Im Jahr 1973 wurde im renommierten Fachblatt Science vom an der kalifornischen Universität
Stanford arbeitenden Psychologen David Rosenhan (2.11.1929–6.2.2012) eine Studie publiziert,
die zu den weltweit meistzitierten Arbeiten aus dem Fachgebiet der Psychiatrie zählt
und erstens auf das Fach, zweitens auf die in den Kliniken arbeitenden Menschen und
drittens vor allem die von psychischen Krankheiten betroffenen Patienten langfristige
gravierende Auswirkungen hatte. Die Arbeit hatte den Titel „On being sane in insane
places“ („Wie es ist, gesund an ungesunden Orten zu sein“), und deren Inhalt lässt
sich wie folgt kurz zusammenfassen.
Das berühmteste Psychiatrie-Experiment der Welt
Das berühmteste Psychiatrie-Experiment der Welt
3 gesunde Frauen und 5 gesunde Männer stellten sich unter falschem Nachnamen und unter
Angabe falscher sozioökonomischer Daten in 12 psychiatrischen Kliniken vor. Sie berichteten
darüber, Stimmen zu hören, die „leer, hohl und dumpf“ sagten. Sie wurden daher unter
der Diagnose Schizophrenie (eine Person unter manisch-depressive Störung) in der jeweiligen
Klinik aufgenommen, verhielten sich danach jedoch völlig normal. Es dauerte im Mittel
19 Tage (Bereich: 7 bis 52 Tage) bis sie dann wieder – mit der Diagnose Schizophrenie,
in Remission – entlassen wurden. Die vielleicht wichtigste Beobachtung der „Pseudopatienten“
bestand darin, dass sie von den Ärzten und dem Pflegepersonal kaum beachtet wurden,
wie aus der einzigen Tabelle in der Arbeit hervorgeht ([
Tab. 1
]) und beispielhaft in der Studie erläutert wird: Auf die Frage eines Pseudopatienten
„Entschuldigen Sie, Dr. X., können Sie mir sagen, wann ich Ausgang habe?“, reagierte
der Arzt im Vorbeigehen mit „Guten Morgen, Dave, wie geht es Ihnen heute?“ [25 ], d. h. er ging weder auf die Frage ein, noch wandte er sich dem Patienten zu.
Tab. 1
Deutsche Übersetzung (nach Daten aus [25 ], Tab 1, Übersetzung durch den Autor). Reaktionen (in Prozent) auf aktive Versuche
der Kontaktaufnahme durch die Pseudopatienten mit Psychiatern und Pflegepersonal in
psychiatrischen Kliniken im Vergleich zu Kontaktversuchen einer jungen Frau zu Professoren
und Ärzten auf dem Campus der Universität Stanford bzw. am dortigen Universitätsklinikum.
Die Frau stellte jeweils 6 Fragen (die mittlere Anzahl der beantworteten Fragen ist
in der dritten Zeile von unten wiedergegeben).
Ort
Psychiatrische Kliniken
Campus der Universität
Universitätsklinik Ärzte
Versuch der Kontaktaufnahme mit
Psychiater
Pflegepersonal
Professoren
„suche einen Psychiater“
„suche einen Internisten“
keine weitere Kommentierung
läuft weiter und dreht sich weg
71 %
88 %
0 %
0 %
0 %
0 %
Blickkontakt
23 %
10 %
0 %
11 %
0 %
0 %
kurzes Gespräch (pauses and chats)
2 %
2 %
0 %
11 %
0 %
10 %
Gespräch (stops and talks)
4 %
0,5 %
100 %
78 %
100 %
90 %
mittlere Anzahl beantworteter Fragen
[
*
]
[
*
]
6
3,8
4,8
4,5
Anzahl der reagierenden Personen
13
47
14
18
15
10
Anzahl der Kontaktversuche
185
1283
14
18
15
10
* nicht anwendbar
Die Untersuchung war durchgeführt worden, um die grundlegende Frage zu beantworten,
wie man psychische Krankheit von psychischer Gesundheit unterscheiden kann.[
1
] Sie fand vor dem Hintergrund statt, dass in den 1960er- und 1970er-Jahren des letzten
Jahrhunderts die Validität und die Reliabilität psychiatrischer Diagnosen häufig in
Zweifel gezogen wurden. In Rosenhans [25 ] eigenen Worten: „[…] die Verbreitung der Ansicht ist gewachsen, dass die psychologische
Kategorisierung von psychischen Erkrankungen im besten Fall nutzlos und im schlimmsten
Fall geradezu schädlich, irreführend und abwertend ist.“[
2
]
Der Text geht wie folgt weiter: „Psychiatrische Diagnosen sind in dieser Sichtweise
in den Köpfen der Beobachter und stellen keine validen Zusammenfassungen von Merkmalen
der Beobachteten dar.“ Unmittelbar anschließend wird dann das Folgende behauptet:
„Man kann das Problem angehen, indem man normale Menschen in psychiatrische Kliniken
einweisen lässt und dann feststellt, ob und wie sie für gesund befunden wurden.“[
3
] Wenig später im Text liest man dann: „Der vorliegende Artikel beschreibt genau dieses
Experiment. 8 gesunde Leute erhielten eine geheime Einweisung in 12 Kliniken“[
4
] in 5 Bundesstaaten an der West- und Ostküste der USA.
Es lohnt sich, die Einzelheiten des Vorgehens etwas genauer zu betrachten [25 ]: „Nachdem er zur Terminvereinbarung das Krankenhaus angerufen hatte, kam der Pseudopatient
in der Klinikaufnahme und schilderte, dass er Stimmen gehört hatte. Auf die Frage,
was die Stimmen gesagt hätten, antwortete er, dass sie oft undeutlich seien, er aber
Wörter wie ‚leer‘, ‚hohl‘ und ‚dumpf‘ erkannt hätte. […] Abgesehen von den vorgetäuschten
Symptomen und der falschen Angabe von Namen, Beruf und Arbeitsverhältnis wurden keine
zusätzlichen Veränderungen der Person, von deren Lebensgeschichte oder deren Lebensumstände
vorgenommen. Bedeutsame Ereignisse in der Lebensgeschichte des Pseudopatienten wurden
so dargestellt, wie sie sich tatsächlich zugetragen hatten. Die Beziehungen zu Eltern
und Geschwistern, zu Ehepartner und Kindern, zu Menschen am Arbeitsplatz und in der
Schule […] wurden so beschrieben, wie sie waren; Frustrationen und Ärgernisse ebenso
wie Erlebnisse von Glück und Zufriedenheit.“[
5
] Er kommentiert dieses Vorgehen anschließend kurz so: „Diese wahrheitsgemäße Darstellung
der Tatsachen ist von großer Bedeutung, denn sie erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass
die Probanden als gesund kategorisiert werden, da keine ihrer Angaben zur Vorgeschichte
oder ihrer aktuellen Verhaltensweisen in irgendeiner Hinsicht ernsthaft pathologisch
waren“ [25 ].[
6
]
Nach der Aufnahme berichteten die Pseudopatienten nicht mehr über ihre Stimmen und
versuchten, sich normal zu verhalten, mit Ausnahme der Tatsache, dass sie erstens
anfangs (verständlicherweise) nervös und ängstlich waren und zweitens über den gesamten
Verlauf hinweg schriftliche Notizen zum Verhalten von Ärzten und Pflegepersonal machten.
