Diese Relevanz spiegelt sich in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens
wider. So setzen sich u. a. Kunst und Kultur damit auseinander: Filme wie „Tomboy“
oder „Danish Girl“ beschäftigen sich mit nonkonformen Geschlechtsidentitätsentwicklungen
im Sinne von Transgenderphänomenen. Zudem konfrontieren uns künstlerisch stilisierte
Personen wie Conchita Wurst bewusst mit unseren überholten Ansichten zu binärer Geschlechtsidentität.
Auch in der Modebranche ist das Thema angekommen: H & M oder Zara kreieren „gender
neutral Collections“ und leisten damit einen Beitrag für die Anerkennung nonbinärer
Konzepte der Geschlechtsidentität.
Radikale Umbrüche und Paradigmenwechsel zeigen sich im Umgang mit diesen Phänomenen.
So sehen wir ein grundlegend verändertes Herangehen der Medizin an die Versorgung
von Säuglingen mit intersexuellem Genitale. Diese Entwicklung wurde maßgeblich von
AktivistInnen der Betroffenenbewegungen initiiert.
Kinder und Jugendliche beschäftigen sich intensiver und öffentlicher mit ihrer Geschlechtsidentitätsentwicklung
(vgl. [Abb. 1]). In kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanzen meldet sich eine wachsende Anzahl
von Kindern und Jugendlichen, die mit ihrem biologisch zugewiesenen Geschlecht hadern
und nach geschlechtsangleichenden Maßnahmen oder einer Hormontherapie fragen.
Abb. 1 Kinderzeichnung „Einstein im Kleid“.
Seit 2010 beschäftigt sich die Bundesregierung mit dem Thema Intersexualität und beauftragte
den Deutschen Ethikrat mit einer Stellungnahme. Es gab öffentliche Anhörungen und
Diskussionen, die gut dokumentiert sind [1]. 2013 erfolgte eine erste Veränderung des Personenstandsgesetzes (PStG), die es
ermöglichte, den Geschlechtseintrag für Neugeborene offen zu lassen. 2018 folgte eine
zweite Änderung, die den Eintrag „divers“ ermöglicht. Offensichtlich ist der betroffene
Personenkreis jedoch relativ klein. Aktuell bewegen sich die Anträge für den Geschlechtseintrag
„divers“ im niedrigen 2-stelligen Bereich pro Jahr [2].
FrauenärztInnen werden in ihrem klinischen Alltag gelegentlich konfrontiert sein mit
Patientinnen, die der Gruppe der Menschen mit intersexueller oder Transgenderidentität
zugehörig sind. In diesem Beitrag wird ein Überblick zu den Themen Intersexualität
und Transgender gegeben (vgl. [Tab. 1]). Zum erstgenannten Themenbereich werden die aktuellen Empfehlungen zum Umgang mit
intersexuellen Neugeborenen und der damit verbundenen medizinethischen Debatte dargelegt.
Zum zweiten Transgenderthema wird ebenfalls das aktuell empfohlene leitliniengerechte
Vorgehen und die kontroverse Debatte dargestellt, die insbesondere die frühe Hormontherapie
bei geschlechtsdysphoren Kindern betrifft.
Tab. 1 Gegenüberstellung von Intersexualität und Transgender.
Intersexualität
|
Transgender
|
biologisches Geschlecht mehrdeutig
|
biologisches Geschlecht eindeutig
|
offene Geschlechtsidentitätsentwicklung
|
Diskrepanz zwischen biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität
|
Zuerst ist jedoch ein Überblick über die Begrifflichkeiten erforderlich. In [Tab. 2] sind die derzeitig üblichen Begriffe und deren Erklärungen dargestellt. Diese Übersicht
erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist einem stetigen Wandel unterzogen.
Tab. 2 Wichtige ausgewählte Begriffe [22], [23].
