Abb. 1 Liquorzirkulation. (Quelle: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas
der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker.
5. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2018)
Das ZNS und die Lymphe
Bis vor relativ kurzer Zeit wurde davon ausgegangen, dass das ZNS kein eigenes Lymphsystem hat und das periphere Lymphsystem mit dem Waldeyer-Rachenring bzw. den Tonsillen,
Polypen und Lymphknoten im zervikalen Bereich an der Schädelbasis endet. Ab der Dura
mater gäbe es kein Lymphsystem. Die Blut-Hirn-Schranke ([Abb. 2]) und die Blut-Liquor-Schranke wurden unter physiologischen Bedingungen als unüberwindliche Grenze betrachtet, nur
wenige Stoffe seien durchgängig. Die Hypothese war, dass die „Abfallbeseitigung“ auf
individuellem Zellniveau stattfindet und der Liquor cerebrospinalis dem lymphatischen
System entspricht. Es stellt sich die Frage, wie das metabol hochgradig aktive ZNS seine Abfall- und Giftstoffe entsorgt.
Abb. 2 Blut-Hirn-Schranke. (Quelle: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas
der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll
und K. Wesker. 5. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2018)
2013 entdeckte die Forschergruppe um Nedergaard [2] einen physiologischen Mechanismus im Bereich der Gliazellen des ZNS, den sie in
Anlehnung an das lymphatische System glymphatisches System tauften. Sie waren die Ersten, die diese funktionelle Einheit beschrieben. Ähnlich
dem lymphatischen System wird das glymphatische System als fließendes Durchlaufsystem
zum Abtransport von überflüssigem und schädlichem Material verstanden. Die Transportflüssigkeit
wird in das lymphatische System abgegeben.
Louveau und Kipnis [3] sowie Aspelund et al. [10] entdeckten später auf der Suche nach Zugangswegen für T-Zellen die Arteriolen und
Venolen begleitende Lymphgefäße. Sie fanden, dass die duralen Sinus und die Aa. meningeae mediae von konventionellen
Lymphgefäßen begleitet werden, die eine Verbindung zum glymphatischen System herstellen. Sie verbinden das glymphatische System mit dem meningealen Gebiet und
drainieren Immunzellen, kleinere Moleküle und überschüssige Fluida, weshalb sie auch
eine Rolle bei neuroinflammatorischen bzw. neurodegenerativen (Autoimmun-)Erkrankungen spielen könnten. Ihre Entdeckung wird als fortlaufende Erweiterung des von Nedergaard
gefundenen glymphatischen Systems angesehen.
Aspelund et al. [10] beschrieben den Schlemm-Kanal, der bis dato als venöser Sinus angesehen wurde, als ein lymphähnliches Gefäß. Kipnis
[3] legt nahe, dass auch andere venöse Sinus eher lymphatischer Natur sein könnten.
Dass man sie so lange nicht entdeckt habe, liege daran, dass sie sehr gut versteckt
in den Meningen liegen. Das Kipnis-Labor hat ein Gefäßnetzwerk
in
der Dura entlang des Sinus sagittalis superior und Sinus transversalis mit direkter Verbindung zu den zervikalen Lymphgefäßen gefunden. Die Drainage erfolgt in den Kanälen entlang der venösen Sinus, Meningealarterien
und Hirnnerven sowie der Lamina cribriformis und über eine Absorption des Liquors.
Die lange Zeit als gültig betrachtete Vorstellungsweise des Gehirns ohne Lymphsystem
ist somit nicht mehr haltbar.
Liquor cerebrospinalis
Schon Hippokrates (460 – 375 v. Chr.) und Galen (130 – 200 n. Chr.) stellten die Hypothese auf, dass es diese Flüssigkeit gibt. Dass
die Entdeckung dann erst Swedenborg (1688 – 1772) zugeschrieben wurde, liegt vermutlich daran, dass zu dieser Zeit der
Schädel abgetrennt und ausgeblutet wurde, bevor er seziert wurde. Swedenborg bezeichnete
den Liquor als Sitz der Seele, als die spirituelle Lymphe, und wies auch auf eine Verbindung zwischen ihm und dem lymphatischen System hin [11]. Der Liquor wird im jeweiligen Plexus choroideus in den Ventrikeln gebildet, fließt
in den Subarachnoidalraum und wird dann über die Granulationes arachnoideae der duralen
Sinus bzw. die kranialen Nervenscheiden in die peripheren Lymphgefäße bzw. Venen drainiert
([Abb. 1]). Er entspricht einer Senke für die Aufnahme der in der interstitiellen Flüssigkeit gelösten Stoffe, z. B. Proteine
wie Amyloid β und endokrine Stoffe. Somit findet durch den Liquor cerebrospinalis
die Reinigung des Gehirnparenchyms statt, obwohl er in keinem direkten Kontakt dazu steht.
