Schlüsselwörter
prolongierte Beatmungsentwöhnung - außerklinische Beatmung - häusliche Intensivpflege
- Krankenkasse
Key words
prolonged weaning - homecare ventilation - ambulatory intensive care - health insurance
company
Einleitung
Dank großer Fortschritte in der Intensivmedizin steigt die Zahl der Patienten, die
auch bei schweren Erkrankungsverläufen mittels invasiver Beatmung stabilisiert werden
können und anschließend dann von der invasiven Beatmung entwöhnt werden müssen, deutlich
an [1]
[2]
[3]. Auch bei der AOK Hessen stieg – gemäß kasseninterner Auswertungen – der Anteil
der Versicherten mit mindestens einer stationären Beatmungsstunde von 2012 bis 2018
von 8511 auf 9542 Fälle, d. h. um ca. 12 % an.
Meist können die Patienten nach kurzzeitiger Beatmungstherapie in der Klinik von der
Beatmung entwöhnt werden. Angesichts verbesserter intensivmedizinischer Behandlungsmöglichkeiten
bei Organversagen, zunehmender Komorbiditäten und der sich verändernden Altersstruktur
der Bevölkerung wächst aber die Zahl der Patienten, die nur schwer vom Beatmungsgerät
zu entwöhnen sind und deshalb längerfristig beatmet werden müssen [1]
[4]. Mit dem Ziel, in den sich etablierenden Weaningzentren eine möglichst hohe Behandlungsqualität
zu erreichen, wurde im Jahr 2007 innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie
und Beatmungsmedizin (DGP) das Netzwerk „WeanNet“ gegründet [2]
[3]. Eine Auswertung der Datenbank der Deutschen Weaningzentren (n = 11 424), die nach
den Statuten der DGP zertifiziert werden, konnte kürzlich zeigen, dass ca. 21 % der
Patienten mit prolongiertem Weaning bei Nichtentwöhnbarkeit in die invasive außerklinische
Beatmung verlegt werden [5]. Ca. ¾ der bei der AOK Hessen versicherten Patienten werden langfristig intensivbehandlungsbedürftig
in der häuslichen Umgebung versorgt. Ein Intensivpflegedienst benötigt für die Versorgung
eines einzelnen Patienten 5,3–5,5 Pflegefachkräfte. Die monatlichen Kosten hierfür
belaufen sich auf ca. 25 000 €. Die Zahl der außerklinisch beatmeten Intensivpflegepatienten
stieg in den letzten Jahren in Deutschland wie auch bei der AOK Hessen stark an [1]. Gleichzeitig wurde deutlich, dass das Weaningpotenzial der Patienten nicht systematisch
erfasst wird [1]
[4]. Wichtig ist hier die Erkenntnis, dass eine invasive Langzeitbeatmung nach erfolglosem
prolongiertem Weaning durchaus mit erheblichen Einschränkungen der gesundheitsbezogenen
Lebensqualität verbunden sein kann und dass hier mitunter nicht jeder Patient die
benötigte Motivation für ein Weiterleben aufgrund der kritischen Begleitumstände aufbringen
kann.
In Diskussionen mit Fachgesellschaften wie der DGP sowie einzelnen Experten hat die
AOK Hessen die Daten ausführlich analysiert. Darauf aufbauend wurde in Diskussionen
mit einer Vielzahl von Akteuren versucht, auf diese unbefriedigende Situation eine
adäquate Antwort zu finden. Der Prozess hat über 2 Jahre in Anspruch genommen. Im
Folgenden soll die Ausgangslage, der erarbeitete Lösungsansatz und erste, nichtsystematische
Erfahrungen beschrieben werden.
Methoden
Analyse der bisherigen Situation
Im Rahmen einer interdisziplinär angelegten Analyse hat die AOK Hessen in den Jahren
2017 und 2018 eine Datenauswertung und Begutachtungen medizinischer Fallunterlagen
durchgeführt. Zusätzlich wurde ein intensiver Austausch mit folgenden Gruppen durchgeführt:
-
betroffene Patienten und deren An-/Zugehörige,
-
Fachärzte, Therapeuten, Geschäftsführer zertifizierter Weaningzentren,
-
in der Thematik erfahrene Fachärzte und Therapeuten im Bundesgebiet,
-
niedergelassene Ärzte,
-
Vertreter von WeanNet und
-
andere Krankenkassen.