Begriff
|
Definition
|
Genderqueer
Fluid Gender
Non-binary Gender
|
Geschlechtsidentität, die nicht dichotom zwischen männlich und weiblich unterscheidet,
diese Personen zeigen sowohl männliche als auch weibliche Attribute der Geschlechtsidentität
oder auch keine Merkmale dieser Geschlechterrollen
|
Geschlechtsdysphorie (GD)
|
Unbehagen oder Leiden, das aus der Diskrepanz zwischen der Geschlechtsidentität und
dem bei Geburt biologisch zugewiesenen Geschlecht resultiert (DSM-V-Begriff, der die
GIS ablöst)
|
Geschlechtsidentität
|
internalisierter tief verankerter Sinn für die eigene Geschlechtszugehörigkeit als
Teil der Identität
|
Geschlechtsidentitätsstörung (GIS)
|
veralteter Diagnosebegriff der ICD-10 für Menschen, die sich nicht mit ihrem biologisch
zugewiesenen Geschlecht identifizieren können
|
Geschlechtsinkongruenz
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vorgeschlagener Begriff für die ICD-11 für Menschen, die sich nicht mit ihrem biologisch
zugewiesenen Geschlecht identifizieren können
|
Geschlechtsnonkonformität
|
geschlechtlicher Ausdruck der Person unterscheidet sich von den kulturellen Normen,
die von Menschen mit einem bestimmten Geschlecht erwartet werden
|
Intersexualität
Varianten der Geschlechtsentwicklung
|
körperliche Geschlechtsmerkmale entsprechen nicht alle einem Geschlecht, Zwischengeschlechtlichkeit
|
LGBTQIA+
|
steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, queere, intersexuelle
und asexuelle Menschen
|
Transgender
|
Überbegriff für Personen, deren Geschlechtsidentität und -ausdruck mit dem biologisch
vorliegenden Geschlecht differiert
|
Transsexualität
|
Personen, die sich nicht dem biologisch bei Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig
fühlen, in der anderen Geschlechterrolle leben möchten und häufig auch Geschlechtsumwandlungen
anstreben („im falschen Körper gefangen“)
|
Transvestitismus
|
Tragen der Bekleidung des anderen Geschlechts, unabhängig von der sexuellen Orientierung,
kommt sowohl unter Heterosexuellen als auch unter Homosexuellen vor
|
Intersexualität (Varianten der Geschlechtsentwicklung)
Varianten der sexuellen Entwicklung (DSD = differences of sex development), die wir
gemeinhin als Intersexualität bezeichnen, haben vielfältige Ursachen. Relativ bekannt
sind zum Beispiel das adrenogenitale Syndrom (AGS), das bei weiblichem Karyotyp (46,XX)
infolge von Enzymdefekten zu einer Störung der Steroidsynthese mit Überproduktion
von Androgenen und damit einhergehender Virilisierung der weiblichen Neugeborenen
einhergeht. Weiterhin gut bekannt sind geschlechtschromosomal bedingte Störungsbilder,
wie das Turner-Syndrom (45,X0) oder das Klinefelter-Syndrom (47,XXY). Aber auch Störungen
der Androgensynthese bei männlichem Karyotyp (46,XY) gehören dazu. Die Aufzählung
ist damit bei Weitem nicht vollständig. Bedeutsam für das weitere Verständnis ist,
dass insgesamt sehr verschiedene Störungen zu den Varianten der sexuellen Entwicklung
zählen, die mit intersexuellem Genitale einhergehen können.
In den fünfziger Jahren wurde von John Money, einem amerikanischen Sexualwissenschaftler,
ein Konzept zum Umgang mit intersexuellen Neugeborenen entwickelt, welches eine frühe
Festlegung auf ein Geschlecht beinhaltete und damit einhergehend korrigierende chirurgische
Interventionen [3]. Die betroffenen Eltern wurden dazu angehalten, das Kind in dem zugewiesenen Geschlecht
zu erziehen. Eine ganze Reihe dieser betroffenen Kinder haben diese chirurgischen
Maßnahmen als traumatisierend erlebt. Weiterhin klagten Betroffene über einen massiven
Eingriff in ihr Selbstbestimmungsrecht und ihr Recht auf einen unversehrten Körper.
