Prof. Dr. Siegfried Kanowski
Siegfried Kanowski wurde am 23. Februar 1935 in Berlin geboren, in diesem Jahr hätte
er seinen 85. Geburtstag gefeiert. Er starb am 31.12.2019 in seiner Heimatstadt.
Im Krieg verlor er den Vater. Mutter und Sohn mussten jetzt alleine das Leben bewältigen.
In ruhigen Stunden berichtet er gerne über Erfahrungen dieser Jahre, die sich ihm
mit ihren negativen wie auch positiven Aspekten erlebter Mitmenschlichkeit unauslöschlich
eingeprägt hatten. Nach dem Schulabschluss studierte er Medizin an der FU-Berlin,
wohin er nach einer Medizinalassistentenzeit in Hoya zurückkehrte. Schließlich fand
er den Weg in die Psychiatrie, wurde 1966 Facharzt für Nerven- und Gemütskrankheiten
und promovierte 1968 zum Dr. med. mit einer Arbeit zur basalen Dysrhythmie im EEG.
Im selben Jahr wurde er auch Oberarzt an der II. Psychiatrischen Klinik der FU-Berlin
unter dem Direktorat des neu berufenen Lehrstuhlinhabers Hanns Hippius. 1971 erfolgte
die Habilitation und 1972 die Berufung auf die von der FU Berlin innovativ eingerichtete
Professur für Gerontopsychiatrie. Kanowski wurde mit dem Aufbau und der Leitung der
mit seiner Berufung neu gegründeten Abteilung für Gerontopsychiatrie, der ersten in
der Bundesrepublik Deutschland, betraut. 1973 übernahm Hanfried Helmchen das Direktorat
der Psychiatrischen Klinik der FU und förderte die Abteilung für Gerontopsychiatrie
nachhaltig. Im selben Jahr war Kanowski einer der Gründungsväter des Deutschen Zentrums
für Altersfragen, für das er sieben Jahre als Vorstandsvorsitzender und viele weitere
Jahre als Vorstandsmitglied wirkte.
Für Kanowski folgten Jahre, in denen er für die Konsolidierung seiner Abteilung ebenso
unermüdlich tätig war, wie für die Etablierung des Fachs im Kanon des psychiatrischen
Spektrums. An den der Alterspsychiatrie gewidmeten Kapiteln der Empfehlungen der Psychiatrie-Enquête
(1975) und diejenigen der Expertenkommission (1988) war er maßgeblich beteiligt. Beide
Kommissionen einigten sich nach teils kontrovers geführten Diskussionen darauf, die
gerontopsychiatrische Versorgung im allgemeinpsychiatrischen Versorgungsauftrag zu
belassen, allerdings unter der Bedingung, dass in jedem Standardversorgungsbereich
mindestens ein gerontopsychiatrisches Zentrum als Versorgungsangebot und gleichzeitiger
„Motor und Koordinator“ zur Verfügung stünde, um die berechtigten Ansprüche älterer
psychisch kranker Bürger auf eine angemessene Diagnostik und Behandlung nicht in der
Vielfalt der Aufgaben der Allgemeinpsychiatrie „untergehen zu lassen“. Um für diese
Entwicklung in Deutschland internationale Unterstützung zu sichern, Großbritannien
gilt als Mutterland der Gerontopsychiatrie, wurde er eines der Gründungsmitglieder
der European Association of Geriatric Psychiatry (EAGP), der er später auch als Präsident
vorstand.
Schwerpunkte der Arbeit in seiner Abteilung waren in der Zeit der Enquête der Ausbau
der Ambulanz und die Etablierung einer Tagesklinik 1977, der, nach Hamburg, zweiten
in Deutschland. Ich stieß damals zu seinem multiprofessionellen Team und erlebte einen
Chef, der Patienten und Mitarbeitern gleichermaßen zuhören konnte und gegenüber beiden
eine ausgesprochen belastbare Geduld aufwies. Kollegen, die ihn bisher nur als dezidiert
kämpferischen Diskutanten in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit erlebt hatten,
konnten sich dieses friedvolle und gleichzeitig fruchtbare Binnenklima der Abteilung
erst vorstellen, als sie selbst daran teilhatten.
Ehemalige Kollegen, Mitarbeiter und Schüler sprechen noch immer voller Respekt und
Warmherzigkeit von ihrem ehemaligen Chef und Lehrer, der ihnen stets als eine beeindruckend
bescheiden gebliebene Persönlichkeit gegenübergetreten war.
