PSYCH up2date 2020; 14(06): 460-467
DOI: 10.1055/a-1045-8646
SOP / Arbeitsablauf

SOP Somatische Diagnostik bei Verdacht auf immunologische Psychosen

Ludger Tebartz van Elst
,
Dominique Endres
 

Immunologische Psychosen stellen eine Gruppe von Krankheitsbildern dar, welche zunehmend als differenzialdiagnostische Erwägung insbesondere bei psychotischen Störungsbildern diskutiert werden. Die Prognose dieser Unterform psychiatrischer Störungsbilder hängt von einer frühzeitigen Diagnose ab. Für eine umfassende Beurteilung sind der klinische Phänotyp und eine Reihe von Zusatzuntersuchungen erforderlich.


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Einleitung

Die Annahme, dass psychotische Störungsbilder durch entzündliche Prozesse des Gehirns verursacht sein könnten wurde bereits in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts formuliert [1]. Angestoßen durch neue Erkenntnisse der letzten Dekaden aus dem Themenbereich der limbischen Encephalitiden in der Neurologie [2] [3] wird eine mögliche Rolle autoimmunologischer Prozesse auch in der Genese psychiatrischer Störungen – insbesondere von Psychosen – zunehmend diskutiert [4] [5]. In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, bei der ätiopathogenetischen Einordnung der wesentlich syndromal konzeptualisierten, psychiatrischen Störungsbilder zunehmend nach kausalen Kriterien zwischen primär-idiopathischen Varianten (z. B. im Sinne einer genuinen Schizophrenie) und sekundär-symptomatischen Varianten (z. B. im Sinne einer immunologischen schizophreniformen Psychose) zu unterscheiden [6]. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dabei bislang überwiegend Autoantikörper-vermittelte autoimmunologische Prozesse. Die wichtigsten der aktuell bekannten gegen Hirngewebe gerichteten Autoantikörper im Kontext der immunologischen Psychosen sind in [Tab. 1] zusammengefasst.

Tab. 1

Zusammenfassung der aktuell bekannten Varianten Autoantikörper-assoziierter neuropsychiatrischer Syndrombilder (aktualisiert nach [2] [3] [4] [5] [7] [11]).

Klassifikation

Antigen

Neuropsychiatrisches Syndrom

Symptomatik

Tumorassoziation

Typischer Patient

Antikörper gegen neuronale Oberflächenantigene

NMDA-R (GluN1)

Anti-NMDA-R-Enzephalitis

Psychose, epileptische Anfälle, Bewegungsstörungen, Katatonie, autonome Instabilität, Bewusstseinsstörungen

Abhängig von Alter und Geschlecht, Tumorassoziation bei ca. 40 %, meist ovarielle Teratome

Junge Frau mit ovariellem Teratom und initial Psychose

CASPR2

Morvan-Syndrom; Limbische Enzephalitis

Gedächtnisstörung, Schlafstörung, Neuromyotonie, psychotische und depressive Symptome

bei ca. 20 % Thymome

Mittelalte oder ältere Patienten

LGI1

Limbische Enzephalitis

Gedächtnisdefizite bis zur Demenz, Verwirrtheit, Depression, akut-polymorph psychotische Symptomatik, faziobrachiale Anfälle, Hyponatriämie, REM-Schlafstörungen

bei 5–10 % Thymome

Mittelalte oder ältere Patienten (M > F)

AMPA-R

Limbische Enzephalitis

Gedächtnisdefizite, Verwirrtheit, atypische Psychose

In ca. 65 %, meist Thymome oder kleinzellige Bronchialkarzinome

Mittelalte oder ältere Patienten mit Bronchial-Ca oder Thymom

GABAB-R

Limbische Enzephalitis mit frühen und ausgeprägten Anfällen

Gedächtnisdefizite, Anfälle, orolinguale Dyskinesien

In ca. 50 %, meist kleinzelliges Bronchialkarzinom

Mittelalte oder ältere Patienten mit Bronchial-Ca und epileptischen Anfällen

GABAA-R

Enzephalitis mit therapierefraktären Anfällen, Status epilepticus

Therapierefraktäre Anfälle, Status epilepticus

In ca. 25 % bei Thymomen und anderen

Junge Patienten mit therapierefraktären Anfällen

DPPX

Enzephalitis, Hyperekplexie

Verwirrtheit, kognitive Defizite, Diarrhoe und andere gastrointestinale Symptome, Gewichtsverlust, Hyperekplexie, Wahnerleben, Halluzinationen

