Zum einen bedingt die Multimorbidität des geriatrischen Patienten eine Multimedikation,
zum anderen besteht dann immer ein hohes Risiko für Arzneimittelinteraktionen und
unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE). International wird immer wieder über Krankenhauseinweisungen
aufgrund unerwünschter Arzneimittelereignissen berichtet. Bei den über 75-Jährigen
waren 30% aller Krankenhauseinweisungen auf unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE)
zurückzuführen [1]. Eine UAE, in der anglo-amerikanischen Fachliteratur als adverse drug reaction (ADR)
bezeichnet, ist definiert als schädliches Ereignis, welches im zeitlichen Zusammenhang
mit einer Arzneimittelanwendung auftritt. Dies führt dann möglicherweise zur Expression
von vermeintlichen Krankheitssymptomen, die dann wiederum eine Arzneimitteltherapie
induzieren und nicht selten in der Polypharmazie endet.
Es kommt zu einer sogenannten Verschreibungskaskade. Eine Verschreibungskaskade beschreibt
den fehlerhaften Medikationsprozess, bei dem unter der Anwendung eines Medikaments
Nebenwirkungen auftreten, die nicht als solche erkannt werden und somit fälschlicherweise
als neue Krankheitssymptome eingestuft werden. Dies führt dann zum Ansetzen eines
neuen, weiteren Medikaments, um die neuen Krankheitssymptome zu therapieren [2]. Es kommt leider nicht zur Modifikation oder zum Absetzen des auslösenden initialen
Medikamentes.
Abb. 1 Struktur der Verschreibungskaskade (mod. nach [3]).
Daneben gibt es noch andere Risikofaktoren im Medikationsprozess bei geriatrischen
Patienten, die die Gefahr einer Verschreibungskaskade erhöhen können. Durch die Veränderungen
von Pharmakokinetik und -dynamik in dieser vulnerablen Patientengruppe sind die Wirkungen
der Arzneimittel nicht immer gut vorhersagbar. Auch die mangelnde Koordination in
der medikamentösen Behandlung lässt viel Freiraum für unerwünschte Arzneimittelwirkungen,
-interaktionen und Verschreibungskaskaden. Durch die geteilte fachärztliche, hausärztliche
und krankenhausärztliche Behandlung und Verordnung ist es sehr schwierig, den Überblick
zu behalten, zumal häufig das Problembewusstsein fehlt ([Tab 1]).
Tab. 1 Medikationsprozess und Risikofaktoren beim geriatrischen Patienten.
Risikofaktor
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Ursache
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exogen
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Informations- und Behandlungsqualität an den Schnittstellen Krankenhaus, Hausarzt,
Heim
mangelnde Koordination
fehlendes Problembewusstsein
unkontrollierte Selbstmedikation
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endogen
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Multimedikation
veränderte Pharmakokinetik/-dynamik
funktionelle Einschränkungen
physiologische Veränderungen
|
Ältere Menschen und geriatrische Patienten sind hinsichtlich einer Verschreibungskaskade
am meisten gefährdet. In dieser Gruppe liegen nun einmal die häufigen Probleme wie
Obstipation, Ödementwicklung, Inkontinenz vor, und es ist schwierig zu differenzieren,
ob es sich hierbei um UAEs handelt [4]. Oftmals fehlt auch das entsprechende Bewusstsein für diese Risikokonstellation.
Aggraviert wird die Situation dann dadurch, dass die Patienten, die im Regelfall nicht
nur einen Arzt aufsuchen, besonders gefährdet sind, weil die Ärzte oft im Unklaren
gelassen werden, welche Medikamente der Patient einnimmt. Es wird nicht dezidiert
nachfragt oder der Patient gibt auf Nachfrage keine klare Auskunft. Substanzen aus
der Arzneimittelgruppe der Antipsychotika, der Benzodiazepine, der Hypnotika, der
Sedativa und der Diuretika haben ein besonders hohes Potenzial für UAEs. Meist zeigen
sich die Ereignisse innerhalb der ersten Wochen nach Therapiebeginn [5].