Dies fand – entgegen anfänglicher Befürchtungen – kaum Beachtung. Sie unterhielten
sich mit anderen Patienten, befolgten die Anweisungen des Pflegepersonals und berichteten,
dass es ihnen gut ging, wenn sie gefragt wurden. Stimmen hörten sie nicht, gaben sie
wahrheitsgemäß an. Bei der Aufnahme war, wie allgemein üblich, nicht klar, wann die
Pseudopatienten entlassen werden würden. Dies lag an ihnen, und da alle rasch wieder
raus wollten, waren sie hoch motiviert, alles daran zu setzen und allem zu entsprechen,
was die Entlassung begünstigte. Hierzu bemerkt Rosenhan: „Ihr Verhalten war in keiner
Weise störend, wie die Pflegeberichte bestätigen, die bei den meisten Patienten eingeholt
wurden. Diese Berichte ergaben immer wieder, dass die Patienten, freundlich‘ und,
kooperativ‘ waren und, keine abnormalen Anzeichen‘ vorlagen“ [25 ].[
7
]
Neben den Daten in [
Tab. 1
] gibt die Studie empirisch nicht viel her: Es wurde noch während der ersten 3 von
12 Hospitalisierungen gefunden, dass 35 von 118 Mitpatienten die Pseudopatienten als
gesund erkannt hatten, wofür als Beispiel die folgende Bemerkung eines Mitpatienten
zu einem Pseudopatienten angeführt wird: „Sie sind nicht verrückt. Sie sind Journalist
oder Professor (bezieht sich dabei auf das ständige Aufschreiben von Notizen). Sie
überprüfen das Krankenhaus“ [25 ].[
8
] Weiterhin wurde in 4 Krankenhäusern, in denen das Personal in einem Glaskasten auf
den Stationen arbeitete, gemessen, wie lange und wie oft Patientenkontakt stattfand:
Das Pflegepersonal verbrachte 11,3 % (Bereich: 3 % bis 52 %) der Arbeitszeit außerhalb
des Glaskastens (also entweder mit den Patienten oder mit dem Aufräumen von Wäsche
oder anderen Aktivitäten). Pro Schicht kamen die Pflegekräfte im Mittel 11,5-mal (Bereich:
4- bis 39-mal) aus dem Glaskasten (einschließlich der Gelegenheiten, wo sie die Station
ganz verließen). Die Ärzte kamen im Mittel 6,7-mal pro Tag aus dem Glaskasten (Bereich:
1- bis 17-mal). Drittens wird noch über eine weitere Statistik berichtet: „Der durchschnittliche
tägliche Kontakt mit Psychiatern, Psychologen, Assistenzärzten und Ärzten lag zwischen
3,9 und 25,1 Minuten, mit einem Gesamtmittelwert von 6,8 Minuten (6 Pseudopatienten
mit 129 Tagen Krankenhausaufenthalt)“ [25 ].[
9
] Bemerkenswert ist schließlich noch, dass den Pseudopatienten fast 2100 Tabletten
ausgehändigt worden waren, die sie mit 2 Ausnahmen alle entweder in ihren Taschen
oder unter der Zunge versteckt hatten, um sie kurze Zeit später in der Toilette zu
entsorgen (wie viele der anderen, wirklichen Patienten auch, wie man von Rosenhan
erfährt).
Der überwiegende Teil des Textes beschäftigt sich nicht mit Daten[
10
], sondern mit einer Fundamentalkritik der Institution „Psychiatrisches Krankenhaus“,
die es abzuschaffen gelte, da sie zu Gefühlen der Machtlosigkeit und Depersonalisation
sowie zur sehr schädlichen (und nicht zu korrigierenden) Etikettierung von Patienten
und damit nicht zu deren Gesundung beitrage. Eigentlich gesunde Menschen würden erst
durch die Etikettierung mittels einer nicht validen Diagnose zu psychisch Kranken
gemacht, die dann durch ein grausames und unmenschliches System nur noch verwaltet
würden.
Der Betroffene (M. Spitzer)
Der Betroffene (M. Spitzer)
10 Jahre später begann ich im Herbst 1983 meine psychiatrische Weiterbildung als Assistenzarzt
an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Freiburg. Schon davor hatte ich während
der höheren Semester meines Psychologie-Studiums (von 1978 bis 1984) den „Labeling-Ansatz“
(„Labeling approach“) kennen gelernt und Arbeiten von Sarbin und Mancuso, Goffman
und nicht zuletzt auch die von Rosenhan gelesen. Wie bis heute üblich, begann ich
meine Assistenzarztzeit in der Psychiatrie auf einer Akutstation, wo man sehr viele
sehr kranke Menschen sieht. Dennoch ließ mich der Etikettierungsansatz nicht los,
denn ich konnte nach entsprechenden Erfahrungen (die man in der Psychologie als Student
oder Professor einfach nicht hat) nicht glauben, wie ein solcher Unsinn Eingang in
den wissenschaftlichen Diskurs hatte finden können. Meine Patienten waren definitiv
wirklich krank, egal ob ich die Krankheit „Hitzliputzli“ oder „Schizophrenie“ (Bewusstseinsspaltung)
nennen würde, und ihr Befinden wurde durch den Aufenthalt in der Klinik meistens tatsächlich
gebessert, auch wenn wir noch praktisch nichts darüber wussten, wie und warum unsere
Behandlung wirkte. Entscheidend war (wie in der gesamten Medizin immer), dass sie
wirkte.
Die von Rosenhan in den US-Kliniken beschriebenen Zustände konnte ich zunächst ebenfalls
nicht glauben (ich lernte erst später während meiner Forschungsaufenthalte in den
USA, dass sie wahrscheinlich nicht sehr übertrieben dargestellt worden waren[
11
]). In der Freiburger Klinik jedenfalls war man um Menschlichkeit und Empathie sehr
bemüht; der Chef hatte die Einheitskleidung („Sträflingsanzüge“) für Patienten schon
lange abgeschafft. Das Pflegepersonal, die Kotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeiter
und Ärzte gaben sich große Mühe. Aus meiner heutigen Sicht kann man dies daran ermessen,
dass die damals herrschenden „Schulenstreitereien“ (zwischen Psychoanalytikern und
Verhaltenstherapeuten, Psychologen und biologisch orientierten Psychiatern, Psychopharmakologen
und Sozialpsychiatern) bei Besprechungen über einzelne Patienten immer wieder aufflackerten:
Man nahm das ernst und wollte es wirklich wissen. Um konkrete „Lösungen“ für den jeweiligen
Fall wurde hart gerungen, die grundlegenden Unterschiede im Denkansatz der Beteiligten
blieben jedoch bestehen. Immerhin war man aber meist höflich genug, um dem anderen
wenigstens zuzuhören. Mir persönlich wurde als „blutiger Anfänger“ in dieser noch
recht jungen Lebensphase (25 bis 30 Jahre) klar, dass mein Fachgebiet erstens unglaublich
spannend ist und daher zweitens viele Änderungen und Umbrüche in den nächsten Jahren
und Jahrzehnten zu erwarten sind.
Der Wahrheitssucher (R. Spitzer)
Der Wahrheitssucher (R. Spitzer)
Ich war froh, als ich einen Aufsatz meines Namensvetters Robert Spitzer (22.5.1932–25.12.2015)[
12
] in den Archives of General Psychiatry fand [35 ], in dem er sehr klar und deutlich zu Rosenhan Stellung bezog: Wenn ein Patient in
eine orthopädische Klinik geht und über Rückenschmerzen klagt, dann würde man bei
ihm eine Lumbago (zu Deutsch: „Rückenschmerzen“) diagnostizieren, und wenn man dann
nichts weiter findet und er seine Schmerzen nicht mehr hat, würde man ihn mit der
Diagnose „Lumbago, remittiert“ entlassen. – Egal, ob er gelogen hat oder nicht. Was
folgt daraus für die Validität orthopädischer Diagnosen? – Nichts! Später las ich
seine ein Jahr früher publizierte erste, sehr beißende Kritik an Rosenhan: „Entsprechend
der Entlassung seiner Pseudopatienten unter der Diagnose, Schizophrenie in Remission’,
führt eine sorgfältige Untersuchung der Methoden, Ergebnisse und Schlussfolgerungen
dieser Studie zur Diagnose, Logik in Remission’. […] Als Professor für Rechtswissenschaft
und Psychologie weiß Rosenhan, dass die Begriffe, gesund’ (sane) und ‚geisteskrank’
(insane) juristische und nicht psychiatrische Begriffe sind. Er weiß, dass kein Psychiater
die Diagnose, geistige Gesundheit’ oder, Geisteskrankheit’ stellt und dass die wahre
Bedeutung dieser Begriffe, die von Bundesstaat zu Bundesstaat unterschiedlich ist,
sich auf die Unfähigkeit eines Menschen bezieht, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden
– ein Thema, das für diese Studie völlig irrelevant ist“ [34 ].[
13
] Aufgrund ihrer logischen Klarheit ist die kritische Auseinandersetzung von Spitzer
mit Rosenhan sehr lesenswert. Aus meiner Sicht sollten beide Arbeiten hierzu [34 ], [35 ], wie auch die Arbeit von Rosenhan selbst und das Buch von Cahalan) zur Pflichtlektüre
während der Ausbildung zum Psychiater gehören. Als damaliger Psychiatrie-Anfänger
habe ich sehr viel von deren Lektüre profitiert. „Dieser Robert Spitzer ist ein großartiger
Psychiater, ein Detektiv, der mit klarem Kopf die Wahrheit aufklärt wie Sherlock Holmes“
– dachte ich damals.
Das DSM-III
Etwa zur gleichen Zeit schwappte aus den USA ein völlig neuer Ansatz für psychiatrische
Diagnosen nach Deutschland: Das DSM-III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental
Disorders) war 1980 in den USA erschienen und kam in deutscher Übersetzung 1984 heraus.