Lymphome in < 10 %

Mittelalte bis ältere Patienten mit kognitiven Defiziten, Hyperekplexie, Diarrhö

mGluR5

Enzephalitis

Gedächtnisdefizite, Verwirrtheit, Verhaltens-änderungen, emotionale Instabilität

In ca. 70 % mit Hodgkin-Lymphom assoziiert

Junge Erwachsene oft mit Hodgkin-Lymphom

Neurexin-3-alpha

Enzephalitis

Prodromalsymptome (Fieber, Kopfschmerzen, gastrointestinale Beschwerden), Anfälle, Verwirrtheit, Bewusstseinsstörung, Verhaltensänderung, Agitation

keine

Mittelalte Patienten mit Prodromalsymptomen und dann Trias aus Anfällen, Verwirrtheit und Bewusstseinsstörung (ähnelt der anti-NMDA-R Enzephalitis)

IgLON5

Schlafstörung

Schlafapnoe, Schlafverhaltensstörung und Hirnstammdysfunktion (Dysphagie, Ataxie), Depression, Halluzinationen

keine

Mittelalte bis alte Patienten mit Schlafverhaltensstörungen und Hirnstammsymptomen

Glycin-R

PERM, Stiff-Person-Syndrom

Verhaltensänderungen, psychotische Symptome

In < 5 %, dann Assoziation mit Thymom, Bronchial-Ca und Morbus Hodgkin

Mittelalte oder ältere Patienten mit Muskelsteifigkeit

Antikörper gegen synaptische intrazelluläre Antigene

GAD65

Limbische Enzephalitis, Stiff-Person-Syndrom, Anfälle

Muskelrigidität, Spasmen, Anfälle, Hirnstammdysfunktion, Ataxie, bizarr anmutende Bewegungs-störungen, psychotische Syndrome, Autismus und ADHS Symptome

Isoliert selten paraneoplastisch, ansonsten bei max. 25 % Assoziation mit Thymom oder kleinzelligem Bronchial-Ca

Junge Frauen mit Anfällen (bei der nicht paraneoplastischen Form)

Amphiphysin

Stiff-Person-Syndrom, Enzephalomyelitis

Rigidität, Spasmen, Verwirrtheit, Gedächtnisdefizite

 > 90 % Mamma-Ca, kleinzelliges Bronchial-Ca

Mittelalte bis ältere Patienten (F > M) mit Mamma- oder Bronchial-Ca und Stiff-Person-Syndrom

Antikörper gegen onkoneurale nichtsynaptische intrazelluläre Antigene

Hu, Ri, Yo, CV2 (CRMP5), Ma1, Ma2 (Ta), SOX1, PCA-2, ANNA-3, Zic4, Ca/ARHGAP26

U.a. limbische Enzephalitis, zerebelläre Degeneration

Bunte neuropsychiatrische Symptomatik, Verhaltensänderungen, Neuropathien, Gangstörungen, Anfälle

In den meisten Fällen tumorassoziiert

Ältere Patienten meist mit Malignomen (Hu: Kleinzelliges Bronchial-Ca, Ma2: testikuläres Seminom etc.)

Antikörper gegen Schilddrüsengewebe

TG/TPO, TRAK

Hashimoto Enzephalopathie (SREAT)

Epileptische Anfälle, Verwirrtheit, Gedächtnisstörungen, Sprachstörungen, Verfolgungswahn, Myoklonien, schizophreniforme Störung, affektive Syndrome

keine

Mittelalte Frauen mit u. a. akut einsetzenden kognitiven Defiziten, Verfolgungswahn und ggf. Ansprechen auf Steroide

„Rheumatologische Antikörper“

ANAs (bei Positivität: anti-dsDNA/ENA-Differenzierung), Antiphospholipid AK (anti-β2-Glykoprotein-I-/Anticardiolipin AK, Lupus-Antikoagulans), ANCAs (bei Positivität Spezifizierung für MPO, PR3)

