Sehr geehrte Redaktion!
Vorliegend geht es um Feinstaub bzw. Luftverschmutzung ausschließlich in klinisch (bislang) nicht nachweislich wirksamer Dosis (Exposition), also etwa in der Größenordnung
heute diskutierter Grenzwerte [1]
[2].
Ein aktueller Cochrane-Bericht wird hierzu wie folgt zitiert: „Nur weil sich kein
Effekt nachweisen lässt, heißt das nicht, dass es keinen Zusammenhang gibt“ [3].
In dem Beitrag [1] ist hingegen die Rede von der „Tatsache, dass bisher keine Wirkungsschwelle identifiziert
werden konnte, unterhalb derer die Gesundheitseffekte vernachlässigt werden könnten“.
Nach der so verstanden Darstellung [1] soll es also im Zweifel auch bei oder unterhalb der niedrigsten, (bislang) jemals
gemessenen Feinstaubexposition von z. B. 2,4 µg/cbm PM2.5 [4] immer noch „mehr als Null“, also z. B. „einzelne“ Menschen geben, die durch Feinstaub
ernstlich geschädigt werden bzw. zu Tode kommen (können).
Diese Aussage weicht nun vom Üblichen insofern ab, als dass bei einer Dosis von (ggf.
sehr nahe) „Null“ im absoluten Regelfall auch „Null“ Folgen auftreten, bzw. die tatsächliche
Wirkung eines (Gift-)Stoffes zumindest höchst unzuverlässig wird. Kann man aber wirklich
und mit Gewissheit sagen, „jeder Atemzug verkürzt das Leben“ (keine Untergrenze)?
Wie dem auch sei: Für den Leser bleibt möglicherweise offen, in welchem konkreten
Bereich eine solche Anzahl an „einzelnen“ Schadens- bzw. Sterbefällen liegen kann,
ggf. pro Gruppe „Kinder, ältere Menschen, schwangere Frauen“ [1]; es wäre ja z. B. völlig undenkbar, dass dabei „alle“ nicht ausgeschlossen wäre.
Ich bitte daher höflichst um einen Hinweis, in welchem Bereich sich die angegebenen
Gesundheitseffekte an der Untergrenze der Exposition zuverlässig bewegen.
Des Weiteren fällt auf, dass einzelne Angaben der Umweltepidemiologie auf der „Environmental
Burden of Disease“ (EBD)-Methode beruhen [5]. Diese beschreibt das „Ausmaß der Krankheitslast, die einem umwelt- oder lebensstilassoziierten
Risikofaktor oder einer Gruppe von Risikofaktoren zugeschrieben werden kann“, und
ist gedacht, „insbesondere die vergleichende Beurteilung unterschiedlicher Risikofaktoren
und hierzu ihre Darstellung in einem standardisierten Format [zu] ermöglichen“, damit
diese dazu „genutzt werden können, um gezielt Informationen für politische Entscheidungen
bereitzustellen“ [6].
Dabei wird in einem ersten Schritt festgestellt, wie sich das jeweils individuelle
Sterbealter zur „statistische[n] Restlebenserwartung der verstorbenen Personen“ verhält
[5]. Somit werden (innerhalb der jeweiligen Einzelbetrachtung) und bezogen auf jeweils
eine definierte Todesursache quasi zwei Gruppen miteinander verglichen, bestehend
aus den jeweils frisch verstorbenen Personen versus jeweils einem gedanklich noch
lebenden „Zwilling“. Das Umweltbundesamt (UBA) nannte beispielsweise im März 2018
eine vielfach konkret verstandene Anzahl von Todesfällen bzw. verlorenen Lebensjahren
durch Stickstoffdioxid (NO2):
„Unter Verwendung einer unteren Quantifizierungsgrenze von 10 µg/m³ NO2 wurden für das Jahr 2014 für die kardiovaskuläre Mortalität durch NO2-Langzeitexposition (basierend auf Jahresmittelwerten) 5966 (95 %-Konfidenzintervall:
2031 bis 9893) attributable vorzeitige Todesfälle und 49 726 (16 929 bis 82 456) verlorene
Lebensjahre geschätzt“ [7].
