Zuständigkeit eine tatsächliche Beweisführung fällt, oder z. B. künftig fallen soll.

Wir haben doch alle verstanden, dass (auch) das Thema Luftverschmutzung (auch) der Umweltepidemiologie ein „Herzensanliegen“ ist, und es kann – ganz ausdrücklich jenseits aller Detailfragen – nur unser aller gemeinsames Bestreben sein, die Welt „jeden Tag ein wenig besser“ zu machen!

Der Unterzeichner stellt ausdrücklich klar, dass a) kein Interessenkonflikt besteht, und b) auch für ihn der Schutz menschlichen Lebens unverhandelbar ist.


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Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


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Dr. med. Andreas Schnitzler
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