Neurolupus, Antiphospholipid-Syndrom, Sjögren Syndrom, Sklerodermie, ANCA assoziierte Vaskulitis

Psychose, kognitive Defizite, affektive Störungen, Kopfschmerzen, Anfälle, Stroke-like-Episoden, Optikusneuropathie, Polyneuropathie, Schmetterlingserythem, diskoider Lupus, Photosensibilität, Calcinosis cutis, Raynaud-Phänomen, Teleangiektasien, Sicca-Symptomatik, Ulzera, Arthritis, Serositis, Nieren-/hämatologische Beteiligung, ösophageale Dysmotilität, Sklerodaktylie, Thrombose/Embolie, Rhinitis, Granulome, Hämoptysen, Lungeninfiltrate

keine

Abhängig von Erkrankung, beim Neurolupus z. B. junge Frauen mit verschiedenen Organbeteiligungen

Wesentlicher klinischer Anknüpfungspunkt für den Verdacht einer sekundären, immunologischen Genese einer Psychose ist dabei der akute bis subakute Beginn einer oft im Detail atypisch anmutenden, polymorphen, psychotischen Symptomatik, die häufig begleitet wird von unverhältnismäßigen neurokognitiven Symptomen, Bewegungsstörungen (katatone Symptome, Dyskinesien) oder gar klaren neurologischen Symptomen, etwa im Sinne von Bewusstseinsstörungen, epileptischen Anfällen, Aphasien, Dysarthrien, autonomen Funktionsstörungen etc. Ist die Symptomatik zudem im Kontext einer fieberhaften Erkrankung aufgetreten, sollte die Differenzialdiagnose unbedingt erwogen werden. Insgesamt können aus klinischer Perspektive härtere Warnzeichen von weicheren („red flags“) unterschieden werden wie in [Tab. 2] zusammengefasst.

Tab. 2

„Harte“ und „weiche“ Warnzeichen, die an eine autoimmune Enzephalitis bzw. immunologische Psychose denken lassen sollten (zitiert nach [8]: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/038-009l_S3_Schizophrenie_2019-03.pdf).

„Harte“ Warnzeichen

„Weiche“ Warnzeichen

Lymphozytäre Liquor-Pleozytose ohne Hinweise auf eine infektiöse Ursache

Quantitative Bewusstseinsstörungen

Epileptische Anfälle

Bewegungsstörung oder Stand- und Gangunsicherheit

Faziobrachiale dystone Anfälle

Autonome Instabilität

MRT-Auffälligkeiten (z. B. mesiotemporale Hyperintensitäten)

Fokalneurologische Defizite, inkl. Aphasie oder Dysarthrie

EEG-Auffälligkeiten (Grundrhythmus-Verlangsamung, epilepsietypische Muster, holozephaler extremer Delta-Brush (Beta-Delta-Komplexe, welche aus bilateraler Delta-Aktivität mit 1–3 Hz und aufgelagerter Beta-Aktivität mit 20–30 Hz bestehen), die nicht anderweitig erklärt werden können. Der extreme Delta-Brush bei nicht-neugeborenen Personen scheint häufig bei NMDAR-Autoimmunenzephalitis aufzutreten, wobei die Spezifität nicht klar ist

Schnelles Fortschreiten der psychotischen Symptome trotz psychopharmakologischer Therapie

Hyponatriämie

Ätiologisch ungeklärte Kopfschmerzen

Katatonie

Andere komorbide Autoimmunerkrankungen

Praxistipp

Bei einer akut-subakuten, polymorphen, psychotischen Symptomatik sollte differenzialdiagnostisch an eine immunologische Psychose gedacht werden – vor allem dann, wenn folgende Warnzeichen gegeben sind:

  • katatone Symptome

  • Dyskinesien (orofazial, an den Extremitäten)

  • epileptische Anfälle, faziobrachiale dystone Anfälle

  • Vigilanzstörungen

  • autonome Instabilität

  • Sprachstörungen: Aphasie und Dysarthrie

  • fokale neurologische Defizite

  • Kopfschmerzen/Fieber (insbesondere prodromales Auftreten)


