Hautverletzungen aufgrund großer Hitzeeinwirkung schädigen die Kollagenstruktur, die
Matrix der Haut, die kleinen Gefäße und die Nervenendigungen. Die Fasern und Zellen,
die für die Elastizität und Beweglichkeit der Haut verantwortlich sind, befinden sich
meist in der Dermis. Deshalb führt ein Verlust dieser Schicht zu massiven Einschränkungen
(Narbenkontrakturen). Das betroffene Areal kann unter Umständen zudem nur bedingt
(je nach Schweregrad der Verbrennung) bis gar keine nozizeptiven Inputs an das ZNS
weiterleiten.
Für eine wirksame manuelle Narbentherapie müssen die physiologischen und pathophysiologischen
Prozesse der Wundheilung bekannt sein. Ziel ist es, funktionelle Reize in jeder Phase
der Wundheilung möglichst adäquat anzuwenden.
Physiologische Grundlagen der Wundheilung
Physiologische Grundlagen der Wundheilung
Fibroblasten sind bekanntlich sehr wichtige Zellen bei der Wundheilung. Sie bestechen
mit Funktionen wie „Scannen“ des defekten Gewebes, Abbau, Synthese von verschiedenen
Baustoffen (Kollagen, Elastin, Hyaluronsäure etc.) sowie Mobilität und reagieren sehr
spezifisch auf mechanische Reize von außen. Dadurch nehmen Fibroblasten in der Haut
und im Untergewebe eine zentrale Rolle bei der Narbenreifung ein [3]
[4]
[7].
In der Entzündungsphase (0–6 Tage) besteht ihre Hauptaufgabe darin, sich ins Wundareal fortzubewegen (Chemotaxis), das
zerstörte Gewebe zu analysieren und es (unter Mithilfe der Makrophagen) abzubauen.
In der Proliferationsphase (bis zum 21. Tag) beginnen die Fibroblasten, die einzelnen Bausteine für das zu erneuernde Gewebe zu
synthetisieren. Zunächst produzieren sie den unspezifischen Kollagentyp III. Dieser
kann sehr schnell und einfach hergestellt werden und fungiert als provisorisches Gerüst.
Er besitzt eine Turn-over-Rate von 30 Tagen und richtet sich nach mechanischen Reizen
aus [Abb. 1]:
Abb. 1 Reaktion auf zellulärer Ebene auf verschieden dosierte mechanische Reize auf die
Haut. 1. Defekte Stelle im Kollagenverbund. 2. Kollagensynthese von Typ III in der
Proliferationsphase ohne mechanischen Reiz von außen. 3. Kollagensynthese von Typ
III in der Proliferationsphase mit adäquatem funktionellem mechanischem Reiz von außen.
4. Reaktion auf zu großen mechanischen Reiz in der Proliferationsphase (auch in der
Remodulierungsphase möglich). (Grafik T. Koller; Umsetzung Thieme Verlagsgruppe)
-
Wirkt in dieser Zeit kein mechanischer Reiz auf das Hautgewebe ein, legt der Fibroblast
die Kollagen-Typ-III-Fasern ungeordnet über den Defekt. Deshalb ist der Defekt später
auch nicht funktionell belastbar.
-
Wirkt in dieser Phase hingegen ein adäquater mechanischer Reiz von außen auf das defekte
Hautgewebe ein, richtet der Fibroblast das Kollagen Typ III in funktioneller Richtung
aus. Dies stellt eine optimale Basis für die Remodulierungsphase dar, weil das provisorische
Grundgerüst bereits für das spätere Kollagen Typ I funktionell ausgerichtet ist.
-
Wirkt in der Proliferations- oder Remodulierungsphase ein zu großer mechanischer Reiz
auf die defekte Hautstelle ein, führt dies zu Zellwandzerstörungen auf zellulärer
Ebene mit darauffolgendem Rückfall in die Entzündungsphase.