Durch diese Analyse wurden folgende Feststellungen getroffen:
-
Die Zahl der außerklinisch beatmeten Intensivpflegepatienten stieg in den letzten
Jahren bei der AOK Hessen stark an ([Abb. 1]). So war im Zeitraum von 2012 bis 2018 eine Zunahme der im Bereich der außerklinischen
Intensivpflege versorgten Versicherten um 70 % zu verzeichnen, die Ausgaben verdreifachten
sich in diesem Zeitraum.
-
In Hessen gibt es 6 nach WeanNet zertifizierte Weaningzentren. Beatmete oder tracheotomierte
Patienten, bei denen hinsichtlich der Beatmungsentwöhnung kurzfristige Fortschritte
(ca. innerhalb der nächsten 4 Wochen) zu erwarten sind, können im Anschluss an eine
stationäre Behandlung in ein Weaningzentrum verlegt werden. Die Erfolgsquote dieser
Weaningzentren übersteigt 50 %.
-
Nur ein Bruchteil der bei der AOK Hessen versicherten Patienten (ca. 12 %), die im
Jahr 2016 aus ca. 80 Kliniken in die außerklinische intensivpflichtige Versorgung
entlassen wurden, durchliefen vor der Entlassung in die Häuslichkeit ein zertifiziertes
Weaningzentrum.
-
Bei den übrigen 88 % der Patienten erfolgte weder eine Verlegung in ein zertifiziertes
Weaningzentrum noch eine Prüfung des Weaningpotenzials durch einen erfahrenen Weaning-Arzt.
-
Dass eine Einschätzung eines möglichen Weaningpotenzials durch Fachärzte entlassender
Kliniken durchgeführt wurde, war bei Entlassungen oftmals nicht erkennbar. Berichtete
Einschätzungen waren teils nicht zutreffend.
-
Ein zielgerichtetes Entlass-Management von Akut-Krankenhäusern hin zu Beatmungszentren
konnte nicht festgestellt werden. Die gesetzlichen Regelungen des Entlass-Managements
wurden nicht regelhaft umgesetzt, da der Kostenträger oft erst nach Einbindung eines
Pflegedienstes über die Intensivpflicht informiert wurde.
-
Einzelne Pflegedienstmitarbeiter berichteten über ihren Verdacht, dass Verbindungen
zwischen einzelnen Klinikmitarbeitern und einzelnen Nachversorgern bestehen, im Rahmen
dessen Versorgungsaufträge vermittelt würden.
-
Ob und wie Beatmungsentwöhnung in den übrigen Krankenhäusern, bei denen es sich nicht
um zertifizierte Weaningzentren handelt, durchgeführt wird, ist wenig transparent.
-
Ob der Entlassungs-/Verlegungszeitpunkt beatmeter/tracheotomierter Patienten aus Akutkliniken
immer der geeignete ist oder ob eine frühzeitigere Verlegung in ein Weaningzentrum
einen besseren Behandlungserfolg hätte herbeiführen können, konnte nicht abschließend
geklärt werden.
-
Möglichkeiten für ein „Frühwarnsystem“ konnten trotz umfangreicher unterstützender
Datenanalysen sowie prozessualer Betrachtungen nicht gesichert erkannt werden. Im
aktuellen DRG-System wird die Beatmungspflichtigkeit bzw. Tracheotomie erst bei der
Entlassung aus dem Krankenhaus mitgeteilt, sodass eine gezielte Intervention hinsichtlich
Weaning nicht möglich ist. Der Versuch, im Rahmen eines mitarbeitergestützten Klein-Projektes
Früherkennungsoptionen mit Familien zu besprechen, erwies sich nicht als praxisgeeignetes
Vorgehen.
-
Das DRG-System scheint ökonomische Fehlanreize zu bieten: Die Abrechnung von Beatmungsstunden
ist für die Kliniken rentabel, weniger jedoch die erfolgreiche Entwöhnung von der
Beatmung.
-
In Einzelfällen wurde berichtet, dass das Gelingen des Entwöhnungsprozesses im Weaningzentrum
gescheitert sei, da eine Entlassung wegen der Ausschöpfung der maximal abrechenbaren
Beatmungsstunden initiiert wurde.
