Schlüsselwörter
Suizid - psychologische Autopsiestudie - Risikofaktoren - Psychiatrie - Prävention
Keywords
suicide - psychological autopsy - risk factors - mental health - prevention
Einleitung
Weltweit sterben jährlich etwa 800 000 Menschen an einem Suizid [1], in Deutschland sind es ca. 10 000 Menschen pro Jahr [2]. Die Zahl der Suizidversuche liegt noch um ein Vielfaches darüber [1]. Suizide gehören damit nicht nur zu den häufigsten Todesursachen junger Menschen,
sie betreffen immer auch noch andere Personen wie Familien, Partner, Behandler, auffindende
Personen oder andere Beteiligte (z. B. Lokführer oder Rettungskräfte).
Und bei Suiziden handelt es sich grundsätzlich um vermeidbare Todesfälle [3], vor allem, wenn man annimmt, dass ein Großteil der Suizidopfer an behandelbaren
psychischen Erkrankungen [4] leidet.
Wichtige Aspekte der Suizidpräventionsforschung sind die Identifizierung von Risikofaktoren
sowie die Erforschung von Interventionsmöglichkeiten vor Suizidereignissen. Sogenannte
„psychologische Autopsiestudien“ (d. h. retrospektive Analysen zu Suizidopfern) gehören
zu den etablierten methodischen Herangehensweisen [5]. Hierzu werden verfügbare Daten (z. B. Krankengeschichten) ausgewertet, aber auch
Personen aus dem Umfeld der Suizidopfer (z. B. Behandler, Angehörige) befragt. Methodisch
halten viele Autoren diese Art der Herangehensweise für valide, u. a. um dem Suizid
vorangehende Ereignisse und deren Beziehung zum Suizid zu untersuchen [5], wogegen andere Autoren (z. B. [6]) die methodische Qualität von psychologischen Autopsiestudien anzweifeln. Hauptkritikpunkt
ist dabei die Validität der in den meisten Studien festgestellten hohen Rate an Suizidopfern
mit vorangegangener psychischer Erkrankung (teilweise bis zu 90 % [5]).
In der hier vorgestellten Untersuchung wurden Polizeiakten aus dem bayerischen Allgäu
über einen Zeitraum von neun Jahren mit dem Ziel ausgewertet, anhand einer aktuellen
Stichprobe aus Deutschland Charakteristika von Suizidopfern nachzuzeichnen, Motive
zu ermitteln und Möglichkeiten von Präventionsansätzen zu evaluieren.
Methoden
Datenbasis
Datenbasis der Untersuchung waren Ermittlungsakten der Kriminalpolizeiinspektion Kempten
der Jahre 2001 bis 2009. Die Kriminalpolizei ist für die Aufklärung aller unbekannten
Todesursachen zuständig, v. a. bei Verdacht auf Selbsttötung oder Tötung unter Fremdeinwirkung.
Der festgelegte geografische Raum entspricht dem Landgerichtsbezirk Kempten. Somit
sind in der Studie alle Suizidfälle, die in den Landkreisen Ober-, Ostallgäu und Lindau
sowie den kreisfreien Städten Kempten und Kaufbeuren verübt und als solche nach polizeilicher
Ermittlungsarbeit auch beurteilt wurden, enthalten. Nicht enthalten sind Suizide im
Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, da letztere Akten von der Verkehrspolizei archiviert
werden.
Aufbau und Inhalt der Polizeiakten
In den Ermittlungsarbeiten ist die Aufklärung des Tathergangs von großer Bedeutung
(v. a. zur Unterscheidung von Selbst- und Fremdeinwirkung), weshalb die Akten meist
sehr ausführliche Beschreibungen der Leiche und des Tat- und Auffindeortes, oft zusammen
mit viel Fotomaterial, enthielten. Zudem wurde regelhaft nach einem Motiv für eine
bewusst herbeigeführte Selbsttötung gesucht. Deshalb wurden i. d. R. Hinterbliebene,
aber auch behandelnde Ärzte, als Zeugen befragt. In manchen Fällen waren auch ausführliche
Arztberichte angefordert worden. In fast allen Akten waren die Todesbescheinigungen
enthalten. Wenn eine Obduktion angefordert wurde, waren auch die ausführlichen Ergebnisse
davon beigelegt. Sehr genau wurde von den ermittelnden Beamten nach Abschiedsbriefen
gesucht und ggf. der Akte beigelegt. Standardmäßig war in den Akten ein Eingangsprotokoll
mit kurzer Tatbeschreibung, -ort und Uhrzeit sowie ein abschließender kurzer zusammengefasster
Bericht enthalten. In diesem Bericht war meist auch neben der Feststellung der Selbsttötung
noch eine polizeiintern codierte Beschreibung des Motivs festgehalten.