Wenn man derartige Berechnungen jedoch aus dem ursprünglich vorgesehenen Kontext löst
und „für sich allein“ hinstellt, ergeben sich beispielsweise folgende Probleme:
-
Was bitte ist eine „Lebenserwartung von Verstorbenen“? Was genau soll das bitte beweisen?
Wie wäre diese Gegenüberstellung mit dem üblichen Grundsatz vereinbar, dass Vergleiche
nur „Vergleichbares“ (Endpunkt!) betreffen sollten (können)? Ist also allein nach
der EBD-Methode eine wahrheitsgetreue „Information für politische Entscheidungen“
möglich, dass „mehr als Null“ Menschen am NO2 (oder einem beliebigen anderen Faktor) sterben?
-
Wäre das Ergebnis nicht zwangsläufig determiniert? Eine „Restlebenserwartung“ von
tatsächlich Überlebenden ist doch ohne eine einzige Ausnahme (sonst möge man sie bitte
nennen) „größer als Null“, auf Seiten der Verstorbenen, also selbst bei Hochbetagten,
ergibt sich somit immer ein Verlust. Ist die Anwendung dieser Methode aber substanziiert,
wenn man nicht ausschließen kann, dass einzelne Menschen in Wahrheit keinen (feststellbaren)
Verlust an Lebenszeit z. B. durch NO2 erleiden, zumal sich summarisch „kein Effekt nachweisen“ lässt [3]? Ansonsten möge man bitte nachvollziehbar erläutern, aus welchem rationalen Grund
„alle“ Menschen jeden Alters auch bei noch so niedriger Exposition Lebenszeit verlieren
(müssen). Oder sollte etwa doch zumindest eine Art „klinischer“ Grenzwert (z. B. eine
„untere Quantifizierungsgrenze“) existieren?
-
Kann man nach dieser Methodik Faktoren bzw. Sachverhalte nicht übersehen, die das
Leben bei einer anderen als der gerade betrachteten Todesursache in Wahrheit nicht
negativ beeinflussen, oder sogar („auf Bevölkerungsebene“; relativ) verlängern könnten?
Allein im Verzeichnis der „Todesursachen laut „‚Europäischer Kurzliste‛“ werden 13
Hauptgruppen geführt [8]. Ist das für eine Todesursache spezifische Ergebnis (hier die Hauptgruppe „kardiovaskuläre
Mortalität“) somit ohne Weiteres auf die Summe aller Todesursachen übertragbar, oder
wäre nicht sogar – ganz und gar hypothetisch – eine Art „Selektion“ vorstellbar?
Kann es also angemessen sein, wenn hier – scheinbar analog zu echten Vergleichsstudien
– ganz grundsätzlich irgendeine (virtuelle) „Anzahl an verlorenen Lebensjahren“ oder
„vorzeitigen Todesfällen“ kommuniziert wird, die gemäß ihrem Wortlaut z. B. in der
Öffentlichkeit den Eindruck erwecken könnte, mit Realität oder gar Beweis irgendetwas
zu tun zu haben, anstelle – wie vorgesehen – rein abstrakten Indexzahlen für einen
sehr speziellen Sachverhalt?
Das UBA stellte diesen Sachverhalt – Anfang 2019 – immerhin richtig [5]:
„Die so ermittelten Zahlen sind als Indikatoren für den Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung
zu sehen. Sie sind keinesfalls klinisch identifizierbare Todesfälle, die auf Stickstoffdioxid
zurückgeführt werden können.“
Es stellt sich die Frage, ob eine solche Klarstellung aus Gründen der Transparenz
nicht in die erste Pressemitteilung (Adressat!) gehört hätte. Darüber hinaus könnte
selbst diese Aussage, jedenfalls im zweiten Satz, erneut missverstanden werden, denn
man könnte hier – durch den Einschub „klinisch identifizierbare“ – sowohl:
-
„Sie sind ... Todesfälle“ (nur dass man sie eben „nicht sehen“ kann, ähnlich wie Cholesterin
und Herzinfarkt), als auch das genaue Gegenteil, nämlich
-
„Sie sind keinesfalls ... Todesfälle“ (im Sinne von: nie und nimmer würden wir behaupten,
dass hier in der Realität Menschen sterben) verstehen.