In der Remodulierungsphase (ab 21. Tag) produzieren die Fibroblasten den definitiven Kollagentyp I, welcher eine Turn-over-Rate
von 300–500 Tagen (in der Haut ca. 150 Tage) aufweist und somit einen viel längeren
und größeren funktionellen Reiz benötigt, um sich neu auszurichten. Er wird von den
Fibroblasten exakt über das Kollagen Typ III gelegt, das zeitgleich langsam abgebaut
wird. In dieser Phase ist das Gewebe also deutlich belastbarer und kann seine Funktion
besser aufnehmen. Dies resultiert in einer besseren Verschiebbarkeit der Haut, und
durch die funktionelle Ausrichtung der Matrix kann trotz fehlendem Elastin die maschendrahtartige
Anordnung der Matrix eine gewisse elastische Funktion übernehmen.
Während der Proliferationsphase halten Myofibroblasten die Wundränder zusammen und verschließen diese. Diese Art der Fibroblasten besitzt
vermehrt kontraktile Elemente und ist topografisch an den Wundrändern vorzufinden.
Daher rührt auch die physiologische Restriktion einer Narbe. Ein zu großer mechanischer
Reiz (Zug) auf die Wundränder oder -flächen generiert eine vermehrte Ansammlung von
Myofibroblasten an den Wundrändern, welche mit erhöhter Restriktion reagieren. In
der Folge entsteht eine vermehrte Kollagenbildung.
Schmerzphysiologie in Bezug auf Verbrennungen
Schmerzphysiologie in Bezug auf Verbrennungen
Grundsätzlich gestalten sich Schmerzaussagen der Patienten in der ersten Rehabilitationsphase
(Ende Proliferationsphase, Anfang Remodulierungsphase) sehr schwierig. Gründe dafür
sind deren generell veränderte Körperwahrnehmung, die zum Teil zerstörten Schmerzfasern
(A-delta- und C-Fasern) im primären Wundareal und die zu Beginn zu Recht hoch dosierte
Schmerzmedikation. Dennoch lassen sich die subjektiven Aussagen der Patienten in einer
sicherlich nicht prioritären Gewichtung mit in die Dosierung der Behandlung einbeziehen.
Was passiert nun auf Gewebeebene bezüglich der Schmerzfasern? Die A-delta-Fasern reagieren
schon sehr früh und schnell auf mechanische Einflüsse. Sie melden starkes Ziehen und
Druck und sind auch bei einer Schädigung aktiv. Dagegen reagieren C-Fasern vornehmlich
erst bei einer Schädigung (Zellwandzerstörung). Durch die Zerstörung von Zellwänden
tritt Arachidonsäure aus, die schnell zu Prostaglandin umgewandelt wird. Die C-Fasern
sind sehr sensitiv gegenüber Prostaglandin und reagieren mit einer Ausschüttung von
„Substanz P“. Durch diesen Vorgang beginnt die Entzündungsphase mit all ihren Entzündungszeichen
(Dolor, Calor, Rubor, Tumor und Functio laesa) jeweils wieder erneut. Dies ist bei
der Behandlung von Patienten mit Schwerstverbrennungen tunlichst zu vermeiden. Bei
der Untersuchung und der Behandlung dürfen die Patienten bei der entsprechenden Dosierung
gerade noch ein „Ziehen“ wahrnehmen (A-delta-Faser-Aktivität). Sie sollten jedoch
unter allen Umständen kaum bzw. niemals anhaltende Schmerzen empfinden (C-Faser-Aktivität).
Dies würde für eine erneute Entzündungsreaktion aufgrund mechanischer Überdosierung
sprechen.
Eine weitere Veränderung der Schmerzwahrnehmung ist die kognitive Verarbeitung vom
primären und sekundären Wundareal. Dabei wird zwischen der direkten und indirekten
Schmerzleitung unterschieden.
Direkte Schmerzleitung
Physiologisch besitzt jedes Hautareal sein eigenes Abbild auf dem Kortex. Demzufolge
lassen sich alle als schmerzhaft empfundenen Reize klar lokalisieren, um so eine zeitnahe
motorische Schutzantwort zu generieren [Abb. 2a]. Da die Aktivität der A-delta-Faser sehr früh einsetzt, warnt sie vor erneuter zellulärer
Schädigung. Theoretisch können die Patienten dann auch mehr oder weniger den Schmerz
der A-delta-Faser von dem der C-Faser unterscheiden. Diese Schmerzqualitäten können
bei der Dosierung der physiotherapeutischen Interventionen hilfreich sein.