Im Liquor cerebrospinalis sammeln sich alle Stoffe, die nicht über die Blut-Hirn-Schranke
gelangen und ausgeschieden werden können. Lange ging man davon aus, dass dies durch
Diffusion geschieht, doch bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass dieser Vorgang
viel zu langsam wäre. Laut einer Kalkulation von Cserr [2] würde z. B. allein Serumalbumin im Gehirnparenchym 100 Stunden für 1 cm benötigen.
Das heißt, der Abstand zwischen interstitieller Flüssigkeit und Liquor in Ventrikeln und Subarachnoidalraum ist eigentlich zu groß für einen rein durch Diffusion stattfindenden Abtransport makromolekularer Abfallstoffe. Da das Gehirn eine extrem
hohe Stoffwechselaktivität hat, muss es andere Mechanismen geben.
Das Gehirn reagiert extrem empfindlich auf homöostatische Schwankungen. Da der Liquor
an der Aufrechterhaltung der Homöostase beteiligt ist, würde es an einer entsprechenden
Sensitivität für die schnellen homöostatischen Veränderungen mangeln, wenn alles nur
auf Diffusion beruhen würde. Cserr et al. [2] schlugen daher vor, dass es sich um einen konvektiven Strömungsschwall der interstitiellen Flüssigkeit vom Gehirnparenchym zum Liquor handeln könnte, wodurch eine effektive Abfallbeseitigung zu gewährleisten wäre. Heute
weiß man, dass es einen Bulkflow (= schwallartig) im Liquor gibt, der am schnellsten im Bereich der weißen Materie
und perivaskulär ungefähr genauso schnell wie der Lymphfluss in der Peripherie fließt.
Es handelt sich daher vermutlich um eine Kombination aus Bulkflow der makroskopischen Anteile durch das Gehirnparenchym zu den Liquorzisternen ([Abb. 3]) und Diffusion der mikroskopischen Stoffe zwischen perivaskulärem Raum und Interstitium.
Abb. 3 Liquorzisternen (mit Liquor gefüllte Erweiterungen des Subarachnoidalraums). (Quelle:
Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals
und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 5. Aufl. Stuttgart: Thieme;
2018)
Versorgung des Gehirns
Arterien und Venen
Die arterielle Versorgung des ZNS erfolgt durch die A. carotis interna sowie die Aa. vertebrales, die sich
zur A. basilaris vereinigen. Die Gefäße treten durch die Dura und bilden mit der A. cerebri
anterior, A. cerebri media und A. cerebri posterior den Circulus arteriosus cerebri
(Willisii).
Der venöse Abfluss erfolgt durch Sinus sagittalis superior, Sinus sagittalis inferior, Sinus
rectus und Sinus transversus durch das Foramen jugulare (V. jugularis interna) und
den Spinalkanal (Batson-Plexus).
Liquor
Die Arterien des ZNS haben ab ihrem Eintritt durch die Hirnhaut rund um ihre Außenwand
einen zusätzlichen, sehr engen Gefäßraum, den perivaskulären Raum (Spatium perivasculare),
der für die Blutgefäße im ZNS die Bezeichnung Virchow-Robin-Raum (VRR) trägt. Die innere Wand dieses Hohlraums bilden die Endothelzellen der Blutgefäße,
die äußere Wand spezielle plattenförmige Ausläufer von Astrozyten, die Astrozyten-Endfüße,
die sich zu einem dichten Geflecht zusammenlagern. Durch den VVR gelangt in einem
ständigen Strom – angetrieben durch die vom Pulsschlag ausgelösten Wellenbewegungen
der Arterienwände – ein kleiner Teil des Liquors aus dem Zwischenraum zwischen Schädeldecke
und Gehirn (Subarachnoidalraum oder äußerer Liquorraum) in alle Bereiche des ZNS.