Schließlich lösten gezielte Aktionen der Betroffenenbewegung eine Debatte unter Medizinern
und Sexualwissenschaftlern aus, die in Deutschland schließlich in einer Anhörung vor
dem Deutschen Ethikrat 2011 mündete und zu weitreichenden Änderungen des per Leitlinien
und Konsensuspapieren empfohlenen Vorgehens führte. Frühe
operative Eingriffe ohne dringende medizinische Notwendigkeit werden nicht mehr
empfohlen. Dagegen wird eine abwartende Haltung präferiert, die es den Betroffenen
erlaubt, in einem entsprechenden Alter (ca. 14 Jahre) mit zu entscheiden über etwaige
geschlechtsangleichende Maßnahmen. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte und die Entwicklung
einer eigenen Geschlechtsidentität sowie die körperliche Unversehrtheit werden deutlich
stärker gewichtet. In einem in der renommierten Zeitschrift „Nature Reviews Endocrinology“
veröffentlichten Konsensuspapier werden entsprechende Empfehlungen formuliert [4]. Als wichtige Eckpfeiler im Rahmen der psychosozialen Beratung benennen die Autoren
die Vermittlung der Problematik als natürliche Variante der menschlichen Entwicklung,
die Besprechung der Geschlechtsidentitätsentwicklung unter Zuhilfenahme eines nonbinären
Konzepts und die Akzeptanz individueller Entwicklungen. Nicht zuletzt sollen alle
nicht
dringlichen Interventionen aufgeschoben und mit den Betroffenen in Ruhe besprochen
werden. Das betroffene Kind sollte möglichst in einem Alter sein, wo es die Tragweite
der Entscheidungen beurteilen kann (ca. 14 Jahre).
Entsprechend dem Konzept einer nonbinären Geschlechtsidentität als Grundlage für die
Beratung der betroffenen Familien geht man heutzutage von einem dimensionalen Konstrukt
der Geschlechtsidentität aus. Dies beinhaltet nicht nur entweder eine weibliche oder
männliche Identität, sondern sieht auch alle möglichen Abstufungen zwischen beiden
vor. Demnach ist auch eine intersexuelle Identität denkbar und möglich.
Unter Jugendlichen sind nonbinäre Geschlechtsidentitätsentwicklungen nicht so selten:
1,9 bis 4,6% zeigen eine ambivalente Geschlechtsidentität (auch als „fluid gender“
oder „genderqueer“ bezeichnet; [5], [6]). Unter Kindern und Jugendlichen mit einer Transgenderentwicklung ist dieses Phänomen
sogar recht häufig mit über 40% [7]. Diese Tatsache sollte man sich in Anbetracht eventuell gewünschter geschlechtsangleichender
Maßnahmen vergegenwärtigen. In der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie
sollte mit diesen deshalb auch das Konzept der nonbinären Geschlechtsidentität besprochen
und eine voreilige Hormonbehandlung vermieden werden.
Transgender
Im zweiten Teil dieses Beitrags folgen Ausführungen zum Themenbereich Transgender
und Geschlechtsdysphorie.
Zunächst ein kurzer Einstieg in die Thematik über die Darstellung der Entwicklung
der Geschlechtsidentität. Kleinkinder durchleben die Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität
in Phasen [8]: In der ersten Phase, die etwa mit 1½ Jahren abgeschlossen ist, bildet sich eine
gewisse Geschlechtszugehörigkeit heraus. Das Kind entwickelt eine Überzeugung, männlich
oder weiblich zu sein. Die Phase wird deshalb als „gender labeling“ bezeichnet. Anschließend
bildet sich eine erste Form der Geschlechtsrollenidentität heraus, die in der 2. Hälfte
des 2. Lebensjahres abgeschlossen ist und auch als „gender identity“-Phase bezeichnet
wird. Gefolgt wird sie von der Ausgestaltung der eigenen Geschlechtsidentität im Alltag
in Form eines geschlechtstypischen Repertoires an Verhalten und Gesten. Es handelt
sich um die Phase der „gender role stereotypes“, welche vom 2. bis 3. Lebensjahr und
etwas darüber hinaus reicht. Schließlich ist dem Kind zunehmend bewusst, dass
die eigene Geschlechtsidentität etwas Bleibendes ist. Diese Phase wird deshalb
auch „gender stability“ und im weiteren Verlauf „gender constancy“ genannt. Zu einem
vorläufigen ersten Abschluss der Geschlechtsidentitätsentwicklung kommt es im 5. bis
6. Lebensjahr. Zu diesem Zeitpunkt gibt es auch die ersten Vorstellungen von Kindern
bei Kinderärzten, die sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen oder gar im Sinne
einer Geschlechtsdysphorie darunter leiden. Betroffene Eltern stellen häufig die Frage,
wie sich diese Kinder weiterentwickeln. Ist mit einer transsexuellen oder homosexuellen
Entwicklung zu rechnen?