Abb. 2 Schmerzleitung. (Quelle: Koller T. Physiotherapeutische Diagnostik. Hypothesengeleitet
und klinisch relevant entscheiden. Stuttgart: Thieme; 2017) a Direkte Schmerzleitung b Indirekte Schmerzleitung.
Indirekte Schmerzleitung
Die indirekte Schmerzleitung entsteht bei jeder strukturellen Verletzungsart. In der
Entzündungs- und Proliferationsphase erhält das kortikale Areal des primären Wundareals
bei schwerstbrandverletzten Patienten praktisch kaum einen Input. Denn aufgrund der
(durch thermische Zerstörung) zumeist fehlenden Schmerzfasern ist das primäre Wundgebiet
nicht in der Lage, schmerzhafte Reize direkt an den Kortex weiterzuleiten. Somit ist
es auf indirekte Informationen angewiesen (Input aus dem sekundären Wundareal). Dies
birgt zwei wesentliche Nachteile in sich:
-
Bis der im primären Wundareal gesetzte Reiz mechanisch im sekundären Wundgebiet angekommen
ist, droht im primären Wundgebiet bereits eine Überdosierung in Form von Zellwandschädigung.
Dies bedeutet einen erneuten Rückfall in die Entzündungsphase. Die Aktivität der A-delta-Faser
ist im primären Wundareal in der Entzündungs- und Proliferationsphase nicht in der
Lage, vor einer erneuten zellulären Beschädigung zu warnen [Abb. 2b]!
-
Eine differenzierte Wahrnehmung ist erschwert, die motorische und/oder verbale Schutzantwort
ist zusätzlich verlangsamt [8]
[1]
[5].
Diese Gegebenheiten stellen die behandelnden Physiotherapeuten vor eine große Herausforderung.
Die Schmerzaussagen von schwerstverbrannten Patienten können nie ausschließlich alleine
für eine adäquate Dosierung der physiotherapeutischen Interventionen verwendet werden.
Dosierung mechanischer Reizsetzung
Dosierung mechanischer Reizsetzung
Auf der Grundlage der Gewebe- und Schmerzphysiologie ist ein funktioneller Reiz nur
über die taktile Diagnose des ersten und zweiten Bindegewebswiderstands sinnvoll.
Erster und zweiter Bindegewebswiderstand
In der Manuellen Therapie wird bei der Untersuchung von Gelenken der Widerstandsanstieg
innerhalb des Bewegungsausmaßes taktil erfasst und beurteilt. Befindet sich das Gelenk
in Neutralstellung (Kapsel-Band-Apparat ist entspannt), wird am Anfang in allen Bewegungsrichtungen
praktisch kein Widerstand feststellbar sein. Dies wird als „neutrale Zone“ bezeichnet.
Ist die neutrale Zone nicht vorhanden, spricht dies für eine Pathologie des Gelenks.
Bewegt man nun weiter in eine Bewegungsrichtung, ist zunehmend ein Widerstandsanstieg
spürbar. Dieser erste Widerstandsanstieg wird erster Bindegewebswiderstand genannt. Bewegt man noch weiter gegen das Ende des Bewegungsausmaßes, ist zuerst
ein kontinuierlicher Widerstandsanstieg festzustellen. Dieser endet nahezu am Ende
eines Bewegungsausmaßes in einem erneuten markanten Widerstandsanstieg. Dieser „endgradige“
Widerstandsanstieg wird als zweiter Bindegewebswiderstand definiert [Abb. 3a]. Das gleiche Prinzip ist auch an der Haut zu beobachten. Wird die Haut manuell verschoben,
lassen sich eine neutrale Zone sowie ein erster und zweiter Bindegewebswiderstand
beobachten. Bei Verbrennungsnarben folgen die verschiedenen Zonen viel näher aufeinander
und sind dementsprechend bezüglich der Dosierung viel herausfordernder [Abb. 3b].
Abb. 3 Zusammenhang von Bindegewebswiderstand und Verschiebbarkeit der Haut. (Grafik T.
Koller; Umsetzung Thieme Verlagsgruppe) a Normale unbeschädigte Haut. b Durch Verbrennungsnarben geschädigte Haut.