Das dicke Buch kostete 144 Deutsche Mark und war für eine Weile das teuerste Buch
in meinem Bücherregal. Bei diesem neuen Leitfaden psychischer Störungen handelte es
sich um die dritte Auflage eines seit 1952 in den USA verwendeten Klassifikationssystems
für Erkrankungen im Bereich der Psychiatrie ([
Tab. 2
]).
Tab. 2
Übersicht zur Geschichte des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
(DSM) der US-amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (American Psychiatric Association,
abgekürzt APA1). Die Daten hierzu finden sich über viele Quellen verstreut, wobei
diese oft nicht übereinstimmen. Die hier abgedruckten Daten wurden den beiden Einträgen
zum DSM in der deutschen und amerikanischen Wikipedia entnommen.
Version
Erscheinungsjahr (USA)
Seitenzahl
Anzahl der Diagnosen
Erscheinungsjahr deutsche Übersetzung
DSM-I
1952
130
106
-
DSM-II
1968
134
182
-
DSM-III
1980
494
265
1984
DSM-IIIR[
*
]
1987
567
292
1989
DSM-IV
1994
886
410
1996
DSM-IVTR[
**
]
2000
943
410
2003
DSM-5[
***
]
2013
947
374
2015
* Revision
** Text Revision
*** man stieg auf arabische Zahlen um, damit – analog zu Computersoftware – künftig
kleinere Updates z. B. als „Version 5.1“ und größere als „Version 6.0“ bezeichnet
werden können.
Was als Heftchen mit Ringbindung (eine Reaktion auf die desolate Situation der Psychiatrie
und die vielen psychisch kranken ehemaligen Soldaten nach dem zweiten Weltkrieg) begann
(DSM-I mit 106 Diagnosen auf 130 Seiten), wurde als nahezu wörtliche Abschrift der
ICD-8 (des damaligen Klassifikationssystems der Weltgesundheitsorganisation WHO) mit
psychoanalytischen Begleittexten 1968 in zweiter Auflage weitergeführt (DSM-II mit
182 Diagnosen auf 134 Seiten). In deren 6. Auflage aus dem Jahr 1974 wurde Homosexualität
als psychiatrische Diagnose nicht mehr aufgeführt. Auch diese 2. Auflage des DSM fand
kaum Interesse, weder bei Wissenschaftlern noch bei Klinikern, worauf der Begründer
und wesentliche Motor der 3. Auflage, mein Namensvetter Robert Spitzer, beispielsweise
mit folgender Anekdote hinwies [36 ]. Der bekannte Psychoanalytiker Dr. Irving Bieber wurde im Jahr 1973 – im gleichen
Jahr war auch Rosenhans Studie erschienen – gefragt: „Hast du die schrecklichen Neuigkeiten
gehört? Sie nehmen Homosexualität aus den künftigen Nachdrucken des DSM-II heraus“,
Seine Antwort: „Was ist DSM-II?“
Das DSM-III war für einige Zeit meine wichtigste Lektüre und begeisterte mich zunächst
sehr. Kein anderer als Robert Spitzer hatte die Herkulesaufgabe auf sich genommen,
einmal klar zu sagen, was eine psychische Störung ist, und dann ebenso klar zu sagen,
was genau bei einer bestimmten Störung an ganz bestimmten Symptomen, d. h. erfragbaren
Erlebnissen und beobachtbaren Verhaltensweisen, vorliegen muss, damit die betreffende
psychische Störung diagnostiziert werden kann. Man sprach von „diagnostischen Kriterien“
oder „Diagnosekriterien“, und obgleich sie oft nur das klar auszusprechen schienen,
was man ohnehin im Kopfe hatte, wenn man die entsprechenden Diagnosen stellte, empfand
ich das Ganze als einen sehr befreienden Segen. Denn plötzlich schien klar, worüber
man redete, und jeder konnte nachlesen, was man meinte.
So kann ich mich beispielsweise noch gut erinnern, wie ich als Anfänger die Diagnose
von Persönlichkeitsstörungen nicht mochte: Da wurde über „tiefe Strukturen und deren
Schäden“, „frühe“ Störungen, „schwere Verwerfungen“ oder „dysfunktionale Beziehungsgestaltungsmuster“
geredet und mein Eindruck war, dass jeder sagen durfte, was er wollte, wenn man Professor
war oder „klinisch sehr erfahren“. Ich war damals weder das eine noch das andere.
Aber ich war froh, dass es im DSM-III Kriterien für „Achse-II-Diagnosen“[
14
] gab, die bei genauer Kenntnis des einzelnen Patienten, dessen Lebensgeschichte und
dessen Erfahrungen, fast so einfach zu stellen waren wie die einer Schizophrenie,
Depression oder Alkoholsucht. Angeregt durch die in den Archives publizierten Arbeiten
von Spitzer und Mitarbeitern [37 ] über die Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie von Widiger und Mitarbeitern [39 ] über die Reliabilität der DSM-III-Diagnosen entwarf ich sogar einen Fragebogen,
der die DSM-III-Kriterien für alle Persönlichkeitsstörungen in zufälliger (sprich:
durcheinandergewürfelter) Reihenfolge enthielt und Auswerteschablonen (aus Pappe),
um dann anhand der Angaben des Patienten – und ohne jegliche Hermeneutik (d. h. Vorannahmen
und damit mögliche Halo-Effekte) – Persönlichkeitsstörungen untersuchen zu können.[
15
] Der Versuch scheiterte, was mich nicht daran hinderte, mich weiter mit den Grundlagen
meines Fachs, der Psychopathologie, zu beschäftigen.
Robert Spitzer hatte mit Blick auf die Diagnosekriterien des DSM-III allgemein und
die Diagnose der Schizophrenie im Besonderen damals immer wieder geäußert: „Ich weiß
nicht, was Schizophrenie ist“ und wandelte damit auf den Spuren der deutschen Psychopathologie
von Karl Jaspers und Kurz Schneider: Das Motto von Jaspers war: „Es sollte klar werden,
was man weiß, wie man es weiß und was man nicht weiß“; und Kurt Schneider ist für
seinen Ausspruch bekannt, dass dann, wenn Erstrangsymptome vorliegen, er „in aller
Bescheidenheit von Schizophrenie“ spreche. Spitzer bezog sich in seinen Schriften
auf Schneiders Erstrangsymptome, war sich also über diese Tradition seines Tuns im
Klaren. Er konnte damals allerdings nicht wissen, dass sein Optimismus nicht ganz
so berechtigt war, wie er bei Kurt Schneider lesen konnte.
Übersetzungsfehler mit Folgen
Übersetzungsfehler mit Folgen
Dies liegt an folgendem Umstand: Als es mich in den Jahren 1989/90 aufgrund eines
Chefwechsels in Freiburg und einer Reihe glücklicher Umstände an die Harvard Universität
verschlug, lehrte ich dort Psychopathologie. Dies brachte die Aufgabe mit sich, für
die Lektüre im Seminar englische Übersetzungen der deutschen Texte aufzuspüren und
zu besorgen, was sich als schwieriger herausstellte als gedacht. Die englische Version
der Allgemeinen Psychopathologie von Karl Jaspers konnte ich zwar käuflich erwerben,
sie war jedoch aufgrund einer miserablen Übersetzung völlig unbrauchbar [32 ]. Und an der berühmten Widener Library auf dem Campus (eine der größten Bibliotheken
der Welt) konnte man zwar meine im Jahr 1985 als Buch erschienene philosophische Dissertation
(was mich sehr erstaunte) ausleihen, wie sich herausstellte, gab es jedoch die englische
Übersetzung von Kurt Schneiders Büchlein „Klinische Psychopathologie“ aus dem Jahr
1959, die im gleichen Jahr in englischer Übersetzung erschienen war, im gesamten Großraum
von Boston (mit seinen damals 32 Universitäten) nicht. Eine Studentin, deren Mutter
an der US Library of Congress arbeitete (die damals größte Bibliothek der Welt) konnte
mir das Buch schließlich per Fernleihe besorgen. Dort fand ich einen offenbar folgenschweren
Übersetzungsfehler: Aus „Bescheidenheit“ wurde in der englischen Übersetzung „Entschiedenheit“
[32 ].[
16
] Verschwunden war in der englischen Übersetzung die methodisch reflektierte Bescheidenheit.
Sie wurde ersetzt durch „Entschiedenheit“, was also „modesty“ hätte lauten sollen,
wurde zu „decisiveness“. Über den Grund dieses Fehlers kann man nur Vermutungen anstellen;
ich gehe davon aus, dass der Gleichklang von Bescheidenheit und Entschiedenheit eine
Rolle spielte.