Datenextraktion
Die Datenextraktion orientierte sich an der Studie von Wolfersdorf et al. [7]. An der Datenerfassung waren zwei Ärztinnen und ein Psychologischer Psychotherapeut
beteiligt, die anhand eines Merkmalskatalogs die interessierenden Daten aus den Polizeiakten
extrahierten. Um die Validität der Datenerfassung sicherzustellen, wurden in regelmäßigen
Treffen mehrere Fälle von allen drei Mitarbeitern getrennt ausgewertet und die Daten
anschließend verglichen.
Erfasste Daten
An soziodemografischen Daten wurden Alter, Geschlecht, Zivilstand, Zahl der Kinder, Wohnsituation, Schul- und
Berufsausbildung und berufliche Situation zum Zeitpunkt des Suizids erhoben. An Angaben zum Suizid wurden die Methode (nach ICD-10) und eine eventuelle Beteiligung von anderen Menschen
dokumentiert.
Suizidmotive
Motive für den Suizid wurden zum einen auf Basis der Einschätzungen und Kategorisierung
der Kriminalpolizei Kempten erhoben (siehe Ergebnisse). Zum anderen wurde im Rahmen
des eigenen Aktenstudiums versucht (aus ärztlicher und psychotherapeutischer Sicht),
die Motivation zum Suizid nachzuvollziehen. Wichtigste Basis der Einschätzungen waren
in beiden Fällen Abschiedsbriefe, hinzu kamen Aussagen Hinterbliebener sowie der Gesamteindruck
der Datenerfasser.
Charakteristika der Suizidopfer
Neben allgemeinen soziodemografischen Angaben wurden auch spezifische, aus der Literatur
bekannte Risikofaktoren erhoben [4]. Hierzu zählten u. a. Suizidversuche in der Vorgeschichte, kriminelle Vergehen,
somatische und psychische Vorerkrankungen sowie Suchterkrankungen. Dabei dienten vor
allem Todesbescheinigungen, Arztberichte sowie Aussagen von Angehörigen, falls vorhanden
zusätzlich Obduktionsberichte, als Quellen. Da die meisten der Suizidopfer an mehreren
somatischen Erkrankungen gelitten hatten, wurde der Schweregrad der schwersten somatischen
Grunderkrankung in verschiedenen Abstufungen eingeschätzt.
Ferner wurden potenziell belastende Lebensereignisse aufgenommen (u. a. Verlust von
Bezugspersonen durch Tod, Trennung oder Beziehungsprobleme), wie sie in den untersuchten
Akten fast regelhaft erwähnt wurden.
Suizidankündigungen, Reaktion des Umfelds, präsuizidales Verhalten
Durch die Kriminalpolizei wurde sorgfältig nach Suizidankündigungen und Hinweisen
für auffälliges, präsuizidales Verhalten gesucht. Neben der getrennten Codierung für
„Äußerungen zu Lebensunlust“ und konkreten Suizidankündigungen („Absichtsäußerungen“),
wurde der Abstand der Äußerungen zum Suizidereignis dokumentiert und wem gegenüber
diese Äußerungen getätigt worden waren. Gestützt auf Verhaltensbeschreibungen, die
die Hinterbliebenen bei den Befragungen zu Protokoll gegeben hatten, wurde präsuizidales
Verhalten dokumentiert. Bei expliziter Nennung wurde „unauffällig“ bzw. „so wie immer“
codiert, alternativ die genannten Auffälligkeiten (z. B. „unruhig, nervös“, „gelöst“,
„geplagt von Schuldgefühlen“ etc.). Schließlich interessierte noch die Frage, ob aus
den Ermittlungen der Eindruck entstand, dass der Suizid überraschend für die Hinterbliebenen
gekommen war.