So wird beispielsweise eine Therapie mit einem nicht-steroidalen Antiphlogistikum
(NSAR) initiiert, und im Laufe der länger andauernden Behandlung kommt es zu einem
Blutdruckanstieg beim Patienten. In der Folge wird die antihypertensive Therapie erhöht
bzw. erweitert, anstelle das NSAR abzusetzen.
Oftmals ist es auch auf den ersten Blick nicht einfach zu erkennen. So ist die Wirkung
von Pregabalin oder Gabapentin bei geriatrischen Patienten in manchen Indikationen
nicht unumstritten, die Substanzen werden dennoch häufig verordnet. Bei herzgesunden
älteren Menschen ist diese Medikation mit dem Risiko eines neu auftretenden Vorhofflimmerns
assoziiert). Die Folge ist dann meist der Beginn einer Verschreibungskaskade mit oraler
Antikoagulation und einer Betablocker-Therapie, die dann im weiteren Verlauf noch
zu weiteren UAEs führen kann [6]. Hier wäre das Absetzen von Pregabalin oder Gabapentin dringend indiziert.
Ein weiteres Beispiel für eine Verschreibungskaskade ist die Cholinesterasehemmer-Anticholinergikum-Kaskade.
Cholinesterasehemmer wie Donepezil, Galantamin oder Rivastigmin werden bei Demenzsymptomen
verordnet. Durch die Wirkung auf das autonome Nervensystem können sie unter anderem
eine Dranginkontinenz fördern [7]. Die Inkontinenz wird in der Folge mit einem Anticholinergikum behandelt, anstatt
die Dosis des Cholinesterasehemmers zu reduzieren oder diesen ganz abzusetzen. Die
nun neu entstandene „Kombinationsbehandlung“ kann zudem noch den erwünschten Effekt
des Cholinesterasehemmers teilweise oder ganz zunichtemachen und somit den Behandlungserfolg
verhindern. Gleichzeitig kann aber eine neu auftretende oder sich verschlechternde
Inkontinenz auch Teil des natürlichen Verlaufs der Demenz sein. Das birgt ein hohes
Risiko für eine Fehlentscheidung im Medikationsprozess, wenn die Harnwegssymptomatik
nicht als Arzneimittelnebenwirkung erkannt wird.
Im Frühjahr 2016 lief in bayerischen Apotheken eine Aufsehen erregende Pseudocustomer-Aktion:
Der „Kunde“ verlangte ein Medikament gegen Reizhusten. Die Aufgabe für die Apotheke
bestand darin, herauszufinden, dass er Ramipril als weiteres Arzneimittel einnahm,
und das in einer, erst vor kurzem, erhöhten Dosis. Wer den Reizhusten als Nebenwirkung
des ACE-Hemmers herausfinden konnte, dem Kunden eine entsprechende Aufklärung und
Beratung anbot und ihn für eine mögliche Änderung der Arzneimitteltherapie zum Arzt
schickte, dem bescheinigte die Bayerische Landesapothekerkammer die maximale Punktzahl.
Wer einen Hustenstiller ohne entsprechende Rückfragen oder ein Beratungsgespräch abgab,
war durchgefallen und erhielt einen belehrenden Brief mit der Aufforderung, eine verbesserte
Beratungsqualität sicherzustellen. Ob das der richtige Lösungsansatz ist, bleibt aber
noch offen.
Unbestritten ist, dass eine gründliche Medikamentenanamnese beim multimorbiden geriatrischen
Patienten unerlässlich ist und neu aufgetretene Beschwerden und Symptome nicht unreflektiert
einer neuen, vermeintlich therapiebedürftigen, Erkrankung zugeordnet werden. Auch
eine bessere Patienteninformation und entsprechende Beratung vor der ärztlichen Verordnung
eines neuen Medikamentes kann durchaus das Risikobewusstsein beim Anwender stärken
und somit die Verschreibungskaskade möglicherweise durchbrechen.