Rhetorisch bemerkenswert, aber 1. steht doch offenkundig gar nicht fest, dass gerade
NO2 hier überhaupt in irgendeiner Weise tödlich sein muss: „vergleichsweise geringeren
Gesundheitsbelastung durch Stickstoffdioxid« [9], vgl. auch Stickstoffmonoxid und Medizinnobelpreis [2], und 2. siehe oben.
In Wahrheit werden mit der EBD-Methode also „Indexzahlen“ erstellt, auf der Basis
reiner Gedankenexperimente: „was wäre wenn ... die Toten nicht gestorben wären ...“.
Wie weit aber darf man z. B. eine Berufung auf das Vorsorgeprinzip gelten lassen,
soweit (und natürlich nur falls) man einen beliebigen Faktor allein durch Anwendung einer bestimmten Rechenmethode
als tödliches Risiko präsentiert? Hier ist also im Einzelfall dringend eine deutlich
präzisere Ausdrucksweise zu wünschen, was genau denn mit den kommunizierten Sachverhalten
gemeint sein kann.
Bei allem – ganz ausdrücklich zugestandenen – guten Willen: Ist eine „laute“ Botschaft
wie „‚leiser Mörder‛ Luftverschmutzung“ [10] und auf unsere Verhältnisse bezogen wirklich die ganze Wahrheit, oder nicht doch eventuell hier oder da ein wenig „übereifrig“?
Nun gilt ganz grundsätzlich: „Absolut unhaltbar ist [die Gleichsetzung] signifikante[r]
Korrelationen mit kausalen […]. Es gehört zu den Präliminarien jedes epidemiologischen
Standardlehrbuches, auf diese Problematik hinzuweisen“ [11].
Im Fall „relativer Risiken unter 2“ wie bei [4] ist überdies gefordert: „A true relative risk of 2 or less may be tremendously important,
but requires the more sensitive clinical trial (rather than observational epidemiological
studies) for confirmation“ [12].
Zusätzlich: „Placebo experiments are not part of epidemiological, toxicological or
clinical studies (typically with animals). We are not testing medication“ [13].
Wie bitte sind aber Ursache und Wirkung methodologisch festzustellen, wenn nicht experimentell,
z. B. durch prospektive Vergleichsstudien, Stichwort „evidenzbasierte Medizin“? Gerade
jüngst wird erneut darauf hingewiesen, dass noch so plausible oder wünschenswerte
Konzepte eben nicht ausnahmslos einer klinischen Überprüfung standhalten müssen [14].
In dem Beitrag [1] tauchen aber Begriffe wie „kausal“ bzw. „ursächlich“ auffallend häufig auf (rein
numerisch komme ich auf 24 Fundstellen).
Ich bitte daher höflichst um einen Hinweis, in wessen Zuständigkeit eine tatsächliche Beweisführung fällt, oder z. B. künftig fallen soll.
Wir haben doch alle verstanden, dass (auch) das Thema Luftverschmutzung (auch) der
Umweltepidemiologie ein „Herzensanliegen“ ist, und es kann – ganz ausdrücklich jenseits aller Detailfragen – nur unser aller gemeinsames Bestreben sein, die Welt „jeden
Tag ein wenig besser“ zu machen!
Der Unterzeichner stellt ausdrücklich klar, dass a) kein Interessenkonflikt besteht,
und b) auch für ihn der Schutz menschlichen Lebens unverhandelbar ist.