-
Die Nachsorge in der Häuslichkeit des Patienten war aufgrund der Trennung des stationären
und des ambulanten Sektors schwierig.
-
Patienten mit mittelfristigem Weaning-/Dekanülierungspotenzial werden von der Versorgungsmöglichkeit
durch ein Weaningzentrum nicht erfasst.
-
Eine strukturierte Nachsorge erfolgt in der Häuslichkeit meist nicht.
-
Hausärzte sind mit der Betreuung und Behandlung beatmeter oder tracheotomierter Patienten
teils unerfahren und unsicher.
-
Befragte Experten im Bundesgebiet sahen Weaningpotenziale bei strukturierten erweiterten
Versorgungswegen unter unmittelbarer Betreuung und Federführung eines erfahrenen Arztes
eines zertifizierten Weaningzentrums. Eine deckungsgleiche Erkenntnis konnte im Rahmen
individueller Fallbetrachtungen gewonnen werden.
Abb. 1 Patientenanzahl sowie Ausgaben bei der AOK Hessen im Bereich der intensiven häuslichen
Krankenpflege im Zeitraum von 2012 bis 2018.
Ansatzpunkte zur Verbesserung der Versorgungssituation
Aspekte wie u. a. die Veränderung von Fehlanreizen in der DRG-Systematik oder die
Etablierung eines „Frühwarnsystems“ wurden zwar als sinnvolle, aber nicht durch die
AOK Hessen realisierbare Handlungsfelder erkannt. Folgende Analyseergebnisse hingegen
schienen geeignet, positive Veränderungen von Abläufen und Versorgungsmöglichkeiten
anzustoßen:
-
Generelles Initiieren der Einschätzung des Weaningpotenzials durch einen erfahrenen
Weaning-Facharzt vor der Entlassung in die außerklinische Versorgung.
-
Erweiterung der Versorgungsstruktur um sogenannte TABs (Therapieeinheit außerklinische
Beatmung) als Möglichkeit eines mittelfristigen Weaningpotenzials auszuschöpfen.
Die Analyse hatte ergeben, dass die Patienten wochen-, teils monatelang andauernde
Klinikaufenthalte hinter sich hatten – und zunächst in ein häusliches Setting überführt
werden müssen, in dem sie und ihre An- und Zugehörigen in ihrer Gesamtheit wahrgenommen,
betreut und versorgt werden. Eine Haupterkenntnis der Analyse bestand tatsächlich
darin, dass das wesentliche Element für den Erfolg der Entwöhnung die „Zeit“ ist.
Um den Patienten diese Zeit zu geben, wird eine qualitätsgestützte, erweiterte Versorgungsstruktur
benötigt, die wir „Therapiezentrum für außerklinische Beatmung“ (TAB) genannt haben.
Die Zielsetzung besteht in der Sicherstellung einer mittelfristigen Beatmungsentwöhnung
und Dekanülierung in einem Zeitraum von bis zu 6 Monaten.
Ein TAB sollte sich durch folgende besondere Kriterien auszeichnen:
-
neu zu schaffendes, bisher nicht vorhandenes Versorgungsangebot,
-
außerhalb der Räumlichkeiten des stationären Weaningzentrums, in Räumlichkeiten ohne
Klinikcharakter,
-
in unmittelbarer Nähe zum Weaningzentrum unter ständiger Betreuung eines erfahrenen
Weaning-Arztes,
-
für Patienten ohne akutstationären Behandlungsbedarf,
-
mit dem Schwerpunkt auf Leistungen der Physiotherapie, der Atmungstherapie, der Ergotherapie
und der Logopädie (montags bis samstags),
-
Personalrotation und/oder Erfahrungsaustausch zwischen Personal des Weaningzentrums
und des TAB als Garant für den Einsatz hochqualifizierten und erfahrenen Therapeuten-
und Fachpflegepersonals sowie
-
die Mitaufnahme von Angehörigen soll möglich sein.
-
Nachsorge in der Häuslichkeit, um den Erfolg zu stabilisieren.