Überdosierung vermeiden
Die Wundheilungsphasen dauern bei Brandverletzungen signifikant länger und das Narbengewebe
ist weniger widerstandsfähig als bei linearen (chirurgischen) Narben in der gleichen
Wundheilungsphase. Darüber hinaus ist es niemals homogen in sich das bedeutet, dass
in Abhängigkeit von der Tiefe und Größe des Defekts, sich Narbenbereiche in unterschiedlichen
Wundheilungsphasen befinden. Flächige Verbrennungsnarben sind also fragiler und bedürfen
einer viel feineren Mobilisationsdosierung als lineare Narben.
Eine mögliche Überdosierung therapeutischer Interventionen und/oder die von Patienten
im Alltag hervorgerufenen überdosierten Reize verschlechtern zwangsläufig die allgemeine
Mobilität der defekten Hautareale. Zellwandzerstörungen versetzen die überbeanspruchten
Areale wieder in die Entzündungsphase, und es entstehen neue offene Stellen. Diese
zeugen immer von einem mechanischen Spannungsausgleich und einer vorangegangenen mechanischen
Überdosierung.
Auch eine mechanische Überdosierung auf zellulärer Ebene (ohne offene Hautstellen)
leitet zwangsläufig eine neue Entzündungsphase ein. Stärker vernarbte Stellen (sogenannte
Narbenstränge) übertragen den mechanischen Reiz mühelos und unbeschadet, leiten ihn
aber in schwächere Gewebsareale und schädigen dort unter Umständen die sich neu formierende
Zellstruktur. Somit wird diese Stelle zwangsläufig wieder in einen Subakutzustand
versetzt. Diese Situation ist tunlichst zu vermeiden. Es ist darauf zu achten, dass
der mechanische Reiz genau an der richtigen Stelle ankommt. Dazu eignen sich folgende
Dosierungsparameter:
-
subjektive Aussagen der Patienten in Bezug auf Ziehen und Schmerz
-
Vermeiden eines Spannungsausgleichs (Weiterlaufen der mechanischen Spannung im vernarbten
Gebiet)
-
Bindegewebswiderstand in taktiler Form
Dosierung mittels Bindegewebswiderstand
Es ist anzunehmen, dass manuelle Interventionen im Bereich des ersten Bindegewebswiderstands
einen ausreichenden Reiz für die funktionelle Ausrichtung der extrazellulären Matrix
darstellen. Klinische Erfahrungen zeigen vor allem bei schwerstbrandverletzten Patienten,
dass Interventionen in der Proliferationsphase, die lediglich im Bereich des ersten
Bindegewebswiderstands durchgeführt werden, deutlich weniger Rückfälle aufgrund von
Überbelastungen (Zellschaden) nach sich ziehen.
In der Proliferationsphase generieren mechanisch gesetzte Reize im Bereich des ersten
Bindegewebswiderstands erfahrungsgemäß lediglich eine Aktivität der A-delta-Fasern
([Abb. 3], grüner Bereich). Dagegen wird in der Proliferationsphase im Bereich des zweiten
Bindegewebswiderstands eine potenzielle Aktivität der C-Fasern aktiviert. Grund dafür
ist, dass das Kollagen Typ III in der Proliferationsphase nur begrenzt mechanischen
Scherkräften und Beschleunigungen standhält. Somit besteht hier eine große Gefahr
einer erneuten Zellwandbeschädigung ([Abb. 3], roter Bereich).
Während postoperative Narben bereits in der Proliferationsphase bis an den zweiten
Bindegewebswiderstand dosiert werden können [Abb. 4a], sollten Therapeuten bei großflächigen Brandnarben ihre Intervention also nur bis
zum ersten Anstieg des Bindegewebswiderstands dosieren [Abb. 4b].
Abb. 4 Zusammenfassende Darstellung der wundheilungsphasenadaptierten und gewebespezifischen
Dosierung in der Manuellen Therapie. (Quelle: Koller T. Klinische Überlegungen bezüglich
der wundheilungsphasenadaptierten und gewebespezifischen Dosierung in der Manuellen
Therapie. Manuelletherapie 2019; 23: 40–46) a Bei verletztem Gewebe (posttraumatisch/postoperativ): In der Proliferationsphase
bis zum zweiten Bindegewebswiderstand (BGW). In der Remodulierungsphase bis im zweiten
BGW. b Bei Brandnarben: In der Proliferationsphase im Bereich des ersten BGW. In der Remodulierungsphase
bis zum zweiten BGW.