Ethikvotum
Die Akteneinsicht in die Ermittlungsakten der Kriminalpolizei Kempten wurde vom Leitenden
Oberstaatsanwalt für wissenschaftliche Zwecke gemäß § 476 StPO genehmigt. Die Ethikkommission
der Universität Ulm bewilligte die retrospektive Auswertung und Analyse der Suizidfälle
aus den Ermittlungsakten der Polizei (Aktenzeichen 281 /09-UBB/bal).
Ergebnisse
Insgesamt fanden sich Daten zu N = 626 Suiziden. Neben der Tatortbeschreibung, Unterlagen
von Polizei, Feuerwehr etc. wurden im Mittel 2,9 (SD = 2,1) Angehörige befragt. Zusätzlich
lagen in 32 % (n = 197) Hausarztberichte den Akten bei, in 14 % (n = 86) Obduktionsberichte
und in 596 Fällen (95 %) die Todesbescheinigung. Bei 259 Suizidopfern (41 %) wurden
Abschiedsbriefe gefunden und bei 355 kein Abschiedsbrief (57 %, n = 12 bzw. 2 % unklar).
Die Suizidopfer waren überwiegend männlich und eher im höheren Lebensalter. Die meisten
Suizidenten waren zum Zeitpunkt des Suizids berufstätig oder in Altersrente ([
Tab. 1
]). Sogenannte „harte“ Suizidmethoden (Erhängen, Erschießen) wurden am häufigsten
eingesetzt ([
Tab. 2
]). In je fünf Fällen handelte es sich um einen gemeinschaftlich begangenen bzw. um
einen erweiterten Suizid. Die Suizidenten wurden am häufigsten von eigenen Familienmitgliedern
(n = 249, 40 %) aufgefunden, gefolgt von professionellen Helfern (Polizei, Feuerwehr
etc., n = 131, 21 %), Fremden (n = 108, 17 %), Bekannten/Kollegen (n = 52, 8 %), Nachbarn
(n = 48, 8 %) und Behandlern (Pflege, Betreuer etc., N031, 5 %) (n = 6 fehlende Werte).
Tab. 1
Stichprobe, soziodemografische Daten.
|
|
N
|
%
|
Alter
|
15–96 Jahre, MW 55,6 Jahre (SD 18,6)
|
|
|
Geschlecht
|
weiblich
|
175
|
28
|
männlich
|
451
|
72
|
Familienstand
|
ledig
|
174
|
28
|
verheiratet
|
272
|
43
|
geschieden
|
81
|
13
|
verwitwet
|
85
|
14
|
unbekannt
|
14
|
2
|
Zahl der Kinder
|
keine
|
170
|
27
|
1
|
154
|
25
|
2
|
113
|
18
|
3 oder mehr
|
60
|
10
|
unbekannt
|
129
|
21
|
Wohnsituation
|
allein lebend
|
226
|
36
|
mit Partner oder partnerähnliches Wohnverhältnis
|
193
|
31
|
mit Familie oder familienähnliches Wohnverhältnis
|
133
|
21
|
Heimsituation
|
25
|
4
|
unbekannt
|
52
|
8
|
Schulausbildung
|
kein Abschluss
|
1
|
0
|
Förderschule
|
1
|
0
|
Hauptschule
|
87
|
14
|
mittlere Reife, Abschluss an einer Berufsfachschule
|
118
|
19
|
(Fach-)Abitur
|
45
|
7
|
zum Zeitpunkt des Suizids in der Schulausbildung
|
5
|
1
|
sonstiges
|
6
|
1
|
unbekannt
|
363
|
58
|
Berufsausbildung
|
keine bzw. nur angelernt
|
35
|
6
|
abgeschlossene Lehre
|
110
|
18
|
Fach-/Meisterschule
|
88
|
14
|
(Fach-)Hochschule
|
45
|
7
|
zum Zeitpunkt des Suizids in der Berufsausbildung
|
12
|
2
|
sonstiges
|
9
|
1
|
unbekannt
|
327
|
52
|
berufliche Situation zum Zeitpunkt des Suizids
|
vollzeitberufstätig
|
171
|
27
|
teilzeitberufstätig
|
10
|
2
|
Hausfrau/Hausmann
|
28
|
4
|
in Ausbildung
|
18
|
3
|
arbeitslos
|
56
|
9
|
frühberentet
|
30
|
5
|
Altersrente
|
221
|
35
|
sonstige
|
23
|
4
|
unbekannt
|
69
|
11
|
Tab. 2
Suizidmethode.