Rund um die leptomeningealen Arterien und Venen befindet sich Pia mater. Im Subarachnoidalraum verlaufen Liquorkanäle zwischen den Blutgefäßen und der Leptomeninxscheide im VRR.
Dieser endet mit dem Parenchym des Gehirns.
Eine Vergrößerung des VRR geht oft mit Schlaganfällen, kognitiven Störungen, Demenz, Herzerkrankungen und Schlafstörungen
einher [8]. Der VRR kontrolliert den schwallartigen Fluss (Bulkflow) von Interstitialflüssigkeit, was auch mit der
Klärung von Abfallstoffen einhergeht.
Der Liquor wandert weiter entlang der Membran um die glatte Muskulatur der arteriellen
Gefäße bis hin zur Basallamina der das Gehirn umgebenden Kapillaren. Die durch den
Pulsschlag ausgelöste Wellenbewegung der Arterienwände und der hydrostatische Druckgradient stimulieren den sehr schnellen Fluss des Liquors im Subarachnoidalraum des gesamten
Gehirns [9]. Er dringt über die perivaskulären Räume entlang der penetrierenden Arterien über
die Kapillaren der Basallamina in das Gehirnparenchym ein und tauscht sich entlang
dieser perivaskulären Räume mit den umgebenden interstitiellen Fluida aus.
Das heißt, VRR, perivaskulärer Raum und vaskuläre Basalmembran stehen alle untereinander
in Verbindung und der Liquor aus den Zisternen fließt dort hindurch. Kleine Stoffe
werden schneller zwischen Interstitium und perivaskulärem Raum ausgetauscht (Diffusion),
während die großen gelösten Stoffe durch die Astrozyten-Endfüßchen in die Gehirngefäße
gelangen. Ein Großteil des Gliagewebes besteht aus Astrozyten. Sie umschließen engmaschig den VRR und bilden somit die Kontaktebene zwischen den neuronalen Synapsen und den die Gehirngefäße komplett umkleidenden Scheiden.
Sie spielen eine wichtige Rolle bei Veränderungen im Blutfluss und bei der Abfallbeseitigung. Der durchfließende
Liqour wird von ihnen resorbiert und ans Interstitium von Gehirn und Rückenmark weitergeleitet.
Aquaporin
Eine wichtige und aktive Rolle bei der Klärung der gelösten Stoffe spielen die Wasserkanäle Aquaporin 4 (AQP4) an 50% der perivaskulären Endfüße der Astrozyten, die an den Kontaktstellen
zu den Arterien gelegen sind ([Abb. 4]). Es handelt sich dabei um transmembrane, also membrangebundene, Kanäle in Gehirn und Ependymwänden der Ventrikel, die eine entscheidende Rolle bei der Regulierung des Wasserflusses in die und aus den Zellen heraus spielen. Sie erhöhen die Diffusionspermeabilität biologischer Membrane um das 3 – 10-Fache.
Abb. 4 Aquaporin. (Quelle: Hauser K. Porine. In: Rassow J, Hauser K, Deutzmann R et al.,
Hrsg. Duale Reihe Biochemie. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016)
Im ZNS findet man 2 Arten von Aquaporinen:
-
AQP1 wird von Epithelzellen im Plexus choroideus exprimiert.
-
AQP4 wird von Astrozyten exprimiert, insbesondere an den Endfüßchen der zerebralen
Gefäße. Es ist für den Austausch von Liquor und Interstitialflüssigkeit essenziell
[2].
Lymphsystem des Gehirns
Die Lymphe erfüllt eine wesentliche Immun- sowie eine Entsorgungsfunktion. Die Lymphgefäße
verlaufen parallel zu den Blutgefäßen und transportieren interstitielle Flüssigkeit,
Proteine und Stoffwechselprodukte. Da die Proteine für den Erhalt des kolloidosmotischen
Drucks und die homöostatische Regulation des Flüssigkeitsvolumens des Körpers zuständig
sind, ist ein Abtransport von anfallenden Proteinen sehr wichtig. Fehlt dieser, kommt
es zu Ödemen.