Zunächst einmal muss berücksichtigt werden, dass die Entwicklung der Geschlechtsidentität
noch nicht abgeschlossen ist, sondern im Rahmen der Pubertät noch einmal zu einem
bestimmenden Thema wird. Die Jugendlichen setzen sich mit der eigenen Geschlechtsidentität
intensiv auseinander, sie machen erste sexuelle Erfahrungen und die sexuelle Orientierung
bildet sich heraus. Eine ganze Reihe von Wissenschaftlern geht mittlerweile davon
aus, dass die Geschlechtsidentitätsentwicklung das ganze Leben über anhält und auch
im Erwachsenenalter noch Modifikationen erfährt.
Untersuchungen zur Persistenz der Varianten der Geschlechtsidentitätsentwicklung zeigen,
dass eine ganze Reihe der Kinder mit einer sogenannten Geschlechtsidentitätsstörung
im jungen Erwachsenenalter eine homosexuelle oder bisexuelle Orientierung aufweisen.
In der ersten Untersuchung von Green [9] waren es 75 – 80%. In den nachfolgenden Untersuchungen zeigen sich etwas geringere
Häufigkeiten mit 50 – 60% [10]. Die Geschlechtsidentitätsstörung scheint im Kindesalter eine geringe Persistenz
bis ins junge Erwachsenenalter aufzuweisen: Bei Green [9] waren es etwas über 2%. Zucker und Bradley [10] fanden 12% und die neueren Untersuchungen von Cohen-Kettenis [11] sowie Wallien und Cohen-Kettenis [12] schließlich ca. 16 respektive 27%. Befragt man transidente Jugendliche zu ihrem
Festhalten an
geschlechtsangleichenden Maßnahmen, so erhält man Häufigkeiten zwischen 43 und
66% [10], [13], [14].
Es kann zusammengefasst werden: Je jünger das Kind, desto unsicherer die Prognose
bezüglich einer transsexuellen Entwicklung. Damit sollte bei jüngeren Kindern mit
Geschlechtsidentitätsproblematik eine abwartende Haltung eingenommen werden [15]. Zudem wünschen bei Weitem nicht alle genderdysphoren Jugendliche geschlechtsangleichende
Maßnahmen inklusive einer Hormontherapie, sodass auch bei dieser Gruppe Zurückhaltung
und eine kontinuierliche psychologische Begleitung und Beratung erforderlich ist.
In den 90er-Jahren hat sich eine niederländische Forschergruppe um Peggy Cohen-Kettenis
intensiv mit der Betreuung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen befasst, die
mit ihrem biologischen Geschlecht große Probleme hatten und im Sinne einer Geschlechtsidentitätsstörung
(überholter Begriff aus der ICD-10) oder Transsexualität eine Geschlechtsumwandlung
anstrebten. Die Untersuchungen dieser Gruppe erbrachten Hinweise darauf, dass eine
pubertätsbremsende Hormonbehandlung mit GnRH-Analoga die seelischen Leiden dieser
Kinder und Jugendlichen linderte und dass die geschlechtsangleichenden Maßnahmen durch
Gabe von gegengeschlechtlichen Sexualhormonen und schließlich geschlechtsangleichende
chirurgische Maßnahmen zu einer deutlichen Besserung der seelischen Gesundheit führten
[16], [17]. An dem Behandlungsprotokoll dieser Amsterdamer Klinik [18] orientierten sich im Weiteren die
Erstellung verschiedener Leitlinien zur Behandlung dieser Kinder und Jugendlichen
(Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie – DGKJP, Endocrine Society
inklusive Pediatric Endocrine Society, World Professional Association for Transgender
Health – WPATH).
