Nach den Statistiken der gewerblichen Berufsgenossenschaften ist in 40 % der Arbeitsunfälle
die Hand betroffen. Somit ist sie die am häufigste betroffene Körperregion. Da sich
immer mehr Menschen als Heimwerker versuchen, nimmt außerdem auch die Zahl der Handverletzungen
im Freizeitbereich zu. Bei schwereren Handverletzungen, insbesondere wenn Sehnen,
Nerven oder Gefäße betroffen sind, ist der Plastische Chirurg bzw. Handchirurg gefordert
[1].
Die Prävalenz von Beugesehnenverletzungen ist mit 1 % aller Handverletzungen zwar
relativ niedrig, jedoch mit großen sozialen und ökonomischen Folgen verbunden. Wie
die klinische Erfahrung zeigt, ist die postoperative Nachsorge und insbesondere die
Ergotherapie und Schienenbehandlung nach Beugesehnennaht wesentlich für den Behandlungserfolg
[2].
Anatomie der Fingerbeuger
Anatomie der Fingerbeuger
Die extrinsischen Beugemuskeln der Finger und des Daumens liegen im Unterarm und setzen
mit jeweils zwei Sehnen an den Fingern bzw. mit einer Sehne am Daumen an.
Die oberflächliche Beugesehne (Sehne des M. flexor digitorum superficialis, FDS) setzt
mit einem ulnaren und einem radialen Seitenzügel an der Mittelgliedbasis an und beugt
Grund- und Mittelgelenk. Die tiefe Beugesehne (Sehne des M. flexor digitorum profundus,
FDP) tritt in Höhe des proximalen Fingergrundglieds durch die oberflächliche Beugesehne
hindurch (sog. Hiatus tendineus) und setzt an der Endgliedbasis an. Sie beugt also
alle 3 Fingergelenke. Ab Grundgliedmitte läuft die FDP-Sehne oberflächlich und kann
deshalb in diesem Bereich leicht verletzt werden [Abb. 1]. Oberflächliche und tiefe Beugesehne sind zudem durch die Vincula longa und breve
miteinander verbunden, die aus Überresten eines durchgehenden Mesotendineums aus der
Embryonalentwicklung entstehen. Zusätzlich zur Ernährung durch Diffusion aus der Synovia
wird die Sehne durch Blutgefäße innerhalb der Vinkula versorgt. Deshalb ist der Erhalt
dieser Strukturen für die Sehnenheilung essenziell [3].
Am Daumen verläuft nur eine extrinsische Beugesehne: die Sehne des M. flexor pollicis
longus, FPL. Sie ist die einzige Sehne, die den Daumen im Endgelenk beugt. Somit fällt
diese Funktion bei ihrer Durchtrennung völlig aus und kann nicht kompensiert werden.
Außerdem schwächt eine Durchtrennung der FPL-Sehne die Beugung im Daumengrundgelenk
und im Handgelenk ab.
Abb. 1 Die tiefe Beugesehne tritt auf Höhe der Grundphalanx durch die beiden Zügel der oberflächlichen
Beugesehne hindurch und verläuft dann an der Oberfläche. (1) FDS-Sehne, (2) FDP-Sehne,
(3) Hiatus tendineus, (4) Chiasma tendineum, (5) Vincula longa, (6) Vincula breve.
(Quelle: Hoffmann R, Krimmer H. Anatomie. In: Hoffmann R, Hrsg. Checkliste Handchirurgie.
4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2016)
Ring- und Kreuzbänder führen und befestigen die Beugesehnen an den Phalangen. Um ein
Bogensehnenphänomen, also das Abheben der Sehne vom Knochen, zu vermeiden, sind die
Ringbänder bei Operationen zu schonen [4].
Die intrinsischen Fingerbeuger haben ihren muskulären Ursprung innerhalb der Hand.
Hierzu gehören die Mm. lumbricales und Mm. interossei, welche in den Grundgelenken
beugen.
Zoneneinteilung
Die Einteilung in Zonen erlaubt eine bessere Vergleichbarkeit unterschiedlicher Beugesehnenverletzungen
[Abb. 2]. Je nach Zone können unterschiedliche operativ-technische Schwierigkeiten in der
Versorgung auftreten.
Abb. 2 Zoneneinteilung bei Beugesehnenverletzungen der Hand. (Quelle: Hoffmann R, Krimmer
H. Primäre Beugesehnennaht. In: Hoffmann R, Hrsg. Checkliste Handchirurgie. 4. Aufl.
Stuttgart: Thieme; 2016)
Zone 1 Läsionen in dieser Zone entsprechen ansatznahen Verletzungen der FDP-Sehne. Sobald
distal mehr als 1 cm Sehnenstumpf für die Naht zur Verfügung steht, kann eine direkte
Sehnennaht durchgeführt werden. Ist das nicht der Fall, ist in der Regel eine primäre
Verankerung der FDP-Sehne an den Knochen indiziert [5].