Vertraglicher Rahmen
Um die gefundenen Ansatzpunkte realisieren zu können, musste ein prozessualer und
rechtlicher Rahmen geschaffen werden. Die wesentlichen Elemente sind in [Tab. 1] aufgeführt. Eine externe Evaluation und regelmäßige Treffen zwischen Kliniken und
AOK zum Informationsaustausch sollen den Prozess optimieren und stabilisieren.
Tab. 1
Wesentliche Elemente des vertraglichen Rahmens.
Tätigkeit
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Gründe
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Vorstellung des Konzeptes beim Hessischen Ministerium für Soziales und Integration
(HMSI)
|
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europaweite Ausschreibung
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anders als in einem Modellprojekt ist mit dem IV-Vertrag eine flächendeckende Versorgung
und der Abschluss des Vertrages mit mehreren Kliniken gleichzeitig möglich
|
Besonderheiten des Vertrages
|
-
individuelle Vergütung je Klinik möglich
-
Möglichkeit der erneuten Ausschreibung
-
Evaluierung gemeinsam mit den teilnehmenden Kliniken
|
Vertrag zur integrierten Versorgung
Mit dem Vertrag der integrierten Versorgung gelingt es, bei Versicherten der AOK Hessen
eine verlängerte qualifizierte, inhaltlich neu ausgerichtete und wohnortnahe prolongierte
Weaningbehandlung anzubieten. Die wesentlichen Aspekte des Vertrages sind im Behandlungsplan
([Abb. 2]) dargelegt.
Abb. 2 Der Behandlungsplan mit den unterschiedlichen Modulen.
Kernpunkte des Vertrages
Kernpunkt A des Vertrages
verstärkte Potenzialeinschätzungen durch erfahrene „Weaning-Ärzte“
-
Akutkrankenhäuser sollen – motiviert durch ein Anreizsystem – bei allen AOK-Hessen-versicherten
Patienten (unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Regelungen) zum Ende einer
stationären Versorgung – per Überleitbogen – relevante Patientendaten an ein am Vertrag
teilnehmendes Weaningzentrum übermitteln, um so das Potenzial einer Beatmungsentwöhnung
und/oder einer Dekanülierung ermitteln zu können.
-
Bei Bestehen kurz- oder mittelfristigen Potenzials übernimmt das Weaningzentrum die
Einschreibung in den IV-Vertrag und nimmt die Patientin/den Patienten auf.
-
Als kurzfristig positive Prognose für eine Beatmungsentwöhnung wird in diesem Vertrag
jener Entwöhnungsprozess bezeichnet, der derzeit als Regelleistung durch die Inanspruchnahme
im Rahmen der Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V möglich ist.
-
Als mittelfristig positive Prognose für eine Beatmungsentwöhnung wird in diesem Vertrag
jener Entwöhnungsprozess bezeichnet, welcher Fortschritte im Entwöhnungsprozess innerhalb
der nächsten 6 Monate erwarten lässt.
-
Die kurzfristige leitlinienkonforme Beatmungsentwöhnung und Dekanülierung erfolgt
im Weaningzentrum selbst.
-
Wenn
-
die Beatmungsentwöhnung/Dekanülierung im Weaningzentrum nicht vollständig durchgeführt
werden kann, aber mittelfristiges Potenzial für eine weitergehende Beatmungsentwöhnung/Dekanülierung
gesehen wird, oder
-
die/der Versicherte vor der Behandlung im Weaningzentrum weitergehender Mobilisation/Stabilisation
bedarf,
erfolgt die Überleitung in ein „Therapiezentrum für außerklinische Beatmung“ (TAB)
für maximal 6 Monate.
Eine Überleitung in das TAB ist für einen Zeitraum von bis zu 4 Wochen auch dann –
nach Genehmigung durch die AOK Hessen – möglich, wenn die Aufnahme im Therapiezentrum
für außerklinische Beatmung als sinnhaft einzuschätzen ist hinsichtlich der Anleitung
von An- und Zugehörigen in Vorbereitung auf eine häusliche Versorgung – verbunden
mit einer körperlichen, psychischen und seelischen Stabilisierung von Patient und
An-/Zugehörigen.