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Internationale Konsensbemühungen bei der Operationalisierung immunologischer Psychosen

Das oben beschriebene klinische Bild repräsentiert einen klassischen „neuropsychiatrischen Phänotyp“, der unmittelbar den Verdacht einer organischen Genese der Symptomatik begründen wird, wenn er in seiner ganzen Fülle auftritt, etwa in Kombination mit epileptischen Anfällen. Die klinische Erfahrung zeigt aber, dass in vielen Fällen auch nur wenige oder einzelne der Warnzeichen auftreten. Auch wenn epileptische Anfälle oder Dyskinesien als Nebenwirkungen einer zuvor initiierten psychotropen Medikation fehlgedeutet werden, kann auch eine klar neuropsychiatrische Präsentation im Sinne einer primär-idiopathischen Verursachung fehlgedeutet werden [6].

Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeit bei der klinischen Identifizierung entsprechender Fälle wurde im Rahmen internationaler Konsensbemühungen das klinische Bild einer möglichen, wahrscheinlichen und sicheren immunologischen bzw. autoimmunen Psychose operationalisiert (vgl. die folgenden Infokästen; modifiziert und übersetzt von den Autoren nach [7]).

Mögliche immunologische Psychose

Operationalisierung einer möglichen immunologischen Psychose nach [7]

Der Patient muss gegenwärtig an psychotischen Symptomen mit abruptem Beginn (schnelle Progression < 3 Monate) leiden und wenigstens einen der folgenden Punkte aufweisen:

  • gegenwärtig oder kürzlich diagnostizierte Tumorerkrankung

  • Bewegungsstörung (Katatonie oder Dyskinesie)

  • unerwünschte Reaktion auf Antipsychotika, die den Verdacht auf ein malignes neuroleptisches Syndrom (Rigidität, Hyperthermie oder erhöhte Kreatinkinase) aufkommen lassen

  • schwere oder unverhältnismäßige kognitive Dysfunktion

  • ein vermindertes Bewusstseinsniveau

  • das Auftreten von Krampfanfällen, die nicht durch eine zuvor bekannte Krampfanfallerkrankung erklärt werden können

  • eine klinisch bedeutsame autonome Funktionsstörung (abnormaler oder unerwartet schwankender Blutdruck, Temperatur oder Herzfrequenz)

Kann nach dieser Operationalisierung die Diagnose einer möglichen immunologischen Psychose gestellt werden, so werden gemäß Konsensempfehlungen folgende diagnostische Untersuchungen im Sinne eines Standardprozederes empfohlen: EEG, MRT, Liquoranalyse (inklusive Testung auf antineuronale Antikörper) und verschiedene Laboruntersuchungen (vgl. [Tab. 3]).

Tab. 3

Spezifische Empfehlungen zur organischen Diagnostik bei immunologischen Psychosen (gemäß [7] [8] [9]).

Modalität

Konsens-Empfehlung (nach [7])

S3-Leitlinien [8]

Freiburger Protokoll (partiell beschrieben in [9])

Anmerkungen

EEG

Keine Spezifikation

Keine Spezifikation

32-Kanal klinisches Routine EEG

MRT

FLAIR-Sequenzen

T1-, T2-, FLAIR-Sequenzen, bei Auffälligkeiten weiterführende Diagnostik mit Kontrastmittel-MRT (bei nicht Verfügbarkeit oder Kontraindikationen für eine MRT Untersuchung: CCT)

FLAIR axial + FLAIR coronar “hippocampal view”, T2 coronar, DWI axial und coronar, T2* axial oder SWI, T1-MPRAGE (1x1x1 mm); bei spezifischen Verdacht mit Kontrastmittel

Eine CT Untersuchung erscheint nicht geeignet, um immunologische Prozesse mit hinreichender Sicherheit zu beurteilen

Liquor (CSF)

Routine und antineuronale Antikörper

Keine Spezifikation

Routine und antineuronale Antikörper (bei spezifischem Verdacht kann eine Bestimmung der Antikörperbindung auf nativen murinen zerebralen Gewebsschnitten hilfreich sein)

Labor

Anti-neuronale Antikörper

Obligat:

Differenzialblutbild

Nüchternblutzucker und ggf. HbA1c

GPT, Gamma-GT

Kreatinin/eGFR

Natrium, Kalium, Calcium

BSG/CRP

Schilddrüsenparameter (initial TSH)

Fakultativ:

Creatininkinase (CK),

Rheumatologisches Labor,

Eisen- und Kupferstoffwechsel,

Vitamin B1, B6, B12,

Serologie für wichtige Infektionserkrankungen (HIV, Hepatitis, Lues, etc.)…

Routine: Blutbild, Elektrolyte, Nieren/Leberwerte, Schilddrüsenhormone, CRP, HBA1c, Lipide, U-Status, Vitamin B12, Folsäure, Vitamin D, Selen; Lues-, Borrellienserologie, anti-TPO, TG and TRAK, Rheuma-Screening: IgA, IgG, IgM, Immunfixation; CH 50, C3, C4, C3 D, Antiphospholipid AK, ANA-IF-Screening (falls ANA Screening positiv: ENA Spezifikation: anti-dsDNA, Histone, rib. P-Proteine, snRNP, Sm, SS-A/Ro, Ro-52, SS-B/La, Scl-70, PM-SCL, Jo-1, Zentromere, PCNA; Nukleosomen, DFS-70), ANCA-IF-Screening (falls positiv Testung auf MPO, PR3), Alpha-Galaktosidase,

Antineuronale Antikörper gegen: Hu, Yo, Ri, CV2 /CRMP5, Amphiphysin, Ma1, Ma2, SOX1, GAD65, Tr(DNER), Zic4; VGKC (LGI1, CASPR2), GABA B, NMDA-R, AMPA 1 und AMPA 2; Aquaporin4, MOG

Hyponatriämie kann auf LGI1 Enzephalitis hinweisen

FDG-PET

Keine Spezifikation

Keine Spezifikation?

Bei spezifischem Verdacht

Bei der Betrachtung der verschiedenen Empfehlungen muss berücksichtigt werden, dass die Trennung der psychiatrischen Disziplinen von der somatischen Medizin in den verschiedenen Ländern der Welt unterschiedlich weit fortgeschritten ist. So kann es in vielen Ländern durchaus schwierig sein, im psychiatrischen Versorgungssetting überhaupt eine EEG- oder Liquoruntersuchung zu organisieren, während dies in den meisten deutschen psychiatrischen Versorgungskrankenhäusern möglich ist. Diese internationale Perspektive erklärt die gestufte Vorgehensweise der internationalen Konsensgruppe.

Merke

Bei einer möglichen immunologischen Psychose sollten nach internationalem Konsens MRT-, EEG- und Liquoruntersuchungen durchgeführt werden.

Auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse sollte dann die Diagnose einer wahrscheinlichen oder definitiven Psychose gestellt oder zurückgewiesen werden.

Immunologische Psychose

Operationalisierung einer wahrscheinlichen immunologischen Psychose (nach [7])

Der Patient muss eine mögliche Autoimmunpsychose (s. o.) haben und

  • mindestens einen der folgenden Punkte:

    • Liquor-Pleozytose von > 5 weißen Blutkörperchen per μl

    • fokale bilaterale Hirnanomalien (in den T2-gewichteten FLAIR MRT-Sequenzen) im Bereich der medialen Temporallappen

  • oder 2 der folgenden Punkte:

    • EEG: Enzephalopathische Veränderungen (d. h. Spitzen, Spike-Wave-Aktivität oder rhythmische Verlangsamung [intermittierende rhythmische Delta- oder Theta-Aktivität]), fokale Veränderungen oder „Extreme Delta-Brush“

    • oligoklonale Banden im Liquor oder erhöhter IgG-Index

    • Vorhandensein eines anti-neuronalen Antikörpers im Serum (der mit einem zellbasierten Assay nachgewiesen wurde)

Nach Ausschluss von Alternativdiagnosen.

Operationalisierung einer sicheren immunologischen Psychose (nach [7])

Der Patient erfüllt die Kriterien einer wahrscheinlichen immunologischen Psychose und es wurden antineuronale IgG-Antikörper im CSF nachgewiesen.