Man könnte dies als harmlosen Übersetzungsfehler abtun, hätte er nicht so unglaublich
gut in die amerikanische Psychiatrielandschaft gepasst: Ausgehend von dem Bleulerschen
Krankheitsbegriff mit seinen eher vage definierten Grundsymptomen – im Englischen
meistens „unter the classic 4 A“ bekannt: Gestörte Assoziation, gestörter Affekt,
Ambivalenz (gestörter Wille) und Autismus (gestörtes Sozialverhalten) – herrschte
in den USA ein sehr breiter Schizophreniebegriff, was dazu geführt hatte, dass die
Diagnose Schizophrenie damals die mit Abstand häufigste psychiatrische Diagnose war.
Entstanden durch eine Vermischung des Bleulerschen Konzepts mit psychoanalytischer
Terminologie, was definitiv nicht zur Klarheit beigetragen hatte, führte dies in der
Psychiatrie in den USA zu dem unhaltbaren Zustand, dass der größte Teil der Patienten
(nach Daten aus New York etwa 85 % aller Aufnahmen) nicht nur die gleiche Diagnose
erhielt, sondern zudem eine Diagnose erhielten, die äußerst vage definiert war. In
dieser Situation musste die „Entschiedenheit“ Kurt Schneiders vielen wie ein Segen
vorkommen: Hier war jemand, der klar und eindeutig ohne psychodynamische Schnörkel
oder Soziologenkauderwelsch sagte, wie man eine Schizophrenie diagnostiziert. Man
stellt bestimmte Symptome fest und wenn diese vorliegen, dann stellt man die Diagnose.
Mit Entschiedenheit! Das musste den pragmatischen Amerikanern einfach gefallen!
So wundert es nicht, dass gerade in diesem Land der einfachen und schnellen Lösungen
Kurt Schneider immer bekannter und beliebter wurde (Klerman et al. 1984. Als dann
noch Anfang der 70er Jahre die Peinlichkeit ans Licht kam, dass die britischen Kollegen
mit dem Begriff der Schizophrenie weitaus vorsichtiger umgingen als die Amerikaner
[17 ], war für jedermann klar ersichtlich, dass hier Abhilfe geschaffen werden musste.
In den Jahren danach wurden daher die Research Diagnostic Criteria (RDC) entwickelt
[33 ], auf denen letztlich die 1980 publizierten Kriterien im DSM-III basierten.
In den USA wird die Schizophrenie bis heute mit Bezug auf Kurt Schneiders Erstrangsymptome
diagnostiziert, – allerdings ohne die europäische bzw. deutsche Bescheidenheit. Das
DSM-III wurde mit Pauken und Trompeten angekündigt und durch massives Marketing seitens
der American Psychiatric Organisation (APA) in alle Welt vertrieben. Hatte man früher
naiverweise immer geglaubt, Wissenschaft würde dadurch fortschreiten, dass sich (zumindest
mittel- bis langfristig) die Wahrheit durchsetzt, so wurde man von den amerikanische
Psychiatern eines Besseren belehrt: Über diagnostische Kategorien wurde per Handzeichen
von selbsternannten Experten abgestimmt und danach wurden diese weltweit sozusagen
„verordnet“. Wer sich nicht daran hielt, der hatte Pech: Er konnte seine Arbeit in
angesehenen Zeitschriften nicht publizieren oder wurde zumindest versuchsweise daran
gehindert.[
17
]
Brendan Maher und Martha Mitchell
Brendan Maher und Martha Mitchell
Während meiner Aufenthalte an der Harvard-Universität war Brendan Maher mein Mentor
([
Abb. 1
]). Er war Lehrstuhlinhaber für klinische Psychologie mit Spezialgebiet experimentelle
Psychopathologie und wurde nicht nur mein Mentor, sondern auch einer meiner besten
Freunde.
Abb. 1 Brendan A. Maher (31.10.1924–17.3.2009) war seit seiner Zeit bei der Royal Navy ein
begeisterter Segler. Er wurde als Sohn irischer Eltern in England geboren, arbeitete
als Minensucher und wurde nach dem Krieg bei einem Unfall bei der Vernichtung von
Minen im Hafen von Rotterdam schwer verletzt. Er ging in die USA und promovierte bei
dem bekannten Persönlichkeitspsychologen George Kelly im Jahr 1954. Mit seiner Monografie
„Principles of Psychopathology: An Experimental Approach“ begründete die experimentelle
Psychopathologie und machte sie weithin bekannt [12 ], [13 ]. Im Jahr 1960 ging er als „Lecturer“ an die Harvard University, wo er nach 8 Jahren
Aufenthalt an anderen Universitäten im Jahr 1972 Professor für Psychologie wurde.
Das Foto entstand während einem der 4 Aufenthalte meiner ganzen Familie auf „seiner“
Insel, auf der außer seinem 200 Jahre alten Ferienhaus kein weiteres Haus stand. (Quelle:
© Autor)
Brendan arbeitete schon wesentlich länger als ich über Wahn und hatte großes Verständnis
für Missverständnisse zwischen Patienten und Ärzten. Er gab dem Phänomen, dass Patienten
zuweilen für krank erklärt werden, indem faktische Angaben und vernünftig dargebrachte
Meinungen als Wahneinfälle gedeutet werden, den Namen Martha-Mitchell-Effekt [22 ], [23 ]. Der Ehemann von Martha Mitchell, John Mitchell, Mitarbeiter im Team von US-Präsident
Richard Nixon, vor dessen Wiederwahl im November 1972, wurde während des Wahlkampfes
am 7. Juni 1972 für einen Einbruch verantwortlich gemacht, der von 5 Männern im Wahlkampfbüro
der gegnerischen Demokraten durchgeführt wurde, das in Washington im Watergate-Gebäudekomplex
lag ([
Abb. 2
]). Hierbei sollten Abhöranlagen installiert und Dokumente fotografiert werden. Seine
Frau rief daraufhin mehrfach Journalisten an, um auf Ungereimtheiten im Weißen Haus
hinzuweisen. Sie ging von einer Verschwörung aus, an welcher der US-Präsident beteiligt
sei und zu deren Vertuschung ihr Mann als Sündenbock herhalten solle. Sie wurde am
Abend des Einbruchs, an dem sie in einem Hotel in Kalifornien war, vom damaligen Ex-FBI-Agenten
und Präsidentenmitarbeiter Stephen King als „politische Gefangene“ in ihrem Hotel
festgesetzt, von der Außenwelt isoliert und betäubt. Man glaubte ihr zunächst nicht
und erklärte sie für verrückt. Wie sich im Laufe des Watergate-Skandals[
18
] jedoch herausstellte, hatte sie die Wahrheit gesagt [3 ], selbst im Hinblick auf ihre kurzfristige Festsetzung mit Waffengewalt und Betäubung
durch einen Arzt, wie erst Jahre später öffentlich wurde [38 ]. Herr King ist seit 2017 US-Botschafter in Tschechien.
Abb. 2 Martha und John Mitchell am 11.5.1973 bei der Vereidigung ihres Mannes John als Außenminister
der Nixon-Regierung vor dem US-Senat (Quelle: Keystone Press / Alamy Stock Foto).
Irgendwann bei einem der vielen gemeinsamen Gesprächen beim Kaffee erwähnte ich Brendan
Maher gegenüber die damals bereits 16 Jahre alte Studie und staunte nicht schlecht
über seine Reaktion, die etwa wie folgt lautete: „Oh, Rosenhan – diese Studie hat
höchst wahrscheinlich nie stattgefunden. Wir haben das damals heftig diskutiert, hatten
ihn zum Vortrag hier[
19
], haben nachgefragt, wer die Mitarbeiter waren, die sich in eine psychiatrische Klinik
begeben hatten. Er hielt sich damals sehr bedeckt und verwies auf ein Buch, an dem
er gerade arbeitete und das alle Details enthielte. Ein solches Buch wurde jedoch
nie publiziert, und auch sonst hat er nichts mehr in dieser Richtung getan oder publiziert.
Wenn Du mich fragst: Das Ganze ist eine große Lüge.“
Susannah Cahalan: The Great Pretender
Susannah Cahalan: The Great Pretender
Ich hatte damals einerseits keinen Grund, an Brendans Aussagen über die Rosenhan-Studie
zu zweifeln, sprach aber dennoch kaum weiter darüber, und so verblasste das Ganze
in meiner Erinnerung. Bis zur Lektüre eines Book-Reviews, der am 31.10.2019 im Fachblatt
Nature publiziert worden war [1 ]. Dort ging es um ein neues Buch der Journalistin Susannah Cahalan mit dem (von der
Pop-Gruppe Queen kopierten) Titel „The Great Pretender“.