Kernpunkt B des Vertrages
Schaffen von „Therapiezentren für außerklinische Beatmung“ (TAB) zur Ausweitung des
stationären Entwöhnungsprozesses Weaningzentren, die Kapazitäten haben, um in gesonderten
Räumlichkeiten den stationären Entwöhnungsprozess auszudehnen, können im Rahmen der
integrierten Versorgung die weitere Betreuung durch Weaning-Ärzte sowie Therapien
und Pflege in einem „Therapiezentrum für außerklinische Beatmung“ (TAB) zur Verfügung
stellen. Die Vergütung dieser Leistungen erfolgt in Form einer Komplexpauschale.
Die mittelfristige Beatmungsentwöhnung wird somit zwar ebenfalls durch ein Krankenhaus,
das über ein am Vertrag teilnehmendes Weaningzentrum verfügt, angeboten – allerdings
in einer Behandlungsphase, in der kein akutstationärer Behandlungsbedarf mehr besteht.
Die Behandlung selbst erfolgt außerhalb der Räumlichkeiten des stationären Weaningzentrums
in einer separaten Station, aber räumlich in unmittelbarer Nähe zum Weaningzentrum,
in einem sogenannten TAB.
Während der Behandlung im TAB, die bis zu 6 Monate möglich ist, soll der Patient in
einer nichtklinischen Atmosphäre stabilisiert sowie durch eine spezielle, individuelle
und intensivierte Therapie perspektivisch wieder zum eigenständigen Atmen geführt
werden. Die Leitlinien zur prolongierten Beatmungsentwöhnung sind auch hier zu beachten
[2]
[3]. Insbesondere soll eine enge Kooperation mit dem Weaningzentrum stattfinden, sodass
die eigentliche Entwöhnung im Weaningzentrum stattfindet.
Intensive Pflege und individuelle Betreuung des Patienten und auch die der An-/Zugehörigen
stehen im Vordergrund. Atmungstherapie, Logopädie, Physio- und Ergotherapien finden
von montags bis samstags statt. In der Pflege besteht ein guter Personalschlüssel
(maximal 1:3).
Monatlich finden persönliche Fallkonferenzen zwischen AOK und dem TAB statt – zum
Austausch sowie zur sehr kurzfristigen Klärung offener Fragen und zur Initiierung
und Abstimmung des weiteren Versorgungsgeschehens.
Kernpunkt C des Vertrages:
Nachsorge
Sofern das Weaning nicht erfolgreich war, vom Weaning-Arzt aber weiteres Potenzial
gesehen wird, findet eine bis zu 1-jährige individuelle Nachsorge statt. Der Weaning-Arzt
koordiniert die weitere Steuerung und Betreuung durch das TAB und arbeitet mit dem
Hausarzt, dem Pflegedienst sowie Therapeuten zusammen. Im Rahmen eines Modulsystems
wird das Schließen von Kooperationsverträgen, die Beratung, das Wiedervorstellen im
TAB sowie Hausbesuche durch Klinikpersonal in der Häuslichkeit vergütet. Flexibilität
und Individualität sollen durch ein Modulsystem erreicht werden.
Datenschutz, Auswertung
Bei Aufnahme in das Projekt unterschreiben die Patienten bzw. deren Angehörige eine
4-seitige Teilnahme- und datenschutzrechtliche Einwilligungserklärung, die auch den
Befundaustausch zwischen den Behandlern berücksichtigt. Die Einwilligungen können
jederzeit ohne Angabe von Gründen widerrufen werden. Die Daten werden nach der Übermittlung
anonymisiert, sodass ein Rückschluss auf die Person nicht möglich ist. Die Daten werden
spätestens 1 Jahr nach Behandlungsende gelöscht. Die Abrechnungsdaten werden in einer
separaten Datenbank gespeichert und nach Ausscheiden aus dem Versorgungsprogramm gelöscht,
soweit sie für die Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen und Aufbewahrungsfristen
nicht mehr benötigt werden.
Die Auswertung der ersten Erfahrungen erfolgt im Rahmen dieser Publikation retrospektiv
und deskriptiv. Eine weiterführende, systematische Auswertung wird erst zu einem späteren
Zeitpunkt mit aussagekräftiger Datenbasis erfolgen.