|
|
N
|
%
|
Suizidmethode
|
Erhängen, Strangulieren, Ersticken
|
286
|
46
|
Vergiftung
|
96
|
15
|
Sturz in die Tiefe
|
72
|
12
|
Erschießen mit Feuerwaffe
|
56
|
9
|
Werfen/Liegen vor bewegendem Objekt
|
42
|
7
|
Ertrinken, Untergehen
|
30
|
5
|
Stichwunde mit scharfem Gegenstand
|
18
|
3
|
Selbstschädigung durch Feuer, Flammen oder Rauch
|
7
|
1
|
Verletzung mit stumpfem Gegenstand
|
1
|
0
|
Verkehrsunfall
|
1
|
0
|
sonstiges
|
12
|
2
|
Suizidmethode unklar
|
5
|
1
|
Suizidmotive
Aus Sicht der Kriminalpolizei lag den Suiziden in etwa 60 % der Fälle eine Krankheit
oder ein Nervenleiden zugrunde. Aus Sicht der Untersucher waren psychosoziale Belastungssituationen
zusätzlich wichtige Suizidmotive ([
Tab. 3
]).
Tab. 3
Suizidmotive.
|
N
|
%
|
Einschätzung der Kriminalpolizei
|
Krankheit, Schwermut, Nervenleiden
|
366
|
59
|
Familienzwistigkeiten
|
47
|
8
|
wirtschaftliche Notsituation
|
40
|
6
|
Liebeskummer
|
29
|
5
|
Angst vor Strafe
|
13
|
2
|
Drogenabhängigkeit
|
6
|
1
|
sonstige Gründe bzw. unbekannt (in der Akte auch als wörtlich „unbekannt“ festgehalten)
|
40
|
6
|
keine Angabe in der Akte
|
85
|
14
|
Einschätzung der Untersucher
|
Probleme bei/mit körperlicher Erkrankung
|
165
|
27
|
depressive Symptomatik
|
147
|
24
|
Partnerschaftsprobleme
|
94
|
15
|
finanzielle Probleme
|
72
|
12
|
Alkoholprobleme
|
48
|
8
|
Schande/Schuldgefühle
|
39
|
6
|
Probleme Arbeit/Schule
|
36
|
6
|
Vereinsamung/Isolierung
|
33
|
5
|
Probleme in Familie/weiteren Umkreis
|
32
|
5
|
Verlust einer Person
|
27
|
4
|
nicht objektivierbare Angst vor körperlicher Erkrankung
|
26
|
4
|
andere psychische Erkrankungen
|
19
|
3
|
Angst vor Strafen/Strafverfahren
|
18
|
3
|
Probleme mit Wohnung/Veränderung Wohnsituation
|
7
|
1
|
sonstiges
|
70
|
11
|
keine Gründe auffindbar
|
122
|
20
|
Charakteristika der Suizidopfer/Risikofaktoren
Mindestens 20 % der Suizidopfer hatten bereits Suizidversuche in der Vorgeschichte.
Etwa ein Drittel litt vor dem Suizid an einer diagnostizierten psychischen Erkrankung
und war deshalb in fachärztlicher Behandlung, bei weiteren 20 % gab es in den Akten
Hinweise, dass z. B. der Hausarzt eine psychische Erkrankung vermutet hatte. Bei der
Hälfte der Suizidenten gab es dagegen keine belastbaren Hinweise auf das Vorliegen
einer psychischen Erkrankung.
Etwa die Hälfte litt unter teils schweren somatischen Erkrankungen und immerhin 16 %
waren bereits mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Hinweise auf negative Lebensereignisse
im Vorfeld des Suizids fanden sich bei 480 Suizidenten (77 %), davon ereigneten sich
die meisten der insgesamt 703 Ereignisse innerhalb eines Jahres vor dem Suizid (n = 525,
75 %) und nur n = 45 (6 %) länger als ein Jahr zuvor (n = 133 bzw. 19 %: unklarer
Zeitpunkt). Nur 42 Suizidopfer (7 %) wiesen keinen der genannten Risikofaktoren auf,
149 (24 %) einen und 435 (69 %) zwei oder mehr.