Thema des gesamten Buchs ist das Experiment von David Rosenhan. Die Autorin litt vor
mehr als 10 Jahren an einer Anti-NMDA-Rezeptor Autoimmunenzephalitis, die zunächst
als paranoide Schizophrenie verkannt und entsprechend behandelt wurde. Über ihre Erfahrungen
schrieb sie ihr erstes Buch mit dem Titel „Brain on Fire“ [4 ], [24 ]. In einem Gespräch mit Psychiatern erfuhr sie nach der Veröffentlichung ihres Buchs
im November 2012 beiläufig von Rosenhans Studie und wollte mehr darüber erfahren.
Rosenhan war 9 Monate zuvor verstorben, und so recherchierte Cahalan in den darauffolgenden
6 Jahren mit hoher Intensität und sehr viel Ausdauer. Aus meiner Sicht hat sich ihre
Arbeit gelohnt. Das Buch ist nicht zuletzt wegen seines Detailreichtums für alle an
Psychiatriegeschichte Interessierte ein Muss und liest sich dazu so spannend wie irgendeine
Fiction-Novel von Dan Brown.
Cahalan machte als erstes einen langjährigen Kollegen und Freund von Rosenhan, den
Sozialpsychologen Lee Ross, ausfindig. Der übergab ihr nach anfänglichem Zögern den
„Nachlass“ von Rosenhan, ein paar Kartons mit Papier. Das Wichtigste, was Cahalan
darin fand, waren 8 Kapitel (mehr als 100 Seiten) des Buchs, das nie publiziert worden
war. Aber es gab noch mehr: Handschriftliche Aufzeichnungen Rosenhans aus Patientensicht
über einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik und eine Krankenakte über den
Aufenthalt eines Patienten David Lurie in der Psychiatrie im Jahr 1969, bei dem es
sich, wie ein Abgleich der Notizen und der Akte zeigte, um die gleiche Person, nämlich
Rosenhan selbst, handelte. David Lurie war zugleich der erste im Science-Paper von
Rosenhan diskutierte „Pseudopatient“. Drittens gab es Notizen zu weiteren Psychiatrie-Erfahrungen
anderer, viertens Hinweise, die Cahalan zu Rosenhans Sohn Jack und seiner langjährigen
Bekannten, der klinischen Psychologin Florence Keller führten, sowie fünftens – man
glaubt es kaum – Korrespondenz zwischen Rosenhan und Robert Spitzer – den Erzfeinden.
Fassen wir zusammen, was auf den 300 Seiten des Buchs von Cahalan ausführlich beschrieben
und penibelst dokumentiert ist: Im Jahr 1969 lehrte Rosenhan noch am Swartmore College
in Bundesstaat Pennsylvania an der Ostküste der USA Psychologie. Seine Studenten fanden
seinen Unterricht zu theoretisch, beschwerten sich und fragten nach Praktika in der
Psychiatrie, um klinische Praxis zu gewinnen. Rosenhan schlug ihnen daraufhin vor,
nicht als Praktikanten, sondern als Patienten in die Kliniken zu gehen, um einen wirklichen
und direkten Eindruck von psychischer Krankheit zu erhalten. Er machte sich dann jedoch
zunehmend Sorgen[
20
], ob dies gutgehen könne, und ging daher zunächst selbst für 9 Tage in eine nahegelegene
psychiatrische Klinik, das Haverford State Hospital, auch „Haverford Hilton“ genannt,
weil es 7 Jahre zuvor erst neu gebaut worden war und daher im Vergleich zu anderen
großen staatlichen Kliniken moderner, luftiger und vor allem heller war. Wie damals
in den USA offenbar üblich, musste er (zusammen mit seiner Frau Mollie) zustimmen,
dass er zunächst für unbestimmte Zeit auf eine geschlossene Station aufgenommen wurde.
Um sicherzustellen, dass er wirklich aufgenommen werden würde, hatte Rosenhan seine
ältesten Klamotten und alte dreckige Schuhe angezogen. Zudem schilderte er nicht nur
das Hören von Stimmen, sondern auch, dass er „sensibel für Radiosignale sei und die
Gedanken anderer Menschen hören“ könne, und dass er dies schon dadurch versucht hatte
zu bekämpfen, indem er „Kupfer über seine Ohren“ gestülpte hatte (die wörtlichen Zitate
entstammen wörtlichen Zitaten dessen, was Rosenhan damals gesagt hatte, dokumentiert
durch den Aufnahmearzt, Dr. Bartlett, und sind dem Facsimile des Aufnahmebefundes
vom 6. Februar 1969 entnommen; [7 ]). Auch einer der behandelnden Ätzte, Dr. Browning, notierte, dass der Patient „einen
Kupfertopf vor sein Ohr gehalten“ habe, um die von ihm empfangenen Signale zu blockieren
[7 ].
Zudem gab er Suizidgedanken an und machte zur Vorgeschichte Angaben, die einen bereits
längeren Krankheitsverlauf nahelegten. Dies führte zur Aufnahme unter falschem Namen
(David Lurie) und der Diagnose „Schizophrenie, schizoaffektiver Subtyp“, wie aus der
Krankenakte der Klinik über Rosenhans Aufenthalt hervorgeht. Sein Arzt, Dr. Bartlett,
hatte nicht auf einem stationären Aufenthalt bestanden, da Rosenhan jedoch stationär
aufgenommen werden wollte, bestand Bartlett auf der Aufnahme auf der Geschlossenen,
wobei er die sehr beunruhigte Ehefrau mit den Worten zu beruhigen versuchte: „Insulin-
und Elektroschocks oder andere ähnliche Therapien wenden wir nur nach Rücksprache
mit den Angehörigen an“ [7 ]. Mollie dürfte das kaum beruhigt haben. Bartlett war nicht der kalte, distanzierte
Psychiater, der sich nicht um die ihm anvertrauten Personen kümmerte (wie von Rosenhan
implizit behauptet), sondern das genaue Gegenteil: Nicht zuletzt aufgrund einer schweren
Depression, die bei seiner Frau nach Geburt des ersten gemeinsamen Kindes auftrat
und zeitlebens fortbestand, war er Advokat der psychisch Kranken, der sich auch noch
nach seiner Berentung ehrenamtlich für sie einsetzte.
Auf 23 Seiten beschreibt Cahalan Rosenhans Psychiatrie-Aufenthalt in Kapitel 10 ihres
Buchs („Nine days inside a madhouse“) sehr detailreich. Er muss sich miserabel gefühlt
haben, schrieb er doch schon am zweiten Tag seines Aufenthaltes über Thomas Szaz,
den vielleicht prominentesten Vertreter der Antipsychiatrie: „Tomas Szaz liegt falsch.
Sie [die Patienten] sind wirklich von mir verschieden“ [7 ].[
21
] An diesem Tag wurde auch seine Diagnose in den „Subtyp: residual“ geändert. „Die
Finanzbuchhaltung hat offensichtlich die Leitung der Küche übernommen,“ trägt er am
vierten Tag ein. Am fünften Tag findet sich der Rat eines Patienten: „Sag’ nicht,
dass es Dir gut geht. Sie werden es Dir nicht glauben. Sage, dass Du noch immer krank
bist, aber dass es dir schon besser geht. Das nennt man Einsicht, und sie werden Dich
entlassen“.
Er schrieb viel, und so wurde er gefragt: „Was schreiben Sie?“ – „Ein Buch.“ – „Warum
schreiben Sie so viel?“. Ein anderer Patient fragte ihn direkt: „Sind Sie ein verdeckter
Journalist?“. Am Tag 8 erhielt er tagsüber Probeurlaub nach Hause und am Tag danach
wurde er entlassen. Seine Forschungsassistentin Bea Patterson erzählte Cahalan, dass
sie „ziemlich schockiert“ war, als sie ihn direkt danach sah. „Diejenigen Studenten
in seinem Seminar über klinische Psychologie, die ich interviewen konnte, berichteten
mir, dass sich seine Stimmung nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus verdunkelt hatte.
Er wirkte erniedrigt. Ein Student erinnerte sich daran, dass er gestresst, ausgelaugt
und älter aussah als zuvor. Die Studenten wollten mehr von ihm erfahren, aber er weigerte
sich, darüber zu sprechen. Eines war nun klar. Sie würden das Experiment nicht weiterführen.
Es war vorüber. Erledigt“.