Diese Leitlinien empfehlen aktuell etwa folgendes Vorgehen: Zunächst wird eine psychologische
Abklärung und Beratung empfohlen, die als Vorbehandlung mindestens 6 Monate dauern
sollte und Folgendes beinhaltet:
-
diagnostische Einschätzung der Geschlechtsdysphorie und aller anderen gleichzeitig
bestehenden psychischen Probleme
-
Einschätzung, ob die Geschlechtsdysphorie Ausdruck eines anderen seelischen Problems
ist
-
Aufklärung über alle Therapieoptionen, Möglichkeiten und Grenzen der Behandlungsmethoden
und über den wahrscheinlichen Verlauf der Geschlechtsdysphorie im Kindesalter
-
ergebnisoffene und unterstützende Begleitung der Entwicklung des Kindes
-
Linderung des Leidensdrucks der Betroffenen und Minderung aller anderen psychosozialen
Schwierigkeiten
-
Beurteilung der Stabilität der transsexuellen Entwicklung
-
beratende Begleitung der Eltern
Die anschließend mögliche erste medizinische Maßnahme ist die Suppression der Pubertätsentwicklung
mit GnRH-Analoga, gefolgt von einer weiteren hormonellen Behandlung mit gegengeschlechtlichen
Hormonen zur Entwicklung der entsprechenden angestrebten Geschlechtsmerkmale und schließlich
chirurgische Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung.
Medizinische Maßnahmen sind Kindern und vor allem Jugendlichen vorbehalten, die eine
möglichst sichere transsexuelle Entwicklung nehmen. Die PatientInnen streben zumeist
mit großer Vehemenz nach Maßnahmen, die ihre biologisch angelegten Geschlechtsmerkmale
verändern.
Es muss sowohl von jugendlichen PatientInnen als auch deren Eltern oder anderen sorgeberechtigten
Bezugspersonen eine Einwilligung zu diesen Maßnahmen eingeholt werden. Eine intensive
Aufklärung über realistische Erwartungen, Risiken und Nebenwirkungen, Reversibilität
der Maßnahmen und Auswirkungen auf die Fertilität muss erfolgen.
Eine hormonelle Pubertätssuppression gilt als gerechtfertigt, wenn die Diagnose einer
Geschlechtsidentitätsstörung respektive einer Geschlechtsdysphorie vorliegt, mindestens
Tanner-Stadium 2, und das 12. Lebensjahr erreicht ist und der Pubertätseintritt nachweislich
zu einer schweren seelischen Beeinträchtigung führt. Das wichtigste Ziel der Behandlung
ist zum einen, die pubertäre Entwicklung und damit die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale
zu hemmen, und zum anderen, Zeit zu gewinnen für die weitere Entfaltung der Geschlechtsidentität
und die Bewältigung der psychosozialen Herausforderung und Belastungen. Die Behandlung
ist vollständig reversibel.
Die nächste Phase der medizinischen Behandlung der Geschlechtsdysphorie ist die Gabe
gegengeschlechtlicher Sexualhormone. Diese induziert die Herausbildung der sekundären
Geschlechtsmerkmale des angestrebten Geschlechts. Ab etwa dem 16. Lebensjahr wird
diese Behandlung empfohlen.
Einige PatientInnen wünschen schließlich chirurgische Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung.
Diese Maßnahmen sind irreversibel und werden leitliniengemäß erst ab dem 18. Lebensjahr
angeboten, abgesehen von der Mastektomie, die auch schon früher möglich erscheint.
Jüngst wurde die S3-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und
Transgesundheit für den Erwachsenenbereich veröffentlicht. Federführend wurde sie
durch die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) unter Beteiligung zahlreicher
weiterer Fachgesellschaften erstellt [19]. Zu erwarten ist in Kürze auch eine entsprechende Leitlinie für Kinder und Jugendliche,
die für das aktuelle Vorgehen evidenzbasierte Empfehlungen geben wird.