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Pragmatische Aspekte in der Diagnostik möglicher immunologischer Psychosen

In der klinischen Praxis müssen die diagnostischen Maßnahmen meist in Kooperation mit der Neurologie durchgeführt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch sinnvoll, mit der Operationalisierung einer möglichen Autoimmunenzephalitis nach aktuellem internationalem neurologischen Konsens vertraut zu sein (s. Kasten). Aus der Darstellung wird ersichtlich, dass aus neurologischer Perspektive das Verlaufskriterium einer akuten/subakuten Dynamik entscheidend ist, um bei letztlich jedweder relevanten neurokognitiven, psychischen oder persönlichkeitsalterierenden Symptomatik eine umfassende Diagnostik inklusive MRT und Liquoruntersuchung zu indizieren. Lediglich auf die EEG-Untersuchung wird nicht explizit, sondern nur implizit im Kontext der Erwähnung der Epilepsiediagnostik abgehoben. Insbesondere im Hinblick auf die kritische Durchführung einer Untersuchung des zerebralen Liquors besteht jedoch Einvernehmen.

Mögliche Autoimmunenzephalitis

Definition einer möglichen Autoimmunenzephalitis nach aktuellen neurologischen Konsenskriterien [8] [10]

Die Diagnose erscheint möglich, wenn alle 3 der folgenden Kriterien zutreffend sind:

  1. Subakuter Beginn (schnelle Progression innerhalb < 3 Monaten) von:

    • Merkfähigkeitsstörung

    • qualitativer oder quantitativer Bewusstseinsstörungen

    • Lethargie

    • Wesensänderung/Persönlichkeitsveränderungen oder

    • anderer psychischer Symptome

  2. Mindestens einer der folgenden Punkte:

    • neu aufgetretene fokale neurologische Defizite

    • neu aufgetretene epileptische Anfälle

    • lymphozytäre Pleozytose im Liquor (> 5 Zellen/μl)

    • MRT-Merkmale, die auf eine Enzephalitis hindeuten: hyperintenses MRT-Signal in T2- oder FLAIR-Sequenzen, mesiotemporal betont (limbische Enzephalitis) oder in multifokalen Bereichen, welche die graue Substanz, die weiße Substanz oder beides umfassen.

  3. Ausschluss anderer Krankheitsursachen wie infektiöse Enzephalitis (neurotrope Viren: z. B. CMV, EBV, HSV, Influenza, Masern, Mumps, Röteln, VZV; andere Krankheitserreger: z. B. Borrelien, Chlamydien, Mykoplasmen, Candida albicans und Toxoplasma gondii) oder Sepsis, rheumatische Erkrankungen (z. B. Lupus erythematodes, Sarkoidose), metabolische und toxische Enzephalopathien (z. B. hepatisch, renal), mitochondriale Erkrankungen, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Tumoren, Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung.


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Bewertung der zur Verfügung stehenden diagnostischen Verfahren

Aus klinischer Sicht sind insbesondere die EEG- und Liquoruntersuchungen von hoher Bedeutung für die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass im konkreten Fall aus ursächlicher Sicht eine immunologische Psychose vorliegen könnte. Zwar können in Einzelfällen sowohl MRT als auch EEG und Liquoruntersuchungen bei Patienten mit immunologischen Psychosen unauffällig sein, nach den aktuell vorliegenden Daten aus Fallsammlungen ist dies aber beim MRT deutlich häufiger der Fall als beim Liquor und EEG-Befund.

Finden sich in der derart gestalteten Diagnostik keine eindeutigen Befunde, die die Diagnose einer klinisch sicheren immunologischen Psychose begründen, so kann eine FDG-PET-Untersuchung ein weiteres hilfreiches Instrument zur Objektivierung eines Befundes im Sinne einer immunologischen Enzephalitis sein [11] [16]. Auch können bei negativem Befund bei der Antikörpersuche im Serum und Liquor Spezialuntersuchungen auf fixierten/unfixierten Mäusehirnschnitten helfen, bislang noch unbekannte Antikörper zu detektieren, die sich dann meist gegen neuronale oder auch vaskuläre zerebrale Strukturen richten [12]. Auch kann insbesondere dann, wenn Antikörper mit spezifischer Assoziation zu Tumorleiden gefunden werden, eine Tumorsuche indiziert sein. [Abb. 1] illustriert das pragmatische Vorgehen bei der Diagnostik im klinischen Alltag.