Zwei Pseudopatienten
Irgendwie schien es irgendwann aber doch weitergegangen zu sein. Denn von den übrigen
7 Pseudopatienten konnte Cahalan durch wahrhafte Detektivarbeit 2 identifizieren und
kontaktieren, Rosenhans Graduate-Student und für einige Jahre späteren Mitarbeiter
Wilburn (Bill) Underwood, Ph.D., sowie Harry Landow. Underwood hatte ganz offensichtlich
eine schreckliche Zeit im Great Asylum for the Insane (später umbenannt in Agnes Landesklinik),
eine mit bis zu 4500 Patienten stark überfüllte und personell zugleich unterbesetzte
alte heruntergekommene Psychiatrie. Nach seiner Aufnahme (Diagnose: paranoide Schizophrenie)
kam Bill in einen Saal mit 20 anderen männlichen Patienten auf einer der Akutstationen.
Etwa eine Stunde bevor seine Frau Maryon ihn das erste Mal besuchte, nahm er versehentlich
seine Medikamente ein und war danach müde, abwesend und ihm war alles egal. Seine
Frau war entsetzt. Nach nur 2 Tagen auf der Akutstation wurde Bill auf eine (halb-)offene
Station verlegt, wo es mehr Platz, Sitzgelegenheiten und Ausgang im Freien gab (den
Zaun hätte man überspringen können). Nach 9 Tagen wurde Bill entlassen, ohne Diagnose.
Angesichts der damals am Agnes-Krankenhaus üblichen Liegezeiten von 130 Tagen war
das ein sehr kurzer Aufenthalt. In den Jahren nach seinem Psychiatrie-Aufenthalt hielt
er Vorträge darüber, „gab sich aber Mühe, seinem Chef nie die Show zu stehlen“. Die
Diskussion des Pseudopatienten Bill ergab folgende neue Erkenntnisse.
Bei Entlassung gab es nicht „in allen Fällen“ eine Diagnose „Schizophrenie, in Remission“,
wie Rosenhan im Science-Paper behauptet.
In Anmerkung 8 der Arbeit von Rosenhan steht jedoch Folgendes: „[…] a writ of habeas
corpus was prepared for each of the pseudopatients and an attorney was kept ‘on call’
during every hospitalization“. Für Bill gab es jedoch definitiv keine „Habeas Corpus
Akte“ und einen „Rechtsanwalt in Rufbereitschaft“, wenn etwas schief gegangen wäre,
gab es zu keinem Zeitpunkt. Dies ergaben Cahalans Recherchen bei den entsprechenden
Stellen.
Als Bills Frau zu Besuch kam und ihren Mann intoxikiert vorfand, war Rosenhan schon
da (und sie sehr überrascht darüber). Das passt gar nicht zur Darstellung im Science-Paper,
dass die Pseudopatienten während ihres Aufenthaltes auf sich gestellt gewesen seien.
Rosenhans Behauptung, er sage nichts über seine Pseudopatienten, um ihre Anonymität
zu wahren, passt nicht dazu, dass er seinen Mitarbeiter Bill Underwood über Jahre
hinweg Vorträge über dessen Erfahrungen halten ließ.
Der zweite Pseudopatient, den Cahalan auftreiben und interviewen konnte, war Harry
Lando. Der hatte im Jahr 1976 im Fachblatt Professional Psychology seine Sicht der
Dinge in einer Arbeit mit dem Titel „On being Sane in Insane Places: A Supplementary
Report“ beschrieben: Sein Erlebnisbericht beginnt mit dem Satz: „Ich war der neunte
Pseudopatient in der Rosenhan-Studie; und meine Daten wurden in der Originalarbeit
nicht berücksichtigt“ [18 ]. Die erwähnte Endnote Nummer 6 lautet wörtlich wie folgt: „Daten eines neunten Pseudopatienten
wurden in diesen Bericht nicht aufgenommen, obwohl Gesundheit nicht erkannt wurde.
Aber er hatte Aspekte seiner Biografie, einschließlich seines Familienstandes und
möglicher Bekanntschaften, falsch dargestellt. Sein Verhalten im Experiment war damit
nicht identisch mit dem der anderen Pseudopatienten“ [25 ]. Fakt ist, dass Rosenhan selbst einige Fakten über sich falsch dargestellt hatte,
um aufgenommen zu werden. Warum also schloss er Lando dann aus diesen Gründen aus?
Wie Cahalan ausführlich in einem Kapitel über Lando ([6 ], Kapitel 22: „The Footnote“) beschreibt, hatte dieser in der Psychiatrie sehr positive
Erfahrungen gemacht. Diese seien hier anhand zweier Ausschnitte (der Zusammenfassung
am Anfang und den Schlussfolgerungen am Ende der Arbeit; Kopien aus dem Original in
[
Abb. 3
] links und rechts) dargestellt.
Abb. 3 Fotokopie der Zusammenfassung (links) und der Schlussfolgerungen (rechts) aus dem
Bericht des neunten Pseudopatienten Harry Lando (aus [18, S. 47, 51]).
Mehr gibt es im Grunde nicht zu sagen: Lando fühlte sich in der Psychiatrie gut aufgehoben,
war sehr angetan von dem dort arbeitenden Personal und sein Gesamteindruck war „überwältigend
positiv“. Das passte Rosenhan ganz offensichtlich nicht ins Konzept, und so wurden
die Erfahrungen des neunten Pseudopatienten einfach „aus methodischen Gründen“ nicht
weiter erwähnt.
Pseudopatient Rosenhan
Zurück zu Rosenhan als Pseudopatient. Hier liefern die erhaltenen Dokumente mit Abstand
die meisten Informationen, vor allem aber auch eine erhebliche Menge von Ungereimtheiten
mit dem, was in der Science-Arbeit nachgelesen werden kann.
Sein Aufenthalt lag 3 Jahre zurück und war nicht im Rahmen einer experimentellen Studie
erfolgt, sondern als eine Art Selbsterfahrung mehr als 3 Jahre zuvor.
In Science wird beschrieben, wie schon allein die Formulierungen in der Krankenakte
„unabsichtlich durch das Personal so verdreht wurden, dass sie der [damals] populären
[psychoanalytischen] Theorie der Dynamik einer schizophrenen Reaktion entsprechen.“
Cahalan kommentiert angesichts der Gegenüberstellung dessen, was in der Krankenakte
steht und dessen, was im Science-Paper steht ([
Tab. 3
]), dass es hier definitiv nicht um unbeabsichtige Verfälschungen durch das Personal
geht, sondern um beabsichtige Verfälschungen und freie Erfindungen durch den Autor
Rosenhan. Auch „ist in der Science-Arbeit weder von Suizidalität noch von Kupfertöpfen
die Rede“, [6 ]).
Tab. 3
Gegenüberstellung der tatsächlichen Krankenakte und dem in Science abgedruckten „Zitat“.
Was in der Krankenakte tatsächlich steht [6, S. 190]
Was in Science als „Eintrag in die Krankenakte“ steht [25, S. 253]
This 39-year-old, white, married, Jewish male was admitted on February 6, 1969 on
a 314 commitment. The patient came to the hospital on his own volition and apparently
was seeking help. Review of the history reveals that since summer of ‘68’ the patient
has stopped working and has shown a definite social withdrawal. He started to experience
auditory hallucinations in November of ‘68’ and had to resort to some bizarre behavior
in order to deal with this experience. When seen in New Case conference on February
11, 1969, the patient was friendly and cooperative, speech was relevant and coherent,
and appeared to be of extremely high intelligence. Since being hospitalized he reports
complete alleviation of his hallucinatory experiences …
This white 39-year-old male … manifests a long history of considerable ambivalence
in close relationships, which begins in early childhood. A warm relationship with
his mother cools during his adolescence. A distant relationship to his father is described
as becoming very intense. Affective stability is absent. His attempts to control emotionality
with his wife and children are punctuated by angry outbursts and, in the case of the
children, spankings. And while he says that he has several good friends, one senses
considerable ambivalence embedded in those relationships also ...
Im Rahmen der Auseinandersetzungen mit seinem Kritiker Robert Spitzer wollte Rosenhan
verhindern, dass Spitzers Kritik publiziert wird und bat mehrere Personen, sich dafür
bei Spitzer einzusetzen. Er kommentierte seine Mühen in einem Brief an Spitzer wie
folgt: „Sie haben es nun von mir und vom Chef der Klinik (der meine Einweisung arrangierte),
dass mein Aufenthalt dort Teil meiner Lehrtätigkeit war und nichts direkt mit Forschung
zu tun hatte“ [6 ]. Dies widerspricht direkt dem Inhalt von [
Tab. 3
], d. h. der Tatsache, dass er seinen Aufenthalt durchaus im Science-Paper ausführlicher
diskutiert als die Erfahrungen der übrigen Pseudopatienten.