Suizidankündigungen, Reaktion des Umfelds, präsuizidales Verhalten
Bei 48 % der Suizidopfer (n = 296) gab es v. a. laut Angaben der Hinterbliebenen konkrete
Ankündigungen des Suizids bzw. zumindest Äußerungen in Richtung Todessehnsucht ([
Tab. 5
]). Davon erfolgten n = 129 (44 %) der Äußerungen innerhalb der letzten Woche vor
dem Suizid. Adressaten der Suizidankündigungen waren in erster Linie Familienangehörige
oder Partner (81 %), nur in 14 % professionelle Anlaufstellen und hier v. a. Hausärzte.
In der überwiegenden Mehrheit erfolgte die Suizidankündigung dabei im persönlichen
Gespräch und nur in Einzelfällen mittels Briefen, SMS o. Ä.
Tab. 4
Charakteristika der Suizidopfer/Risikofaktoren.
|
|
N
|
%
|
Suizidversuche in der Vorgeschichte
|
ja
|
135
|
22
|
nein
|
310
|
50
|
unbekannt
|
181
|
29
|
Hinweise auf eine psychische Erkrankung
|
ja, da Person mindestens einmal in stationärer psychiatrischer Behandlung war
|
142
|
23
|
ja, da Person in ambulant psychiatrischer oder psychologischer Behandlung war
|
59
|
9
|
„wahrscheinlich“, da Person vom Hausarzt (o. Ä.) als psychisch krank eingeschätzt
wurde
|
89
|
14
|
„vermutlich“, da die Person im Umfeld als psychisch auffällig galt (jedoch ohne Behandlung)
|
131
|
21
|
laut Akte keine psychische Erkrankung bekannt
|
125
|
20
|
unbekannt/sonstiges (d. h. in der Akte finden sich keine Angaben zu möglichen psychischen
Vorerkrankungen)
|
80
|
13
|
Hinweise auf eine Suchterkrankung (Mehrfachnennung möglich)
|
diagnostizierte Alkoholabhängigkeit
|
47
|
8
|
diagnostizierte Medikamentenabhängigkeit
|
6
|
1
|
diagnostizierte Abhängigkeit von illegalen Drogen
|
13
|
2
|
Hinweise auf somatische Erkrankungen
|
Hinweise, dass eine somatische Erkrankung vorlag
|
304
|
49
|
Hinweise, dass keine somatische Erkrankung vorlag
|
126
|
20
|
unbekannt
|
196
|
31
|
Schweregrad der „schwersten somatischen Grunderkrankung“ (N = 304)
|
akute, in der Regel gut behandelbare Erkrankung
|
26
|
9
|
in absehbarer Zeit tödlich verlaufende Erkrankung
|
36
|
12
|
eine chronische oder rezidivierende, belastende Erkrankung
|
129
|
42
|
schwere Erkrankung, deren Ausgang nicht prognostizierbar ist
|
45
|
15
|
gut behandelbare Erkrankung, kaum Einschr. d. Lebensqualität
|
27
|
9
|
sonstige/nicht beurteilbar
|
41
|
13
|
Hinweise auf negative Lebensereignisse (n = 703 Ereignisse in 480 Fällen), Mehrfachnennung
möglich
|
Verlust von Gesundheit
|
157
|
22
|
Trennung oder Beziehungsprobleme
|
129
|
18
|
psychiatrischer Krankenhausaufenthalt
|
77
|
11
|
Verlust von Arbeit
|
62
|
9
|
Verlust nahestehender Person durch Tod
|
57
|
8
|
finanzielle Verluste
|
47
|
7
|
Konflikt mit Gesetz
|
41
|
6
|
sonstiges
|
133
|
19
|
Hinweise auf kriminelle oder fremdaggressive Vergehen
|
mindestens eine Straftat in der Vorgeschichte
|
98
|
16
|
keine Straftat in der Vorgeschichte
|
129
|
21
|
unbekannt
|
399
|
64
|
Tab. 5
Hinweise auf Suizidankündigungen und Reaktion des Umfeldes, präsuizidales Verhalten.