In der Remodulierungsphase ist eine Bewegung zunehmend bis zum zweiten Bindegewebswiderstand
hin adäquat, da der definitive Kollagentyp I mechanisch wesentlich stabilere Eigenschaften
aufweist [5]. Aber auch hier ist schnell eine Überdosierung möglich! Die in das neue Hautgewebe
teilweise eingesprossten A-delta-Fasern können im primären Wundareal in beschränktem
Maße wieder ihre Funktion übernehmen. Im Falle einer Überdosierung in dieser Phase
werden jedoch die inzwischen auch teilweise wieder eingesprossten C-Fasern durch Zellwandzerstörungen
mit der Ausschüttung von Substanz P reagieren mit der Folge eines Rückfalls in die
Entzündungsphase. Bei Verbrennungsnarben sollte nicht in den zweiten Bindegewebswiderstand
hinein behandelt werden, vielmehr bildet dieser die Dosierungsgrenze [Abb. 4b]. Postoperative Narben können hingegen zunehmend in den zweiten Bindegewebswiderstand
hinein behandelt werden [Abb. 4a].
Die Gefahr einer Überdosierung in der Proliferations- und Remodulierungsphase scheint
höher zu sein, als dass keine funktionelle Ausrichtung der Kollagenfasern stattfinden.
Dosierungsempfehlungen für Brandnarben
-
in der Proliferationsphase: im Bereich der ersten wahrnehmbaren Zunahme des Bindegewebswiderstands
-
in der Remodulierungsphase: Anstieg bis zum zweiten wahrnehmbaren Anstieg des Bindegewebswiderstands
-
Anwendungsdauer in beiden Phasen: in der Regel eine Minute pro Lokalisation, drei-
bis fünfmal pro Therapieeinheit
Befundtechniken
Der klassische Aufbau bei der physiotherapeutischen Befundaufnahme einer Narbe oder
Narbenplatte umfasst folgende Bestandteile:
-
Beurteilung der Qualität der Narbe: Hierzu gehören die Inspektion (z. B. Einziehungen, Wülste, hypertroph,
kelloidartig, flach, strangartig, Färbung, offene Stellen) und die Palpation (z. B.
Konsistenz, weich, dick ,,verbacken“, erwärmt).
-
Bewegungsausmaß (Range of Motion, ROM): Hier ist einerseits der globale Bewegungsausschlag zu beurteilen
und andererseits, wie sich die Narbe oder Narbenplatte in Bewegung verhält: Wo entstehen
potenzielle Spannungsausgleiche (mechanische Überbelastung)? Welche Narbenanteile
bewegen sich spontan in die physiologische Bewegungsrichtung und welche bleiben stehen
und reagieren mit Widerstand und potenzieller Überbelastung?
-
Spezifische Tests: Capillary Refill Test, Verschiebe-, Abhebe- und Verlängerungstest
Bei allen Tests soll in der Proliferationsphase nur bis zum ersten Anstieg des Bindegewebswiderstands
und in der Remodulierungsphase bis zum Anstieg des zweiten Bindegebswiderstands untersucht
werden.
Capillary Refill Test
Der Capillary Refill Test erlaubt Rückschlüsse auf die momentane Wundheilungsphase
der Narbe. Zu Beginn der Proliferationsphase ist das Narbengewebe durch die intensive
Neovaskularisation sehr gut durchblutet. Wird das Blut durch leichten mechanischen
Druck aus den Kapillaren herausgedrückt, entsteht eine partiell nicht mehr durchblutete
Narbenstelle; sie wird weiß. Die Kapillaren füllen sich bei Nachlassen des mechanischen
Druckes natürlich wieder. Je besser diese Stelle vaskularisiert ist, desto schneller
wird die lokale Narbenstelle wieder durchblutet und nimmt die Farbe des umliegenden
Gewebes an. [Video. 1] Die Zeit bis zum Wiedererlangen der Umgebungsfarbe (= Revaskularisierungszeit) lässt
eine Aussage über die lokale Aktivität der getesteten Stelle treffen. Gavray et al.
[1] ordnen der Revaskularisierungszeit verschiedene Wundheilungsphasen zu:
Revaskularisierungszeit
-
< 2 Sekunden: Die Narbe befindet sich in der Proliferationsphase.