Ergebnisse/Erfahrungen
Auch wenn das Konzept erst im Sommer 2019 gestartet wurde, lassen sich bereits jetzt
erste Erfahrungen berichten. Über die auch in der Vergangenheit einem Weaningzentrum
vorgestellten und dort behandelten Versicherten hinaus sehen die Weaning-Ärzte der
beteiligten Zentren „on top“ in ca. der Hälfte der vorgestellten Fälle Potenzial für
eine Beatmungsentwöhnung/Dekanülierung (siehe [Tab. 2]). Ein relevanter Anteil der initial in ein TAB aufgenommenen Patienten konnten im
Verlauf im Weaningzentrum von der Beatmung entwöhnt und dekanüliert werden. Ein typischer
Patient mit Verlauf wird zur Veranschaulichung in der Fallvignette dargestellt.
Tab. 2
Darstellung der bisherigen Erfahrungen.
Kennzahlen
|
Ergebnisse (Stand Januar 2020)
|
Anzahl durchgeführter Potenzialeinschätzungen
|
67 Versorgungen, davon
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Ergebnis durchgeführter Potenzialeinschätzungen
|
bei 38 vorgestellten Patienten wurde ein Potenzial gesehen
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Anzahl verstorbener Patienten im TAB
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4 Patienten
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Anzahl bisher entlassener Patienten, die im TAB behandelt worden waren
|
16 Patienten
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Ergebnis der im TAB behandelten und entlassenen Patienten
|
-
8 Patienten ohne Beatmung und ohne Trachealkanüle
-
1 Patient mit NIV (nur nachts, Versorgung durch die im TAB angeleitete Familie)
-
4 Patienten mit Trachealkanüle ohne Beatmung
-
3 Patienten mit invasiver Beatmung
|
Die Rückmeldungen der Versicherten und der An-/Zugehörigen gestalten sich positiv.
Es wurde z. B. hervorgehoben, dass die Pflegekräfte und Therapeuten motiviert sind
und Zeit für Patienten und Angehörige haben und auf die Ängste sowie die Krankengeschichte
der Patienten eingehen. Die individuell gestaltbaren Zimmer und die Aufenthaltsräume
geben den Patienten das Gefühl von Häuslichkeit. Dies wird durch einzelne Aussagen
unterstrichen: „Der emotionalste Moment war der, in dem ich das erste Mal wieder sprechen
konnte.“ Eine Evaluation mit systematischer Analyse wird durchgeführt werden, wenn
Daten über einen längeren Zeitraum vorliegen.
Eine Zusammenfassung der bisherigen Erfahrungen ist in [Tab. 2] dargestellt.
Fallvignette aus einem TAB
Fallvignette aus einem TAB
Patient männlich, 70 Jahre, Aufnahmediagnose: Pneumonie bei vorbestehender COPD (GOLD
III).
Die Intubation erfolgte auf der Intensivstation am ersten Tag des KH-Aufenthaltes
aufgrund des NIV-Versagens bei ventilatorischer Insuffizienz. Der Patient befand sich
insgesamt 111 Tage im Beatmungszentrum. Die Überleitung in das hausinterne Weaningzentrum
erfolgte nach 10 Tagen und 2 gescheiterten NIV-Versuchen. Die perkutane Tracheotomie
erfolgte an Tag 32. Die Aufnahme im TAB erfolgte an Tag 54 mit dem Zielauftrag der
Dekanülierung.
Die therapeutischen Maßnahmen wurden entsprechend der Projektbeschreibung, ergänzt
durch Hanteltraining und Bettfahrradanwendungen, durchgeführt. Neben der schweren
Schluckstörung standen im Vordergrund: Zum einen die allgemeine Kraftminderung (ICU-aquired
weakness, ICUAW) – Sitzen im Bett und mit seitlicher Absicherung war möglich –, zum
anderen eine massive Angststörung – der Patient hatte kein Zutrauen zu sich und seinem
Umfeld. Er sagte bei Aufnahme: „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe!“ Nur durch die
externe Aktivierung seiner Ehefrau kam er überhaupt bis in das TAB. Zwei Aspekte führten
im weiteren Verlauf zur Besserung: Erstens führt die intensive Betreuung durch das
Pflegepersonal und den Therapeuten zur Wiederkehr des Selbstvertrauens. Zweitens kommt
der Patient zur Ruhe. Im Nachgang beschreibt der Patient dies als den wichtigsten
Punkt. Das „nervige“ Piepsen und die Unruhe in der Weaningeinheit, die ihn nachts
wachgehalten haben, waren weg. In einem Interview, welches der Patient nach seiner
Entlassung gegeben hat, sagte er: Er hatte im TAB selbst wieder die Initiative ergriffen
und seine Angst verloren.