Zone 2 Die Behandlung von Beugesehnenverletzungen in Zone 2 ist chirurgisch gesehen eine
besondere Herausforderung. Aufgrund der anatomisch engen Verhältnisse zwischen FDP-
und FDS-Sehne sowie deren Sehnenscheide kann es hier schnell zur Entstehung von Sehnenadhäsionen
kommen. Diese Verklebungen verhindern im Verlauf ein adäquates Sehnengleiten und erschweren
somit die Nachbehandlung. Deshalb bedarf es hierbei einer speziellen chirurgischen
Expertise. So kann es aufgrund der besonderen anatomischen Situation sinnvoll sein,
auf die Naht einer der beiden Beugesehnen zu verzichten, um die Entstehung von Verklebungen
durch zu starkes Sehnenreiben zu vermeiden [6].
Zonen 3–5 Verletzungen in diesen Zonen können in der Regel mit einer direkten Naht unproblematisch
versorgt werden. Verklebungen sind hier seltener.
Zonen T1–T3 Die Zonen am Daumen werden durch den Buchstaben „T“ gekennzeichnet. Durchtrennungen
in Zone T1 bedürfen häufig der Versorgung mittels Lengemann-Ausziehnaht, da distal
nicht mehr genügend Sehnenmaterial für eine Kernnaht vorhanden ist. Bei Verletzungen
in den Zonen T2 und T3 kann eine 4-Strang-Naht der FPL-Sehne entsprechend des Vorgehens
an den Langfingern erfolgen.
Pathologie und Sehnenheilung
Pathologie und Sehnenheilung
Sehnengewebe besitzt einen deutlich niedrigeren Sauerstoffbedarf als andere Gewebearten.
Diese tiefe metabolische Rate und ihre Fähigkeit, trotz niedrigem Sauerstoffangebot
ausreichend Energie zu produzieren, sind essenziell, um Belastungen und Zugkräfte
über lange Zeiträume auszuhalten. Nachteilig ist jedoch der daraus resultierende langsame
Heilungsprozess nach einer Beugesehnendurchtrennung [7].
Heilungsphasen Die Sehnenheilung startet unmittelbar nach der Verletzung und wird in 3 unterschiedliche
Phasen eingeteilt, die je nach Verletzungslokalisation und -art zeitlich variieren
und sich überlappen können: Die Entzündungsphase dauert ca. 3–5 Tage. Aufgrund der zerstörten umliegenden Blutgefäße kommt es hierbei
zur Ödembildung. Die genähte Sehne weist noch eine sehr geringe Belastbarkeit auf.
Die zweite Phase, auch Proliferationsphase genannt, dauert mehrere Wochen an. Das Areal um die Sehnennaht besteht nun aus unorganisiertem
Granulationsgewebe. Etwa nach 10 Tagen weist die genähte Sehne die geringste Festigkeit
auf [8]. Nun wird vermehrt Kollagen Typ III gebildet und auch bereits schrittweise in den
optimalen Typ I umgewandelt. Somit steigt die Reißfestigkeit der Sehne ab diesem Zeitpunkt
logarithmisch an.
In der 3. Phase, der Umbauphase, die über ein Jahr in Anspruch nehmen kann, kommt es zur Geweberestrukturierung.
Die Kollagenfasern ordnen sich langsam wieder parallel zur Zugbeanspruchung an. Dieses
Narbengewebe ist auf zellulärer Ebene allerdings weniger geordnet als normales Sehnengewebe.
Die volle Reißfestigkeit einer unverletzten Sehne wird daher nie wieder erreicht [9]
[10].
Intrinsische und extrinsische Heilung Die Sehnenheilung kann währenddessen auf zwei unterschiedliche Weisen erfolgen. Es
lassen sich hierbei intrinsische und extrinsische Heilungsprozesse unterscheiden.
Zunächst kann die verletzte Sehne vom umliegenden Gewebe her repariert werden (=extrinsische
Heilung). Blutgefäße sprossen von außen in das verletzte Sehnengewebe ein und unterstützen
die Heilung. Hierbei entstehen allerdings auch Sehnenverklebungen von außen. Diese
Adhäsionen erhöhen zum einen die Sehnenbelastbarkeit, verringern zum anderen jedoch
auch deren Gleitfähigkeit. Hierdurch kann es langfristig zu einer schlechten Fingerbeweglichkeit,
insbesondere einer eingeschränkten aktiven Beweglichkeit, kommen.
Bei intaktem Vinkulasystem und vorsichtiger operativer Präparation der Sehnenenden
kann die Sehne allerdings auch vom Sehnengewebe selbst ausgehend heilen. Diese sogenannte
intrinsische Heilung kann, im Gegensatz zur extrinsischen, ohne die Bildung von Adhäsionen ablaufen.