Ein besonders drastisches Beispiel freier Erfindung stellt die Tatsache dar, dass
Rosenhan später behauptet hatte, er habe während des Psychiatrie-Aufenthaltes eine
Perücke getragen, um nicht erkannt zu werden. In einem Interview, das Cahalan mit
einem von Rosenhans Kollegen, Prof. Ervin Staub, geführt hatte, erzählte dieser davon.
Sie seien beide nach oben gegangen, wo Rosenhan die Perücke aufbewahrt hatte. „Sie
war etwas wild, [die Haare] ein bisschen zu lang. […] Es war eine interessante Perücke
– irgendwie passend für einen Professor“ zitiert Calahan ihren Interviewpartner [6 ]. Cahalan fand in den Akten jedoch nicht nur den Aufnahmebefund, sondern auch ein
Foto von Rosenhan bei der Aufnahme – ohne Perücke. Hinzu kommt zu alldem: Trotz jahrelanger
intensiver Suche konnten keine weiteren Pseudopatienten gefunden werden. Cahalan beschreibt
in mehreren Kapiteln ihres Buchs einige heiße (und noch ein paar lauwarme) Spuren,
die jedoch alle ins Leere führten. Im Jahr 2017 publizierte sie schließlich im Fachblatt
Lancet Psychiatry einen Aufruf an die Pseudopatienten von Rosenhan, sich doch bei
ihr zu melden [5 ]:
Sie arbeite gerade an einem Buch über die Studie von Rosenhan. „Ich schreibe, um jeden,
der etwas über die Studie weiß, zu erreichen. [Ich möchte herausfinden], wie sie durchgeführt
wurde, wer daran beteiligt war, wo die Studie stattfand und wie es dazu kam, dass
sie in Science veröffentlicht wurde. Ich halte diese Anfrage bewusst vage, um möglichst
viele Menschen zu erreichen. Ich möchte jedoch hinzufügen, dass ich vor allem nach
Informationen zu den an der Studie beteiligten Pseudopatienten und Kliniken suche.
Ich sammle auch Anekdoten, Erlebnisse und Eindrücke von denjenigen, die David Rosenhan
persönlich kannten und bin offen für alle Hinweise.“[
22
] Ohne Erfolg.
Aus dieser Tatsache, sowie aus den beiden Befunden, dass in Rosenhans Aufzeichnungen
zu keinen weiteren Pseudopatienten Aufzeichnungen zu finden waren, stattdessen jedoch
in seinem unfertigen Buch Aufzeichnungen seines Sohnes und anderer Bekannter Rosenhans,
die nicht in der Science-Arbeit vorkommen, gleichsam „hineingestopft“ auffindbar waren,
drängt sich folgender Gedanke auf. Es sieht so aus, als habe er versucht, das Buch
zu schreiben und sich bei der genaueren Schilderung der Pseudopatienten – im Nachhinein,
denn es gab sie ja gar nicht – an Berichte anzulehnen, die ihm ohnehin vorlagen.
Rosenhans jüngerer Bruder litt an einer bipolaren Störung, weswegen sich Rosenhan
öfter um dessen körperliches und finanzielles Wohl kümmern musste, wie sein Sohn Jack
der Autorin mitteilte. Rosenhan wusste also durchaus, dass es psychische Krankheit
tatsächlich gibt, d. h. dass sie nicht erst durch „Etikettierung“ durch Psychiater
entsteht. Daher wollte er auch nicht mit Thomas Szaz in einen Topf mit den „Antipsychiatern“
geworfen werden. Es konnte ihm mithin in seiner Arbeit nicht um die Abschaffung der
Psychiatrie gehen, sondern um die Abschaffung der psychiatrischen Krankenhäuser, wie
es sie in den USA damals gab, wie auch weitere Äußerungen Rosenhans in Interviews
zeigen. Zum Zeitpunkt der Publikation seiner Arbeit war dies jedoch schon in vollem
Gange. Nachdem Rosemary Kennedy[
23
], die damals 23-jährige bildhübsche Schwester des späteren amerikanischen Präsidenten
John F. Kennedy, durch eine im Jahr 1941 (auf Betreiben ihres Vaters und ohne Wissen
der Mutter) durchgeführte Lobotomie zur geistig und körperlich Schwerstbehinderten
wurde, hatte ihr älterer Bruder John, der sich erst im Jahr 1960 zu ihr öffentlich
bekannte, als Präsident die Initiative ergriffen, um das Los psychisch kranker Menschen
zu verbessern. Das Resultat: 10 Jahre später waren die Hälfte aller psychiatrischen
Krankenhausbetten in den USA schon nicht mehr da.
Rosenhan und R. Spitzer
Zum Skurrilsten, was man in Cahalans Buch lesen kann, gehört die Korrespondenz zwischen
David Rosenhan und seinem Erzfeind Robert Spitzer. Diese befand sich bei dem von der
Autorin gesichteten Nachlass in einem eigenen Ordner mit der Beschriftung „Spitzer,
Robert“ [6 ]. Ein Jahr nach der Publikation von Rosenhans Arbeit – Spitzer war gerade dabei,
seine Kritiken zu verfassen – begann er die Korrespondenz mit „Lieber Dave“, was Cahalan
zur Bemerkung veranlasst, dass Rosenhan ansonsten nicht mit „Dave“ angesprochen wurde
(beide kannten sich ja auch nicht persönlich), weswegen die Anrede sich „eher anfühlt
wie ein Ellenbogen an den Rippen als ein Handschlag“ [6 ]. Spitzer hatte einige Fragen an Rosenhan, dessen Antwortbrief eine „unterschwellige
Wut“ verrät – und das, obgleich sich beide mit Höflichkeitsfloskeln wie „Yours sincerely“
(Rosenhan) und „Sincerely Yours“ (Spitzer) in ihren wechselseitigen Briefen überboten.
Cahalan kommentiert: „Ich stelle mir vor, wie Rosenhan vor ganzen Stapeln von Papieren
an seinem Schreibtisch sitzend, den Zeigefinger an seiner Schläfe, mit zunehmend gerötetem
Gesicht diese Schreiben las; zugleich stelle ich mir Spitzer vor, der fröhlich lächelnd
seine Attacken vor sich hin tippte…“ [6 ]. Der Dialog zwischen beiden wurde zunehmend eisiger, sodass R. Spitzer irgendwann
äußerte, man könne nur noch die Hoffnung haben, dass die wechselseitigen Briefe wieder
kürzer werden, und Rosenhan danach Briefe geschrieben hat, die „zum Wütendsten gehören,
was ich je gesehen habe“, wie Cahalan es zusammenfasst – ohne weitere Zitate anzuführen.
Aber war Robert Spitzer wirklich die wahrheitssuchende Lichtgestalt der Psychiatrie
der 1980er-Jahre oder hatte er – wie Sherlock Holmes – auch dunkle Seiten? Der genannte,
Rosenhan im Jahr 1969 „behandelnde“ Arzt, Dr. Frank Bartlett war verständlicherweise
beleidigt darüber, wie Rosenhan ihn in seiner Arbeit portraitierte. Wie aus der Korrespondenz
zwischen Rosenhan und Spitzer hervorgeht [6 ], verschickte Bartlett daher die Krankenakte „Rosenhan“ an den Psychiater Robert
Woodruff, dessen Kritik an Rosenhans Arbeit er gelesen hatte. Dieser schickte sie
an Spitzer. Der wusste also, dass es sich beim Patienten David Lurie tatsächlich um
David Rosenhan handelte, konnte daher ebenfalls die Akte mit der Science-Arbeit vergleichen
und hätte die Rosenhans Lügen spätestens Mitte der 1970er-Jahre ebenso aufdecken können
wie Cahalan dies 45 Jahre später dann tatsächlich getan hatte. Warum hat er es dann
nicht getan?
Zur Beantwortung dieser Frage zitiert Cahalan aus dem Buch des den Soziologen Andrew
Scull mit dem Titel Psychiatry and its Discontents: „Paradoxerweise war die außerordentliche
Wirkung von Rosenhans Studie in der Öffentlichkeit wie himmlisches Manna. Denn sie
lieferte letztlich den Anstoß für ein Forschungsprojekt, für das er schon seit einiger
Zeit geworben hatte, nämlich für die Gründungen eine Arbeitsgruppe der American Psychiatric
Association mit dem Auftrag, die Diagnosen in der Psychiatrie neu zu überdenken“ [42 ].[
24
] Mit anderen Worten: Ohne Rosenhan kein DSM-III – und das war das große Projekt von
Spitzer, mit dem er die Psychiatrie der kommenden Jahrzehnte – nicht nur in den USA,
sondern weltweit – wesentlich prägte.