|
|
N
|
%
|
Hinweise auf Suizidankündigungen in den Akten
|
mehrmalige suizidale Absichtsäußerungen
|
160
|
26
|
vereinzelte oder einmalige suizidale Absichtsäußerungen
|
99
|
16
|
keine konkrete suizidale Absichtsäußerung, aber ggf. passive Todeswünsche o. Ä.
|
37
|
6
|
unbekannt/keinerlei als suizidal zu interpretierende Hinweise
|
330
|
53
|
Ansprechpartner für Suizidankündigung (Mehrfachnennungen möglich) n = 296
|
Familie/Partner
|
241
|
81
|
Freundes-/Bekanntenkreis
|
65
|
22
|
professionelle Anlaufstellen (u. a. Hausärzte)
|
41
|
14
|
anonyme Anlaufstellen
|
2
|
0
|
sonstiges
|
36
|
12
|
Das Verhalten der Suizidenten in der Zeit vor dem Suizid („präsuizidales Verhalten“)
wurde in 36 % der Fälle (n = 222) als „normal“ oder „so wie immer“ wahrgenommen und
in 103 Fällen war aus den Akten keine Information hierzu zu entnehmen (17 %). In den
verbliebenen 301 Fällen berichteten die Hinterbliebenen über Verhaltensauffälligkeiten,
wobei Depressivität und Rückzug am häufigsten (134 bzw. 21 %; 69 bzw. 11 %) genannt
wurden. Eine „gelöste Stimmung“ oder „Heiterkeit“ wurde insgesamt 27-mal (4 %) genannt.
Die Frage, ob der Suizid für die Hinterbliebenen überraschend kam, wurde in 333 Fällen
(53 %) bejaht, in 116 Fällen verneint (19 %), und bei 177 Fällen (28 %) konnte anhand
der Akte keine eindeutige Aussage dazu abgeleitet werden.
Diskussion
Wichtigste Ergebnisse
Die untersuchten Suizidenten stellen eine hochbelastete Bevölkerungsgruppe dar, in
der sich Risikofaktoren für Suizide überzufällig häufig finden. Hier hätte zumindest
ein Suizidrisiko angenommen werden können. Zudem haben fast die Hälfte der Suizidenten
ihren Suizid zuvor deutlich angekündigt, sodass hier die theoretische Möglichkeit
einer rechtzeitigen Intervention bestanden hätte.
Stärken und Schwächen der Untersuchung
Für Deutschland liegen unseres Wissen nach bisher nur zwei psychologische Autopsiestudien
vor [7]
[8]. Stärken der vorliegenden Untersuchung sind demnach die Größe [9] sowie die Repräsentativität der Stichprobe, d. h. es wurden nicht, wie sonst oft
üblich, nur ausgewählte Gruppen (z. B. Suizidenten aus psychiatrischen Kliniken) in
die Untersuchung eingeschlossen. Der Umfang und die Gründlichkeit der kriminalpolizeilichen
Ermittlungen, die aus der Anzahl der befragten Hinterbliebenen, Vorhandensein von
Arztberichten und Abschiedsbriefen etc. ablesbar ist, bietet zudem eine breite Datengrundlage.
Einschränkend ist zu erwähnen, dass kriminalpolizeiliche Arbeit eben nicht vorrangig
der Untersuchung von Suizidursachen oder Präventionsstrategien dient, sondern Fremdeinwirkung
ausschließen soll. Zudem liefern die Befragungen der Hinterbliebenen möglicherweise
verzerrte Einschätzungen, da sie retrospektiv nach dem Suizid erfolgten und Einflüsse
wie Schuldgefühle o. Ä. nicht auszuschließen sind. Weiterhin sind die Quelldaten nicht
von psychiatrisch/psychologisch geschulten Personen erhoben, sondern eben von Polizeibeamten.
Diese Einschränkungen weisen auf ein vielfach diskutiertes Dilemma mit der Methodik
der psychologischen Autopsiestudien hin. Zwar bietet dieser Studienansatz die gute
Möglichkeit Beziehungen zwischen (Lebens-)Ereignissen oder Eigenschaften der Suizidenten
und den Suizidereignissen zu untersuchen, die Daten werden aber retrospektiv und mit
Wissen um das Suizidereignis erhoben, so dass sie möglicherweise methodischen Verzerrungen,
etwa in Richtung einer zu hohen angenommenen Rate an psychischen Erkrankungen, unterliegen
[6]. Die zuvor als methodische Schwäche diskutierte Tatsache, dass in unserer Studie
keine psychiatrisch geschulten Mitarbeiter nach möglichen psychischen Vorerkrankungen
gesucht haben, könnte also auch eine Stärkte des Projekts sein, in dem die mögliche
Verzerrung in Richtung einer retrospektiven Psychiatrisierung der Suizidopfer ausgeblieben
ist.