-
2–3 Sekunden: Die Narbe befindet sich in der Remodulierungsphase.
-
> 3 Sekunden: Die Narbenreifung ist nahezu abgeschlossen.
Letzteres bedeutet nicht, dass an diesen Narben funktionell keine Veränderung mehr
erzielt werden kann, es gibt lediglich Auskunft über die Stabilität des Gewebes (Kollagen
Typ I). Genau dieser stabile Kollagentyp I benötigt auch einen viel länger andauernden
Reiz (Turn-over: 150–500 Tage), bis der Fibroblast ihn funktionell ausrichten kann
[8].
Verschiebetest
Das Ziel des Verschiebetests ist die Erfassung der Mobilität des Narbengewebes in
verschiedene Richtungen, vor allem im Bereich der funktionell relevanten Stellen.
Bei intakter Haut befindet sich die physiologische Gleitschicht zwischen Dermis und
Subkutis [Abb. 5a], wobei die Subkutis in sich schon eine große Mobilität aufweist (lockerer Gewebeverband;
[8]). Bei einer Narbenplatte ist je nach Schwere und Tiefe der Verletzung die physiologische
Gleitschicht unterbrochen, und die Dermis ist grundsätzlich Gewebe mit niedrigerer
Qualität (eigentliches Narbengewebe: vornehmlich Kollagen Typ I
; [Abb. 5b]).Beim Verschiebetest sind diese Verklebungen (Restriktionen oder Adhäsionen) in
Form eines frühen und starken Widerstandsanstiegs zu spüren.
Abb. 5 Verschiebetest. a Physiologische Gleitschicht zwischen Dermis und Subkutis. b Nur noch zum Teil vorhandene Gleitschicht. An den verklebten Stellen drohen bei Verschiebung
des Gewebes eine mechanische Überbelastung und eine daraus folgende neue Entzündungsphase
durch Zellwandzerstörung. (Grafik: T. Koller; Umsetzung: Thieme Verlagsgruppe)
Bei der praktischen Ausführung ist ein flächiges Einsinken ins Gewebe wichtig, um
einen guten Kontakt mit der Oberfläche aufnehmen zu können. Des Weiteren mindert dieses
Einsinken ins Gewebe die „Wegrutschgefahr“ der Hand auf der Oberfläche und lässt erspüren,
ob das Gewebe mit einem „Release“ oder einem Spannungsanstieg (nicht physiologisch)
reagiert. Durch leichtes Verschieben der Hand lässt sich die Mobilität des Narbengewebes
beurteilen [Abb. 6].
Abb. 6 Der Verschiebetest dient der Erfassung der Mobilität des Narbengewebes in verschiedene
Richtungen. (Quelle: T. Koller)
Abhebetest
Das Ziel des Abhebetests ist die Erfassung der Mobilität des Narbengewebes in vertikaler
Richtung, vor allem im Bereich der funktionell relevanten Stellen. Die Abhebbarkeit
setzt sich einerseits aus der Verschiebbarkeit und andererseits aus der Dichte des
Gewebes zusammen. Die Dichte (Hyperkollagenose) wird mit konstanter Kompression behandelt.
Durch diese Kompression entsteht eine Hypoxie im Narbengewebe und eine daraus resultierende
Apoptose. Der Abhebetest wird vornehmlich zu Beginn der Remodulierungsphase eingesetzt,
da er das Gewebe mechanisch stark beansprucht.
Bei intakter Haut lässt die physiologische Gleitschicht eine dreidimensionale Mobilität
zu [Abb. 7a], was zur funktionellen Abhebbarkeit der Haut führt [8]. Wie beim Verschiebetest sind hier, durch die veränderte Gleitschicht [Abb. 7b
], Verklebungen in Form eines frühen und starken Widerstandsanstiegs zu spüren.
Abb. 7 Abhebetest. a Physiologische Gleitschicht zwischen Dermis und Subkutis. b Nur noch zum Teil vorhandene Gleitschicht. An den verklebten Stellen drohen beim
Abheben des Gewebes eine mechanische Überbelastung und eine daraus folgende neue Entzündungsphase
durch Zellwandzerstörung. (Grafik: T. Koller; Umsetzung: Thieme Verlagsgruppe)
Bei der praktischen Ausführung ist ein flächiges Einsinken mit Daumen und Zeigefinger
ins Gewebe wichtig, um einen guten Kontakt mit der Oberfläche aufnehmen zu können.