Der Wechsel auf den Platzhalter (Tag 72) wurde in der Weaningeinheit durchgeführt.
Nach 91 Tagen war das Tracheostoma verheilt. Im Rahmen der Fallkonferenz wurde entschieden,
den Patienten ohne weitere Rehamaßnahme in die Häuslichkeit zu überführen. Auch dieses
Vorgehen motivierte den Patienten. Die Entlassung erfolgte 111 Tage nach Beginn der
stationären Behandlung.
Nach der Entlassung aus dem TAB besucht uns der Patient mit seiner Ehefrau wöchentlich
und nimmt an dem „Freitags-Talk im TAB“ teil. Hier sitzen unsere Patienten, ihre Angehörigen
sowie unser Team und nutzen das psychosoziale Angebot unter Moderation einer ausgebildeten
Beraterin. Alle Patienten, die nicht an dem Termin teilnehmen können, besucht er im
Zimmer und motiviert sie an dem Ziel zu arbeiten, wieder ein selbstbestimmtes Leben
zu erreichen [6].
Diskussion
Gemeinsame Lösungsansätze
Ein innovativer Aspekt unseres Projektes ist, dass dieses von einer Krankenkasse nach
sorgfältiger Betrachtung der Patientenversorgung unter Einbeziehung von Experten und
Betreuungsstrukturen geplant wurde. Hierbei wurde sowohl eine Verbesserung der Patientenversorgung
als auch eine Reduktion der Kosten angestrebt. Ein solches koordiniertes Vorgehen
ist im deutschen Gesundheitswesen bei einer Vielzahl von Akteuren nicht alltäglich,
sodass Ressourcen nicht immer optimal allokiert werden. Dies wird durch aktuelle Befunde
der EU-Kommission bestätigt: In Deutschland liegen die Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheitsversorgung
höher als in allen anderen Mitgliedsstaaten der EU. Die Gesundheitsergebnisse, gemessen
an der Lebenserwartung, sind jedoch nur durchschnittlich [7].
Interessanterweise hat unser Projekt Gemeinsamkeiten mit dem geplanten Gesetz zur
Stärkung von Rehabilitation und intensivpflegerischer Versorgung in der gesetzlichen
Krankenversicherung (Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz GKV, IPREG
[8]). Z. B. sieht das Gesetzt vor, dass die außerklinische Intensivpflege durch einen
für die Versorgung dieser Versicherten besonders qualifizierten Vertragsarzt verordnet
werden muss. Auch soll eine rehabilitative Versorgung durch Logopädie, Ergotherapie
und Physiotherapie gewährleistet werden.
Qualitätskontrolle durch Einbeziehung der Kasse
Ein weiterer Aspekt unseres Projektes ist, dass in den regelmäßigen Fallkonferenzen
das Behandlungsteam mit Vertretern der Krankenkasse spricht. Bisher sind die Kassen
zumeist bei Vergütungsfragen mit den Leistungserbringern in Kontakt. Die regelmäßigen
Fallkonferenzen helfen in der Startphase des Projektes, Probleme zu erkennen und gemeinsam
zu lösen. Weiter wirken die Fallkonferenzen einer unnötigen Leistungsausdehnung durch
z. B. eine Weiterführung der Behandlung bei abzusehender Erfolglosigkeit entgegen.
Dies ist relevant, da die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitssystems in
Deutschland Fehlanreize bieten kann [7].
Bisher können die Krankenkassen Qualitätsaspekte bei der Vergütung von Leistungen
kaum berücksichtigen. In unserem Projekt war die präzise definierte Strukturqualität
das wesentliche Auswahlkriterium. Dieses Beispiel lässt hoffen, dass in Zukunft Qualitätsaspekte
bei der Allokation von Ressourcen stärker in den Vordergrund rücken. Versorgungsverträge,
die eine verlängerte Entwöhnungsbehandlung ermöglichen, gibt es – lokal begrenzt –
auch in Nordrhein-Westfalen.