Die Gerontopsychiatrie war sicher das für Kanowski wichtigste Gebiet seines wissenschaftlichen
Interesses. Als Gründungs- und langjähriges Vorstandsmitglied der Hirnliga konnte
er Forschungs- und Nachwuchsförderung gemeinsam vorantreiben. Für das Berliner Graduierten-Kolleg
„Psychische Potentiale und Grenzen des Alters“ und für die Berliner Altersstudie (BASE)
war sein persönliches Engagement ein konstituierendes Element. Mit seiner wissenschaftlichen
Neugier vermochte er auch immer wieder Mitarbeiter seiner Abteilung anzustecken. 2002
wurde vom BMFSFJ der Vierte Altenbericht „Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger
– unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen“ veröffentlicht, der
wesentlich von Kanowski als Vorsitzendem der Kommission geprägt war. Zu seinen vielfältigen
publizistischen Aktivitäten, denen sich über 200 maßgebliche Publikationen verdanken,
gehörten neben der Gründung und jahrzehntelangen Mitherausgeberschaft der „Zeitschrift
für Gerontopsychologie und -psychiatrie“ besonders das Handbuch „Gerontologie“ mit
Wolf D. Oswald und Ursula Lehr. Ein Bereich, der mit den Jahren ein immer größeres
Gewicht für Kanowski gewann, war die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen, wie
sie im gemeinsam mit Hanfried Helmchen und Hans Lauter verfassten Lehrbuch „Ethik
in der Altersmedizin“ behandelt werden. Stand anfangs die Forschungsethik im Vordergrund,
rückten später Versorgungsfragen in den Mittelpunkt. So plädierte er als Experte bei
der Entwicklung des neuen Betreuungsrechts erfolgreich dafür, dass Selbstbestimmung
und Würde des Patienten die Philosophie dieses innovativen Gesetzeswerks prägen. Schließlich
beschäftigten ihn die persönlichen Grundlagen ethischer Entscheidungen, besonders
natürlich in der Gerontopsychiatrie. Sein Plädoyer lautete dabei völlig unzweideutig:
„Die in der Gerontopsychiatrie Tätigen müssen darüber wachen, dass die Belastungen
und Ressourcen generationengerecht verteilt werden!“
1985 wurde Kanowski zum Landesmedizinaldirektor und Chefarzt der Klinik für Alterspsychiatrie
am Max-Bürger-Krankenhaus ernannt. Auf diese Weise erhielt die universitäre Gerontopsychiatrie
als Ergänzung zu Ambulanz und Tagesklinik erstmals auch einen großen stationären Bereich.
Das Bemerkenswerteste war sicher, dass sich Kanowski durch die Bedingungen dort nicht
Bange machen ließ. Sie waren anfangs schauerlich, wurden dann allerdings dank seiner
Initiativen zunehmend besser. Ab 1993 konnte er als Ärztlicher Direktor am Max-Bürger-Zentrum
wesentliche Impulse für die Kooperation von Geriatrie und Gerontopsychiatrie geben.
Das Ende seiner Berufstätigkeit, ein Jahr nach seiner Emeritierung im Jahre 2000,
war für ihn wohl besonders schmerzlich, denn seine letzte Aufgabe war die Auflösung
der gerontopsychiatrischen Einrichtungen am Max-Bürger-Krankenhaus. Diese Entwicklung
war der Weisheit der Politiker geschuldet, mit denen er bei verschiedensten Gelegenheiten
seine heftigen Sträuße ausgefochten hatte. Die Klinik wurde geschlossen und von der
psychiatrischen Landkarte Berlins gestrichen. Ganz und gar nicht gestrichen war aber
das Lebenswerk von Siegfried Kanowski. Sein Name steht weiterhin für die Gerontopsychiatrie
in Deutschland. Für seinen unschätzbaren Beitrag zur inhaltlichen Ausgestaltung und
zur Etablierung der Gerontopsychiatrie in Deutschland, für sein kämpferisches Engagement
für dieses Fach und besonders dafür, dass er einer ganzen Generation von Kolleginnen
und Kollegen den richtigen Weg gewiesen hat, wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft der
Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie verliehen. Wir werden ihm ein ehrendes
Angedenken bewahren.
Prof. Dr. med. Hans Gutzmann
hgutzmann@posteo.de