Im Bereich der Arteriolen und Kapillaren sickert Flüssigkeit in das Interstitium. Diese ist ein Filtrat des Plasmas. Sie wandert weiter zu den kapillaren Venolen und
fließt dann in die Venengeflechte bzw. über den perivaskulären Raum entlang der Venen und verlässt so das durale System und Gehirn. Postkapillär kommt es zum Teil zur Reabsorption in die duralen Sinus bzw. Gefäße, in deren Wänden
sich die venenklappenähnlichen Arachnoidalzotten befinden, bzw. drainiert die Lymphe mit den makroskopischen Proteinen letztendlich
in die zervikalen Lymphgefäße und von dort zurück in die Venen. So kommt es zur Reinigung über das venöse System
und die Abbauprodukte werden über Leber und Nieren entsorgt.
Nicht alle Proteine und Metabolite können die Blut-Hirn-Schranke passieren. Diese werden über den Liquor entsorgt. Dazu gehören auch Metabolite (Abfallstoffe), Hormone, Lipide und Immunzellen. Auch der Lipidtransport findet über das glymphatische System statt [2]. Kleine lipophile Moleküle, die das gliale Kalziumsignalsystem aktivieren, werden entfernt. Allerdings gehen diese Lymphgefäße nicht ins Gehirnparenchym
hinein, sondern liegen an den Außenschichten der Meningen. Daher sind vermutlich die
perivaskulären glymphatischen Wege, die Liquorzisternen und die duralen Lymphgefäße
alle Teil eines Systems für die Clearance der Metabolite aus dem Interstitium und
der Immunüberwachung.
Die meningealen Lymphgefäße verlaufen parallel zu den duralen Sinus und Meningealarterien
des ZNS. Sie drainieren in die tiefen zervikalen Lymphknoten. Sie verbinden Immun-
und Nervensystem und könnten daher eine Rolle bei Autoimmun- und neurodegenerativen
Erkrankungen spielen. Vor der Entdeckung der meningealen Lymphgefäße ging man davon
aus, dass das Gehirn den Überschuss an Flüssigkeit, die Proteine und Metaboliten über
das glymphatische System, den Liqour über die Lamina cribriformis in die Lymphgefäße
der Nasenmukosa und über die Arachnoidalzotten drainiert [10].
Die meningealen Lymphgefäße sind im Vergleich zu den peripheren weniger komplex mit
geringerer Verzweigung und kleineren Gefäßen und decken dadurch auch weniger Gewebe
ab. Sie sind entlang des Sinus sagittalis dünner und wenig verästelt und entlang des
Sinus transversus etwas dicker mit mehr Verästelungen. Lediglich im basalen Anteil
des Kraniums finden sich einige wenige Klappen, die den Rückfluss verhindern.
Der Liquor tritt entlang der Arteriolen ins Gehirn ein, die interstitielle Flüssigkeit
tritt entlang der Venolen aus und fließt weiter zum Sinus rectus. Diese Erkenntnis
beruht auf Versuchen in den 1980er-Jahren mit Katzen und Hunden. Inzwischen wurde
dies auch bei Mäusen nachgewiesen. Der Liquor besteht aus glialem Wasser und hat eine
lymphatische Funktion (= glymphatisches System). Dies ist im gesamten Gehirn so.
Immunaufgaben des Lymphsystems
Immunaufgaben des Lymphsystems
Das Lymphsystem hat mit grundlegenden Aspekten der Organfunktion wie interstitielle
Flüssigkeit, Homöostase der Lipide und Proteine sowie Transport von Lymphozyten und
antigenpräsentierenden Zellen zu den Lymphknoten zu tun. Das scheint auch im Gehirn
entsprechend zu sein. Ebenso wie das periphere Lymphsystem hat das meningeale Lymphsystem
eine Immunzellfunktion mit B- und T-Lymphozyten und drainiert das Gewebe. Die Lymphgefäße
filtern im Anschluss an das glymphatische System Makromoleküle des Gehirnparenchyms
aus. Fehlen die Lymphgefäße, z. B. weil es durch das Fehlen von VEGF-C und -D (Vascular
Endothelial Growth Factor) in der Embryogenese nicht zur Entwicklung der Lymphgefäße
gekommen ist, kann laut Kipnis und Louveau [3] das Gehirnparenchym allerdings eine mangelnde Klärung von Feststoffen kompensieren
(Mäuse). Entlang der perivaskulären Wege werden Amyloid β, Tau-Proteine (werden bei
neuraler Aktivität im Extrazellulärraum des Gehirns freigesetzt), Proteine (Albumin)
etc. weggeräumt. Ist die Drainage über die sinusoidalen Lymphgefäße geblockt, sammeln
sich periphere Immunzellen in der Dura, d. h., sie sind wohl auch an der Überwachung
der Immunaktivität im ZNS beteiligt. Periphere Immunzellen kommen viel über den Plexus
choroideus in den Liquor und werden durch die mit den Sinus verlaufenden Lymphgefäße
abtransportiert.