Erste Erfahrungen
Die bisher von einzelnen medizinischen Fachgesellschaften aufgezeigten Fehlentwicklungen
in der Betreuung von beatmeten Patienten konnten im vorgestellten Projekt nachvollzogen
werden. Auch wenn bisher lediglich ein kurzer Zeitraum ausgewertet wurde, konnten
wir zeigen, dass ein zusätzlicher Teil der Patienten mit einer außerklinischen, intensivpflichtigen
Versorgung erfolgreich von der Beatmung entwöhnt bzw. dekanüliert werden kann, sofern
die entsprechenden Versorgungsstrukturen vorliegen.
Unsere Befunde sind von Bedeutung, da sie auf eine große Patientengruppe zutreffen.
Im Jahr 2016 sind 23 % aller stationär aufgenommenen Patienten auf einer Intensivstation
behandelt worden [1]. Viele dieser Patienten müssen invasiv beatmet werden und bei 10–20 % dieser Patienten
muss eine Beatmung längerfristig fortgesetzt werden. Oft geling eine Entwöhnung von
der Beatmung auf der Intensivstation nicht, sodass die Patienten in die außerklinische
intensivpflichtige Versorgung entlassen werden. Lediglich ein geringer Teil der Patienten
wird in ein spezialisiertes Weaningzentrum verlegt. Nach der aktuellen Auswertung
des WeanNet-Registers kann die Mehrzahl der Patienten (64,3 %) erfolgreich vom Respirator
entwöhnt werden und verlässt das Weaningzentrum ohne invasive Beatmung [2]
[5]. Die im Rahmen des hier vorgestellten Projektes erhobenen Daten sind möglicherweise
schlechter als die Daten der im Akkreditierungsprozess befindlichen Weaningzentren.
Das mag an dem ausgewählten Kollektiv, den über die Jahre immer kränkeren Patienten
oder an der noch geringen Fallzahl liegen. Auch kommt es bei der kurzen Beobachtungsdauer
zu einer systematischen Unterschätzung des Erfolges.
In unserem Projekt konnten wir sowohl Patienten betreuen, die direkt von einer Intensivstation
verlegt wurden, als auch Patienten, die aus der häuslichen Intensivpflege übernommen
wurden. Dies zeigt, dass das Projekt gut an die Versorgungsrealität in Deutschland
angepasst ist.
Hohe Sterblichkeit und ethische Aspekte
Soweit bei der kurzen Laufzeit des Projektes zu beurteilen, ist die Sterblichkeit
der von uns betreuten Patienten hoch. Dies entspricht Daten aus dem WeanNet sowie
internationalen Erfahrungen [5]
[9]. Patienten mit schwerer, chronischer Erkrankung sterben oft an den Folgen ihrer
Erkrankung. Diese Möglichkeit wird allerdings selten vorausschauend thematisiert.
Patienten, Angehörige sowie Ärzte scheuen verständlicherweise das Thema. Allerdings
bessert die „vorausschauende Behandlungsplanung“ die Lebensqualität der betroffenen
Patienten und reduziert die Kosten am Ende des Lebens [10]. Gerade Patienten mit häuslicher Beatmung sind oft mit ihrer eingeschränkten Lebenssituation
unzufrieden und einige von ihnen wären in Betrachtung dieser Situation lieber gestorben
als so zu leben [11]. In einzelnen Fällen ist daher eine Thematisierung der weiteren Behandlung in der
TAB oder im Weaningzentrum im Sinne einer vorausschauenden Behandlungsplanung, z. B.
im Rahmen einer ethischen Fallberatung,
-
Die Zahl der Patienten, die im Verlauf einer intensivmedizinischen Behandlung von
einer invasiven Beatmung entwöhnt werden müssen, hat in den vergangenen Jahren stetig
zugenommen. Ein Teil hiervon bleibt dauerhaft beatmet, was zu einer erheblichen Beeinträchtigung
der Lebensqualität führt.
-
Eine frühe Erkennung von geeigneten Patienten mit Weaningpotenzial und der dann täglichen
intensiven physiotherapeutischen und logopädischen Arbeit ist in einem geeigneten
Vertragsrahmen möglich.
-
Erste Erfahrungen zeigen bei einem relevanten Teil der so behandelten Patienten eine
erfolgreiche Entwöhnung von der Beatmung.