Um ein besseres „Verstehen“ der Suizidereignisse zu ermöglichen und die diskutierten
methodischen Unsicherheiten abzuschwächen, werden deshalb vielfach ergänzende qualitative
Untersuchungen gefordert [10].
Entsprechen die Ergebnisse dem, was bekannt ist?
Das Geschlechterverhältnis (dreimal mehr Männer als Frauen) und das relativ hohe Durchschnittsalter
entspricht den Ergebnissen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes und der Länder
[11]. Hinsichtlich der angewandten Suizidmethoden ist Erhängen mit etwa 50 % in Europa
überwiegend die häufigste – das entspricht auch unseren Ergebnissen. Es gibt aber
möglicherweise regionale Besonderheiten [12], die sich auch in unserem Datensatz widerspiegeln. So ist der Sturz aus Höhe als
Suizidmethode mit 12 % häufiger als in anderen Berichten, was vielleicht durch die
geografischen Besonderheiten einer alpenländischen Region bedingt ist.
Suizide als Folge psychischer Störungen?
Große Metanalysen [5]
[9]
[13] gehen davon aus, dass bei mehr als 80 % der Suizidenten in europäischen Ländern
eine psychiatrische Diagnose zu stellen war. Daraus wird in der Regel geschlussfolgert,
dass psychische Erkrankungen, vor allem Depressionen, der entscheidende Risikofaktor
für Suizide sind [14]. Dabei wird davon ausgegangen, dass depressive Symptomatik ein erfolgreiches Auseinandersetzen
mit negativen Lebensereignissen einschränkt bzw. negative Lebensereignisse erst durch
die „depressive Brille“ zu solchen werden. Depression ist demnach der wichtigste zugrunde
liegende Auslöser für Suizidalität, der konsequent behandelt werden muss [14].
Diese Schlussfolgerung lässt sich auch im vorliegenden Datensatz für viele Patienten
nachvollziehen. So hatten ca. 50 % der Suizidenten eine diagnostizierte bzw. vermutete
psychische Erkrankung und es lagen gleichzeitig, z. T. mehrere negative Lebensereignisse
vor. Hier wären ggf. verstärkte psychiatrisch/psychotherapeutische Interventionen
(z. B. Pharmakotherapie oder Psychotherapie) notwendig und ausreichend gewesen, die
suizidale Krise aufzulösen.
Andererseits war aber bei fast 50 % der Suizidenten in unserer Untersuchung zum Zeitpunkt
des Suizids keine psychische Störung diagnostiziert worden bzw. fanden sich für eine
solche keinerlei Hinweise in den Ermittlungsakten. Bezüglich der Suizidmotive fanden
sich in etwa der Hälfte der Fälle Hinweise auf psychische Erkrankungen, in der anderen
Hälfte nicht, wogegen es Belege für negative Lebensereignisse bei fast allen Suizidenten
gab. Entsprechend halten wir eine kritische Diskussion der Frage, ob Suizidenten wirklich
überwiegend manifest psychisch krank sind, für notwendig [15]
[16]. Hierbei muss bedacht werden, dass die Diagnosezuschreibungen in den Untersuchungen
i. d. R. retrospektiv erfolgen. Dabei besteht die Gefahr, dass die Befragten einem
Bewertungsfehler im Sinne eines retrospektiven confirmation bias [17] unterliegen: Wenn sich jemand suizidiert hat, werden aus der Kenntnis dieses Ereignisses
zuvor gezeigte Verhaltensweisen als auffällig bewertet, auch wenn sie möglicherweise
in der Situation nicht so erlebt worden wären.