Es gibt also eine periphere Immunüberwachung des Gehirns, ohne die Privilegien des
Immunsystems des ZNS aufzuheben.
Schlaf
Das Gehirn, dessen Masse nur 2% des Körpergewichts beträgt, verbraucht ca. 25% der Energie. Das heißt, es fallen auch entsprechend Metabolite an, die abtransportiert werden müssen. Das geschieht durch den Liquor. Iliff et al. [9] haben nachgewiesen, dass der Liquor an der Oberfläche des Gehirns durch das Interstitium
entlang der Gefäße durch das Gehirn durchgespült wird und somit Proteine und andere
Metabolite ausspült.
Das glymphatische System entsorgt gemeinsam mit dem lymphatischen System die Metabolite des ZNS. Die Hauptaktivitätszeit ist nachts. 90 – 95% der Entsorgung finden während der Tiefschlafphasen statt. Außerdem ist der
Fluss nachts schneller, vermutlich auch dadurch bedingt, dass die Zellen nachts schrumpfen und somit bis
zu 60 – 65% mehr Platz zum Durchspülen (Bulkflow) gegeben ist [2], [4]. Der Fluss dringt auch tiefer ins Gehirn ein, statt nur an der Oberfläche wie im Wachzustand zu fließen [4]. Laut Xie et al. [4] findet der beste Abtransport in Seitenlage statt.
Im Wachzustand sind die Zellen auch durch das Hormon Noradrenalin mehr geschwollen. Dieses erhöht den kortikalen Tonus und die Aufmerksamkeit (d. h.
auch: weniger Noradrenalin = mehr Durchfluss = mehr Reinigung). Blockt man kortikale
Noradrenalinsignale im Wachzustand, wird das extrazelluläre Volumen größer und dadurch
die glymphatische Aktivität erhöht.
Fasst man dies alles zusammen, bedeutet dies:
-
Da die Hauptaktivität des glymphatischen Systems, nämlich 95%, im Schlaf stattfindet, könnte mangelnder Schlaf zu einer verminderten Reinigung des Gehirns
führen, da Metabolite nicht ausreichend abtransportiert werden.
-
Die Klärung des glymphatischen Systems findet während der Tiefschlafphasen statt.
-
Das Interstitium (= EZR) vergrößert während des Schlafs seinen Raum, da die Zellkörper
schrumpfen. Das Gesamtvolumen des Interstitiums, das im Wachzustand 14% beträgt, erhöht
sich auf 24%, d. h. es stehen über 60% mehr Raum für den Transport der Fluida zur
Verfügung.
-
Ein möglicher Regler für das Volumen des Interstitialraums ist Noradrenalin, das einer
der Hauptmodulatoren des Wachzustands ist. Wäre dem so, dann wäre es auch mit an der
Effektivität des glymphatischen Systems beteiligt.
-
Die Reinigung erfolgt durch Bulkflow (schwallartig) und Diffusion, je nach chemischer
Zusammensetzung und Umgebung. Die meisten gelösten Substanzen werden über Diffusion
ausgefiltert.
Führt man diesen Gedanken weiter, so sind Schlafstörungen möglicherweise nicht unbeteiligt
am Auftreten neurodegenerativer Erkrankungen und pathogener Formen der Tau-Proteine. Diese kommen v. a. in Neuronen des ZNS vor und stabilisieren die Mikrotubuli. Eine geringe Anzahl findet sich auch in den Astro- und Oligodendrozyten. Defekte
Tau-Proteine führen zu einer Destabilisierung der Mikrotubuli, z. B. bei Morbus Alzheimer
und Morbus Parkinson [7].