Insbesondere die frühe Hormonbehandlung zur Inhibition der pubertären Entwicklung
wird jedoch weiterhin kontrovers diskutiert [20]. Ist es gerechtfertigt, einem 10- oder 12-jährigen Kind pubertätssupprimierende
Medikamente zu geben, welches sich in seinem Körper unwohl und nicht richtig fühlt,
obwohl die Prognose einer transsexuellen Entwicklung in diesem Alter sehr unsicher
ist? Behindert man damit ggf. erste sexuelle Orientierung und Erfahrungen und zementiert
damit ggf. iatrogen eine transsexuelle Entwicklung [15]? Diese Fragen sind bis dato unbeantwortet. Eine Linderung des seelischen Leids dieser
Kinder und Jugendlichen ist in einfachen Studien mit mäßigem Evidenzgrad nachgewiesen.
Qualitativ hochwertige Studien im Sinne von RCTs (randomisierte kontrollierte Studien)
stehen aus und sind mit Sicherheit schwierig zu konstruieren und zu organisieren [21].
Rosalia Costa und Kollegen [20] versuchten in einer Überblicksarbeit in der angesehenen Zeitschrift „Nature Reviews
Urology“ die Frage zu beantworten: „To treat or not to treat …“. Sie beziehen sich
damit auf die frühe pubertätssupprimierende Hormonbehandlung. Sie konstatieren Folgendes:
-
Wenn das Fortschreiten der Pubertät das psychosoziale Wohlbefinden und die seelische
Gesundheit des Kindes gefährdet, dann sollte die Pubertät ausgesetzt werden.
-
Psychologische Unterstützung ist essenziell bei der Behandlung der Geschlechtsdysphorie.
-
Die Datenlage zu Effekten der GnRH-Analoga ist unzureichend.
-
Eine Kosten-Nutzen-Abwägung ist schwierig.
-
Es liegen Hinweise für positive Effekte vor.
Fazit
Abschließend bleibt festzuhalten, dass diverse Ansichten zu Geschlechtsidentität,
Intersexualität und der Behandlung von Varianten der sexuellen Entwicklung sowie der
Transgenderthematik einem großen Wandel unterworfen sind. Unsere Haltung als MedizinerInnen
dazu sollte geprägt sein von Toleranz, Akzeptanz, Offenheit und Respekt gegenüber
Ungewohntem, Andersartigen, Fremden.
Zwei recht unterschiedliche Phänomene – Intersexualität und Transgender – erfordern
gut überlegtes ärztliches Handeln. Neuere Konzepte wie das der nonbinären Geschlechtsidentität
können uns dabei helfen, die Betroffenen und deren Eltern gut zu beraten und den Handlungsdruck
zu reduzieren.
Es gilt, ärztliches Handeln stets zum Wohle der PatientInnen einzusetzen und nicht
zu schaden, getreu der hippokratischen Tradition: „Primum non nocere, secundum cavere,
tertium sanare“. Mit manchen Interventionen bei intersexuellen Neugeborenen haben
wir in der Vergangenheit dieses wichtige Gebot missachtet, in der Regel jedoch im
Glauben, den Eltern und den Betroffenen zu helfen.
Wir neigen als ÄrztInnen gelegentlich dazu, Ansichten von Betroffenen und ihren Initiativen
zu belächeln, zu missachten oder gar als Angriff gegen uns selbst zu werten. Es stände
uns gut zu Gesicht, diese Haltung zu überwinden und durch mehr Verständnis und Offenheit
am Ende adäquatere und vor allem patientengerechtere Hilfe leisten zu können. Wir
sind die medizinischen ExpertInnen der Behandlung von unterschiedlichen Erkrankungen.
Die betroffenen PatientInnen, insbesondere jene mit langjährigen Erfahrungen, sind
ExpertInnen ihrer Probleme und des Lebens damit im Alltag. Beide Expertisen sind für
die Bewältigung von Erkrankungen und Normvarianten der menschlichen Natur von gleichberechtigter
Bedeutung.
Die Notwendigkeit eines offenen, vorurteilsfreien und toleranten Umgangs mit allen
Spielarten der menschlichen Sexualität gilt gerade auch für das Fachgebiet der Frauenheilkunde
und Geburtshilfe als einem medizinischen Fachgebiet, welches unmittelbar mit diesen
Themen konfrontiert ist.