Des einen Strandgut war des anderen Schiffbruch: Weil Rosenhan wusste, dass Spitzer
wusste, was er wusste, war die Publikation des Buchs sinnlos geworden, denn Spitzer
hätte es jederzeit leicht entlarven können. Obgleich Rosenhan 10 000 US Dollar vom
Verlag Doubleday als Vorschuss bekommen hatte – damals viel Geld – musste er den Plan
aufgeben, durch ein paar zusätzliche Lügen seine Science-Publikation zu „stützen“.
Diskussion
Der Stanford Professor für Psychologie und Recht, David Rosenhan, kam mit seiner im
Fachblatt Science im Januar 1973 publizierten Arbeit „On Being Sane in Insane Places“
zu weltweiter Berühmtheit. Die Arbeit gehört nicht nur zu den am häufigsten zitierten
Arbeiten im Bereich der Psychiatrie, sondern diese verändert, insbesondere das Los
der Patienten: Zwar wurden schon in den 10 Jahren vor Erscheinen der Arbeit etwa 50
% aller psychiatrischen Krankenhausbetten in den USA abgeschafft, aber in den 10 Jahren
danach wurde von den verbliebenen Betten nochmals die Hälfte abgeschafft. Zwar mögen
sowohl JF Kennedy als auch David Rosenhan gedacht haben, dass das hierdurch eingesparte
Geld auf andere Weise zu den bedürftigen Patienten gelangen würde. Bekanntermaßen
war dem jedoch nicht so. Dies erwies sich für die praktische Versorgung der wirklich
psychisch kranken Menschen als Desaster. Sie endeten auf der Straße und vor allem
in Gefängnissen. Was zu Beginn der Psychiatrie als einer ihrer größten Anfangserfolge
zu bewerten ist – die Kranken wurden aus den Gefängnissen befreit und nicht mehr als
Kriminelle, sondern als krank behandelt, wurde wenn auch mit besten Absichten, innerhalb
von 2 Jahrzehnten zunichte gemacht.
Wenn heute deutsche Sozialpsychiater es als Fortschritt betrachten, dass sich die
Polizei und das Gefängnis (und nicht der Psychiater auf einer geschlossenen Station)
um erregte aggressive psychisch Kranke Menschen in Ausnahmesituationen kümmern mögen
[43 ], sei ihnen entgegengehalten, dass sie aus der Geschichte nichts gelernt haben und
ein vollkommen unpraktikables System fordern. Ich möchte nicht mit einer Enzephalitis
(wie Cahalan) oder einem Hirntumor zwischen Akutstation und Gefängnis (jeweils mit
Blaulicht und Polizeibegleitung) hin- und hergefahren werden, sondern wünsche mir,
dass mich ein Kollege im psychiatrischen Akutkrankenhaus mit Worten und Medikamenten
beruhigt und ein MRT sowie eine Liquorpunktion durchführt. Kranke Menschen gehören
in ein Krankenhaus und nicht ins Gefängnis – das gilt auch und gerade psychisch Kranke!
Der Wegfall von drei Vierteln aller psychiatrischen Klinikbetten blieb auch für die
Psychiater nicht folgenlos. Ihre professionelle Situation änderte sich, als sie aus
den Kliniken heraus auf dem freien Markt ihr Auskommen suchen mussten. Dies funktionierte
vor dem Hintergrund des US-Krankenversorgungssystems (Dutzende von Millionen Menschen
mit wenig oder gar keinem Einkommen sind nicht krankenversichert) nur deswegen, weil
die Psychiater ihre Zeit den (privat-) versicherten Menschen mit leichteren psychischen
Störungen verkauften – stundenweise, mit Sätzen von um die 140 US Dollar die Stunde.
Die vermeintliche Unfähigkeit der Psychiater zum Diagnostizieren und sei es auch nur
des einfachsten Unterschieds zwischen „krank“ und „nicht krank“ – hatte auch einen
großen Einfluss auf das Fach Psychiatrie in dem Sinne, dass man sich um eine begriffliche
Klärung von Diagnosen bemühte und explizite Kriterien für alle psychiatrischen Diagnosen
formulierte. Zwar wurde [44 ] und wird noch immer [42 ] die Kritik geäußert, dass man dabei die Validität der psychiatrischen Diagnosen
deren Reliabilität geopfert habe, aber ohne Reliabilität geht es eben auch wirklich
nicht.
Die Auswirkungen der Publikation von Rosenhan waren also erheblich. War das alles
nun insgesamt gut oder schlecht? – Frau Cahalan lässt diese Frage offen, insbesondere
auch die Frage, ob Rosenhans Tun im Nachhinein als verwerfliche Täuschung anzusehen
ist oder als zwar gelogene, aber dennoch sehr wirksame „heilsame“ Kritik, von Zuständen,
die dringend geändert gehörten. „Letztendlich glaube ich, dass er auf etwas Reales
aufmerksam gemacht hat“[
25
], schreibt sie gegen Ende ihres Buchs. „Rosenhans Arbeit, so übertrieben und unehrlich
es auch war, berührte die Wahrheit indem es um sie herumtanzte.“ – So kann man es
in intellektuellen Kreisen natürlich ausdrücken; in der Wissenschaft jedoch wird definitiv
nicht um die Wahrheit getanzt! Vielmehr wird um sie gerungen, und Pseudopatienten,
die Lügen erzählen, erscheinen – verglichen mit dem in der Wissenschaft üblichen Methodenarsenal
– als zur Auffindung von Wahrheit eher ungeeignet.
Insbesondere dann, wenn zugleich durch Genauigkeit, die nicht vorhanden war, die wissenschaftliche
Wahrheit vorgetäuscht wird. Die angeführten frappierend exakten Angaben zur Anzahl
(11,3 %) und Zeitdauer (6,8 min.) der Kontakte der Pseudopatienten mit dem Personal
sowie zur Anzahl der insgesamt verabreichten Tabletten entsprechen zwar dem Anspruch
und dem Format des Wissenschaftsfachblatts Science, passen aber nicht zu den offensichtlich
sehr begrenzten und wenig genauen Instruktionen an Rosenhans 2 bekannte Pseudopatienten
und deren Möglichkeiten (sie verfügten nicht über eine Stoppuhr). Einmal ganz von
der Tatsache abgesehen, dass es 6 von 8 Pseudopatenten aller Wahrscheinlichkeit gar
nicht gab.
Patienten, die keine waren, gab es schon vor (Nelly Bly im vorletzten Jahrhundert)
und auch nach Rosenhan, wobei die Nichtpatienten vor Rosenhan durchaus existierten,
die nach ihm nicht. Lauren Slater [29 ] publizierte zwar etwas, das zunächst nach einer Replikation der Rosenhan-Studie
aussah, sich später jedoch als Replikation der Rosenhan-Fake-News entpuppte: Auch
diese Studie war frei erfunden und hatte erneut Robert Spitzer auf den Plan gerufen,
der – im respektablen Journal of Nervous and Mental Disease (Band 193) – eine Arbeit
mit dem Titel: „Eine Antwort auf eine Nicht-Antwort auf Kritik an einer Nicht-Studie“
(A Response to a Nonresponse to Criticisms of a Nonstudy) publizierte [21 ]. Aberwitziger geht es kaum noch!
Abschließend sei noch kurz auf die Frage eingegangen, wie es überhaupt sein konnte,
dass Rosenhan seine nicht sehr inhaltsreiche Studie überhaupt in Science, dem schon
damals weltweit renommiertesten Fachblatt in der Wissenschaft, publizieren konnte.
Von den Herausgebern der Zeitschrift erhielt Cahalan auf Anfrage keine weiteren Informationen.
Meine persönliche Vermutung ist, dass Rosenhan ungewollte Hilfe von einer Instanz
hatte, die höher nicht sein könnte: dem damaligen US-Präsidenten Richard Nixon. Bereits
im Sommer und Herbst 1972, also während der Begutachtung des Papers von Rosenhan durch
die Gutachter bei Science, „spekulierte die Washington Post schon im Sommer und Herbst
1972 – also mitten im Präsidentschaftswahlkampf – über eine weitreichende politische
Verschwörung unter Einschluss des Weißen Hauses“, wie man in der Wikipedia nachlesen
kann. Die angespannte, fast möchte man sagen, die paranoide Atmosphäre, die damals
in den USA herrschte, mag liberal denkende Gutachter mit dazu bewogen haben, die Arbeit
durchzuwinken.