Durch leichtes Zusammenschieben von Daumen und Zeigefinger entsteht eine Hautfalte.
Je schwerer sich eine Hautfalte bilden lässt, desto dichter ist das Narbengewebe.
Anschließend wird anhand einer leichten Supinationsbewegung beider Unterarme die Abhebbarkeit
der Hautfalte beurteilt [Abb. 8].
Abb. 8 Der Abhebetest erfasst die Mobilität des Narbengewebes in vertikaler Richtung. (Quelle:
T. Koller)
Verlängerungstest
Das Ziel des Verlängerungstests ist die Erfassung der Dehnbarkeit (Entfernung zweier
Punkte) des Narbengewebes in verschiedene Richtungen. Bei intakter Haut realisiert
die Dermis in sich eine gewisse Dehnfähigkeit durch Elastineinlagerungen [Abb. 9a]; [8]. Die physiologische Gleitschicht unterstützt dies zusätzlich. Diese Eigenschaft
ist vor allem über artikuläre Gelenke mit viel Bewegungsausmaß von größter Bedeutung.
Bei einer Narbenplatte ist zusätzlich zur Unterbrechung der Gleitschicht [Abb. 9b] die Dehnbarkeit des Gewebes aufgrund des fast gänzlichen Fehlens von Elastin herabgesetzt
[8].
Abb. 9 Verlängerungstest. a Physiologische Gleitschicht zwischen Dermis und Subkutis. b Nur noch zum Teil vorhandene Gleitschicht. An den verklebten Stellen drohen bei Verlängerung
(Dehnen) des Gewebes eine mechanische Überbelastung und eine daraus folgende neue
Entzündungsphase durch Zellwandzerstörung. Das fast gänzlich fehlende Elastin im Narbengewebe
wirkt sich zusätzlich negativ auf die Dehnbarkeit aus. (Grafik: T. Koller; Umsetzung:
Thieme Verlagsgruppe)
Bei der praktischen Durchführung ist wie bei den anderen Tests ein flächiges Einsinken
ins Gewebe wichtig. Durch leichtes Verschieben beider Hände lässt sich die Verlängerungsfähigkeit
des Narbengewebes beurteilen [Abb. 10]. Wichtig ist, dass sich das Narbengewebe zwischen den beiden Händen in derselben
Wundheilungsphase befinden muss. Ist dies nicht der Fall, wirkt die mechanische Dehnungskraft
unweigerlich in die mechanisch schwächste Stelle ein und überlastet diese. Diese schwächste
Stelle reagiert mit einem Spannungsausgleich und reißt ein. Eine neue Entzündungsphase
wird initiiert. Dies ist bei allen Untersuchungstests und Behandlungstechniken zu
vermeiden!
Abb. 10 Der Verlängerungstest erfasst die Dehnbarkeit des Narbengewebes in verschiedene Richtungen.
(Quelle: T. Koller)
Manuelle Mobilisation
Grundsätzlich kommen die Behandlungstechniken analog der Untersuchungstests zur Anwendung.
Die Dosierung wird der aktuell lokal herrschenden Wundheilungsphase angepasst. Bezüglich
der Dauer der funktionellen Reizsetzung (verschieben, abheben, verlängern) finden
sich in der Literatur nur wenige Angaben. Eine empirische Tendenz ist trotzdem zu
erkennen, und diese ergibt aus gewebephysiologischen Überlegungen auch Sinn. Die Reizgebung
soll möglichst homogen über den Tag verteilt und während der Intervention nicht hoch
dosiert sein [8].
Bei Patienten mit großflächigen Narbenplatten hat sich eine Reizsetzung von ein bis
drei Minuten pro Reiz mit zwei- bis dreimaliger Wiederholung je Interventionssitzung
bewährt. Während des Tages soll diese Interventionssitzung zwei bis fünf Mal wiederholt
werden.