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Abb. 1 Pragmatisches Vorgehen bei klinischem Verdacht auf autoimmune Psychose (nach [11]).

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Therapeutische Implikationen

Bei Diagnose einer immunologischen Psychose sollte nach allgemeinem klinischem Konsens eine Immuntherapie erwogen werden.

Merke

Die Behandlungsversuche der Immuntherapie bei immunologischen Psychosen sind off-label und benötigen entsprechend eine sorgfältige Aufklärung.

Initial wird oft eine Steroidpulsbehandlung eingesetzt (mit z. B. 500–1000 mg Methylprednisolon über 3–5 Tage). Zu den Erstlinientherapien zählen auch die Plasmapherese und intravenöse Immunglobuline.

Zu den Zweitlinienverfahren gehören Rituximab und Cyclophosphamid, wobei Rituximab zunehmend wichtiger wird [9] [11] [12] [13] [14] [15]. Während ein Therapieversuch mit Kortison dabei auch im klassischen Setting der Psychiatrie meist gut umgesetzt werden kann, muss bei weiterer Therapieeskalation die Zusammenarbeit mit der Neurologie, Immunologie und Nephrologie gesucht werden. Ohnehin empfiehlt es sich, interdisziplinäre Strukturen zur umfassenden gemeinsamen diagnostischen und therapeutischen Behandlungsplanung zu etablieren, da es sich bei vielen der betroffenen Fälle um oft recht komplexe und schwer zu behandelnde Patienten handelt.

Cave

Ein fehlendes Ansprechen auf einen Behandlungsversuch mit Kortison schließt die Diagnose einer immunologischen Psychose nicht sicher aus.

Gleichzeitig muss ebenfalls betont werden, dass die Diagnose einer immunologischen Psychose nicht bedeutet, dass eine klassische symptomatische medikamentöse Therapie mit den verschiedenen psychotropen Medikamenten (Neuroleptika, Antikonvulsiva, Benzodiazepine, Antidepressiva etc.) nicht erfolgreich sein kann. Auch wenn extrapyramidal-motorische Symptome als Nebenwirkung einer Therapie mit Neuroleptika als Warnsignal für das Vorliegen einer immunologischen Psychose gelten, so kann daraus sicher nicht geschlossen werden, dass Neuroleptika bei anderen Patienten mit entsprechenden sekundären Psychosen nicht sehr gut wirken können und auch gut vertragen werden. Hier wird die klinische Forschung der kommenden Dekaden sicher noch viele interessante Ergebnisse hervorbringen.

Merke

Für viele Menschen mit immunologischer Psychose hat eine Immuntherapie zu sehr weitreichenden klinischen Besserungen bis hin zu fast kompletten Heilungen des psychotischen Prozesses geführt [6] [9] [17].


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Autorinnen/Autoren


Ludger Tebartz van Elst

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Prof. Dr. Stellvertretender Ärztlicher Direktor und Leitender Oberarzt, Leiter der Sektion experimentelle Neuropsychiatrie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Neurobiologie und Psychotherapie autistischer und schizophreniformer Syndrome, Affektive Neurowissenschaft, Visuelle Neurowissenschaft, Brain Imaging, MRI Morphometrie, EEG/fMRI, MR-Spektroskopie, Neurophilosophie: Neurobiologie der Freiheit.


Dominique Endres

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PD. Dr. Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Freiburg. Klinisch-wissenschaftlicher Schwerpunkt: Immunologische Enzephalopathien in der Psychiatrie, Zwangsstörungen, Entwicklungsstörungen, Bildgebung, Liquormarker.

Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Acknowledgement

D. Endres wird unterstützt durch das Berta-Ottenstein-Programm für Advanced Clinician Scientists der medizinischen Fakultät der Universität Freiburg.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Ludger Tebartz van Elst
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Sektion für experimentelle Neuropsychiatrie
Universitätsklinikum Freiburg
Hauptstr. 5
79104 Freiburg

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
02. November 2020

© 2020. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Abb. 1 Pragmatisches Vorgehen bei klinischem Verdacht auf autoimmune Psychose (nach [11]).