Die Alternativerklärung wäre, dass Psychopathologie/psychische Erkrankung als Haupterklärung
für Suizidhandlungen nicht ausreicht. So ist z. B. eine depressive Erkrankung einer
der am besten belegten Risikofaktoren, andererseits begehen nur die wenigsten der
depressiv Erkrankten tatsächlich einen Suizid [18]. Suizidhandlungen wären dann vielmehr als ein Zusammenspiel psychopathologischer,
psychosozialer und persönlichkeitsgebundener Faktoren zu sehen. Diese Annahme hätte
dann auch praktische Konsequenzen für die Suizidprävention, die dann eben nicht überwiegend
auf die Erkennung und Behandlung psychischer Störungen fokussieren darf.
Präventionsmöglichkeiten und Versorgungsangebote
Jeder Suizid ist einer zu viel. Suizide bedürfen deswegen entsprechender Präventionsstrategien,
um ihre Zahl weiter deutlich zu reduzieren. Zugleich sind sie statistisch gesehen
relativ seltene Ereignisse mit einer Häufigkeit von zwischen 12 und 15 pro 100 000
Einwohnern in Deutschland. Auch wenn insgesamt eine gute Kenntnis von Risikofaktoren
besteht [3]
[4], so gelingt es nur sehr eingeschränkt, daraus Modelle zu entwickeln, im Einzelnen
Risikopersonen zu identifizieren, bei denen eine konkrete Suizidgefahr besteht [4].
In unserer Stichprobe zeigten aber viele Suizidenten eine Kombination aus mehreren
Risikofaktoren und hatten gleichzeitig ihren Suizid konkret angekündigt. Mindestens
für diese Gruppe (also Patienten, die suizidale Gedanken äußern und Risikofaktoren
für einen Suizid haben) müssen Präventionsmöglichkeiten verbessert werden, zumal diese
Präventionsansätze auch für „falsch positive“ Fälle (also Personen, die nie einen
Suizid begangen hätten) hilfreich sein dürften. Aus unseren Daten kann auch abgeleitet
werden, wo derartige Interventionen ansetzen müssen, nämlich bei den Hausärzten und
den Angehörigen der suizidalen Personen. Für die Seite der Hausärzte gibt es bereits
konkrete Ansätze [19], in denen vermittelt wird, depressive Symptome und Warnzeichen für einen Suizid
besser einzuschätzen und mit suizidalen Krisen besser umzugehen.
Aufseiten der Angehörigen gibt es zu wenig spezifische Hilfsangebote. Deswegen wurden
wohl trotz der konkreten Suizidankündigungen an Angehörige allzu oft Interventionsmöglichkeiten
nicht genutzt. Wir vermuten, dass das Wissen darum, wer in welcher Krisen- oder Notfallsituation
akut Hilfe gewähren kann, in der Allgemeinbevölkerung nicht ausreichend ist. Dazu
dürften auch Schwierigkeiten kommen, Suizidäußerungen adäquat zu bewerten und somit
zu erkennen. Das gelingt im Einzelfall auch „Profis“ nicht, was beispielsweise die
Häufigkeit von Suiziden im psychiatrischen Krankenhaus widerspiegelt. Der/die ungeschulte
Angehörige ist damit zwangsläufig überfordert.
Fazit
Suizidprävention muss also unseres Erachtens auf die geeignetere Reaktion von Mitmenschen
auf die Ankündigung eines Suizids zielen und klare Konzepte der spezifischen Krisen-
oder Notfallversorgung vorhalten, die weithin bekannt sowie niedrigschwellig und rund
um die Uhr verfügbar sein müssen. Mit Interesse wird zu beobachten sein, ob etwa die
Ausweitung des Angebots der psychiatrischen Krisendienste, die mit dem neuen Bayerischen
Psychisch-Kranken-Hilfegesetz zukünftig unter einer bayernweit einheitlichen Rufnummer
rund um die Uhr erreichbar sind, die Versorgungssituation diesbezüglich verbessern
wird. Zu hoffen ist dies.
Konsequenzen für Klinik und Praxis
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Suizidenten stellen eine hochbelastete Bevölkerungsgruppe dar. Risikofaktoren für
Suizide sind u. a. höheres Alter, männliches Geschlecht, psychische Vorerkrankungen
und negative Lebensereignisse.
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Fast die Hälfte der Suizidenten kündigt ihren Suizid zuvor deutlich an.
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Präventionsansätze sollten auch auf die Erkennung von Suizidgedanken durch Angehörige
und Hausärzte und deren adäquate Reaktion zielen.