Dabei können die Patienten ab einem gewissen Stadium auch teilweise eine adäquate
Reizsetzung durch geeignete Übungsanordnungen selbstständig ausführen. Bei der Platzierung
der Hände muss stetig die Beschaffenheit der Narbe (hinsichtlich Qualität und Wundheilungsphase)
beachtet werden. Zwischen den Händen sollte ein mechanisch möglichst homogenes Areal
liegen, das sich idealerweise in der gleichen Wundheilungsphase befindet. Ist dies
nicht der Fall, sollte die Platzierung der Hände so erfolgen, dass sich mit einer
Hand die weiterlaufende Bewegung in die fragilen Stellen abstoppen (unterbrechen,
schützen oder aussparen) lässt.
Behandlungstechniken
Verschiebe- und Abhebetechnik Das Vorgehen ist bei beiden Techniken analog der dazugehörenden Tests ([Abb. 6], [Abb. 8]). Je nach Wundheilungsphase wird bis in den Bereich des ersten oder zweiten Anstiegs
des Bindegewebswiderstands mobilisiert. Bei der Abhebetechnik kann in der Remodulierungsphase
auch eine leichte Querfriktion in die Hautfalte appliziert werden (ohne auf dem Gewebe
zu verrutschen).
Verlängerungstechnik Bei der Verlängerungstechnik wird zwischen der 2-Punkte- und 3-Punkte-Technik unterschieden.
Die 2-Punkte-Technik kommt bei konvexen Körperstellen zur Anwendung. Dabei werden beide Hände so platziert,
dass sich dazwischen die konvexe Körperstelle befindet. Die Konvexität gewährleistet,
dass der mechanische Reiz homogen über die Körperstelle verteilt wird (vorausgesetzt,
die Qualität der Narbe ist möglichst homogen und sie befindet sich in derselben Wundheilungsphase;
[Abb. 10]).
Abb. 11 3-Punkte-Technik in Verlängerung. (Quelle: T. Koller)
Die 3-Punkte-Technik wird bei konkaven Körperstellen angewendet. [Abb. 11] zeigt im Halsbereich lateral eine konkave Körperstelle. Hier würde sich bei der
2-Punkte-Technik der ganze Narbenstrang zwischen den beiden Händen abheben und den
mechanischen Reiz übertragen (Weg des geringsten Widerstands direkt in eine schwächere
Stelle). Somit wäre das Risiko eines Spannungsausgleiches an einer schwächeren Stelle
größer. Bei der 3-Punkte-Technik werden beide Hände je an das Ende eines Narbenstrangs
gesetzt, der Narbenstrang wird unter Spannung gebracht und mit einem Finger auf dem
Zenit der Konkavität zum Körper hingedrückt. Dadurch fließt der mechanische Reiz gezielt
in den festen Narbenstrang.
Fazit
Funktionelle Reize sind schon früh in der Proliferationsphase zu setzen, um eine funktionelle
Anordnung der Kollagenfasern zu unterstützen. Um eine adäquate physiotherapeutische
Narbentherapie zu applizieren, bedarf es einer taktil stetigen Kontrolle vor und während
der manuellen Intervention. Sie setzt mit der Berücksichtigung des ersten und zweiten
Bindegewebswiderstands in der entsprechenden Phase der Wundheilung die Grundlage für
eine adäquate Dosierung. Brandnarben sind dabei vorsichtiger zu behandeln als postoperative/posttraumatische
Narben. Die subjektiven Schmerzangaben von Patienten dürfen in der Proliferationsphase
nicht als einziges Instrument für die Dosierung verwendet werden. Dagegen sollten
sie in der Remodulierungsphase vermehrt in die Dosierungsbestimmung mit eingebunden
werden, da Patienten in dieser Phase die beiden Schmerzaktivitäten (A-delta- und C-Fasern)
besser unterscheiden können.
Die Behandlungstechniken ermöglichen eine sehr spezifische und lokale Reizgebung auf
das Narbengewebe. Obwohl sie zeitintensiv sind, lohnt sich dieser Aufwand: Er resultiert
in einem verbesserten Bewegungsausmaß und lässt die Patienten stetig selbstständiger
in ihren Aktivitäten des täglichen Lebens werden. Somit können sie im Alltag auch
zunehmend autonom die funktionellen Reize setzen. Eine konsequent getragene Kompression
und das Verwenden von Silikonauflagen unterstützen maßgeblich einen positiven allgemeinen
Rehabilitationserfolg.