Störungen des glymphatischen Systems finden sich z. B. bei Druckverlust im Schädel, Schlaganfall, Subarachnoidal- oder
intrakranialen Blutungen. Bedingt z. B. durch Traumata (Schädel-Hirn-Trauma, Ischämie),
Morbus Alzheimer (Ansammlung von Proteinen) oder entzündliche Vorgänge (z. B. multiple
Sklerose) können sich Ödeme entwickeln. Kommt es zu einem Druckverlust in der Schädelhöhle, wird die glymphatische Zirkulation gestört und es kommt zu einer
nichtselektiven Lipiddiffusion, einer Ansammlung der intrakranialen Lipide und einer
pathologischen Signalgebung für die Astrozyten. Man könnte die Funktion mit der der
peripheren intestinalen Lymphgefäße vergleichen, welche die Lipide zur Leber abtransportieren.
Die Annahme, dass nicht nur Vorgänge im Zellinneren, sondern auch im Interstitium
an degenerativen neurologischen Erkrankungen wie z. B. Morbus Alzheimer beteiligt sind, verdeutlicht, wie wichtig eine gute Reinigung mithilfe des glymphatischen
Systems wahrscheinlich ist [7]. In diesem Falle geht es um den Abtransport fehlgefalteter Proteine und um Amyloid β (sog. senile Plaques). Die Produktion dieses Peptids findet normalerweise in jungen
Gehirnen statt und wird da auch abtransportiert. Bei Morbus Alzheimer hingegen lagert
es sich aufgrund des mangelnden Abtransports in den Zwischenzellräumen ab und bildet
Plaques, die zu einem Verlust an neuronalem Gewebe und zur Gehirnatrophie führen.
Bei der amyotrophen Lateralsklerose findet man eine Anhäufung des fehlgefalteten Enzyms SOD1. Es wurde die Hypothese
aufgestellt, dass eine Fehlfunktion des glymphatischen System die Ursache für diese
Erkrankung sein könnte [7].
Altern bzw. Neurodegeneration
Altern bzw. Neurodegeneration
Während des physiologischen Alterungsprozesses wird der Zustrom von frischer Flüssigkeit
durch die schwächer werdende Bewegung der Arterien beeinträchtigt. Es können nicht
mehr genug Abfallstoffe geklärt werden. Es kommt zu einer Akkumulation von fibrillären
Proteinaggregaten, z. B. extrazellulären senilen Plaques einschließlich Amyloid β
und intrazellulären neurofibrillären Bündel einschließlich hyperphosphorilierten Tau-Proteinen
bei Morbus Alzheimer. Im alternden Nagetiergehirn zeigte sich, dass eine beeinträchtigte
glymphatische Klärung und ein Verlust von perivaskulären AQP4 zu einer vermehrten
Proteinansammlung und dadurch zu einer Neurodegeneration führten [2].
Das Gleiche findet man auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus
Parkinson, bei denen Ablagerungen auftreten oder entzündliche Prozesse vermutet werden.
Möglicherweise sind Schlafstörungen im Alter mit ein wichtiger Grund für diese mangelnde
Reinigung.
Gehirnerschütterungen erhöhen das Risiko für Demenz und Alzheimer. Alle Kontaktsportarten
können z. B. zu einer traumatischen Enzephalopathie führen. Man findet hier perivaskuläre
Ablagerungen von Tau-Aggregaten in der oberflächlichen Kortexschicht. Bei Nagern sind
die glymphatischen Wege und AQP4-Lokalisationen in diesen Fällen chronisch geschädigt,
wodurch es zu einer verminderten Klärung kommt [1], [6].
Da die physiologischen Mechanismen des zerebralen glymphatischen und lymphatischen
Systems noch weitgehend unerforscht sind, kann momentan noch nicht gesagt werden,
wie groß der Einfluss einer Dysfunktion auf neurovaskuläre, neurodegenerative und
neuroinflammatorische Prozesse tatsächlich ist.
Osteopathische Überlegungen
Osteopathische Überlegungen
Berücksichtigt man diese neuen Erkenntnisse hinsichtlich der Versorgung und Reinigung
des Gehirns, so gewinnen Herangehensweisen über das fluidische System eine weitere
wichtige Perspektive. Die Anregung der intrakranialen venösen Drainage und Zirkulation
einschließlich der Beurteilung des Schlemm-Kanals bei Augenproblemen, Techniken wie
der CV4 und die Berücksichtigung des Einflusses des autonomen Nervensystems sind beispielsweise
wunderbare Möglichkeiten, auf das glymphatische System einzuwirken. Das autonome Nervensystem
gewinnt besondere Bedeutung, wenn man z. B. an Schockgeschehen, Trauma und chronische
Stresssymptome beim posttraumatischen Belastungssyndrom denkt.