Nach Verletzung der Beugesehne bildet sich in jedem Fall Narbengewebe.
Ob eine verletzte Sehne vermehrt intrinsisch oder extrinsisch heilt, ist von vielen
unterschiedlichen Faktoren abhängig und lässt sich somit nicht immer sicher beantworten.
Zusammengefasst lässt sich jedoch sagen, dass eine vermehrt intrinsische Heilung bei
geringerer Adhäsionsbildung eine bessere Beweglichkeit zur Folge hat. Jedoch ist eine
so heilende Sehne aufgrund der fehlenden stabilisierenden Adhäsionen in der Nachbehandlung
auch weniger belastbar [11]
[12]
[13].
Heilung ohne Operation Tritt die Sehnenheilung ohne vorherige Operation ein, besteht eine große Lücke zwischen
den Sehnenstümpfen. Somit kommt es zu einer Vernarbung mit dem umliegenden Bindegewebe
sowie zu einem minderwertigen Regenerat (geringere mechanische Stabilität und Reißfestigkeit)
mit deutlich erhöhter Rerupturrate und schlechter Fingerfunktion [9]
[10]. Den Heilungsprozess der Sehne unterstützt man also mit einer adäquaten Adaption
der beiden Sehnenenden am besten. Dies erreichen wir nur durch eine operative Versorgung.
Diagnostik
Für eine Operation ist eine adäquate Indikationsstellung notwendig. Hierfür bedarf
es einer ausführlichen Anamnese und insbesondere einer genauen klinischen Untersuchung.
Anamnese
Zunächst erfragen wir den Unfallhergang. Der Traumamechanismus gibt bereits wichtige
Informationen zur Einschätzung der Verletzungsart. Bei stumpfen Traumata kommt es
eher zu Sehnenausrissen und Quetschverletzungen. Bei Schnittverletzungen ist eine
glatte Durchtrennung der Sehnen zu erwarten. Diese Information ist für die Planung
der operativen Versorgung wichtig. In diesem Zusammenhang ist es auch entscheidend
zu erfragen, ob sich die betroffenen Finger zum Zeitpunkt der Schnittverletzung in
Beuge- oder Streckstellung befanden. Erfolgt die Schnittverletzung an einem Finger
in Beugestellung, so ist der distale Sehnenstumpf weit distal der Schnittwunde, der
zentrale Stumpf jedoch nur wenig proximal zu erwarten. In dieser Situation sind die
Präparation und die operative Versorgung erschwert. Befindet sich der entsprechende
Finger zum Zeitpunkt der Schnittverletzung in Streckstellung, so findet sich der distale
Sehnenstumpf nahe der Wunde. Die Präparation ist in diesem Fall deutlich einfacher
[4].
Inspektion
Im Ruhezustand zeigt die Hand einen zunehmenden Beugesehnentonus der Finger vom Zeigefinger
hin zum Kleinfinger [14]. Jede Abweichung dieses Spannungsverlaufs ist Hinweis auf eine Beugesehnenverletzung.
Bei isolierter Durchtrennung der FDP-Sehne an den Langfingern oder der FPL-Sehne am
Daumen steht das Endgelenk in Streckstellung [Abb. 3]. Bei isolierter Durchtrennung der FDS-Sehne findet man einen insgesamt verminderten
Fingerbeugetonus vor [Abb. 4]. Bei komplettem Tonusverlust eines Fingers ist eine kombinierte Durchtrennung beider
Beugesehnen anzunehmen. Der Finger befindet sich in einer auffälligen Streckhaltung
[Abb. 5].
Abb. 3 Isolierte Durchtrennung der FDP-Sehne III: Das Endgelenk befindet sich in Streckstellung.
(Quelle: Hoffmann R, Krimmer H. Diagnostik. In: Hoffmann R, Hrsg. Checkliste Handchirurgie.
4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016)
Abb. 4 Isolierte Durchtrennung der FDS-Sehnen II und III: Ein verminderter Beugetonus ist
sichtbar. (Quelle: Hoffmann R, Krimmer H. Diagnostik. In: Hoffmann R, Hrsg. Checkliste
Handchirurgie. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016)
Abb. 5 Kombinierte Durchtrennung beider Beugesehnen: Der Beugetonus ist aufgehoben. (Quelle:
Hoffmann R, Krimmer H. Diagnostik. In: Hoffmann R, Hrsg. Checkliste Handchirurgie.
4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016)
Klinische Untersuchung
Da aufgrund der Nähe der Strukturen häufig Begleitverletzungen vorliegen, ist es grundsätzlich
wichtig, die Sensibilität, Motorik und Durchblutung zu überprüfen. Hierbei ist die
zügige Beurteilung der Durchblutung des Fingers distal der Schnittwunde entscheidend,
da bei eingeschränkter Durchblutung eine sofortige operative Therapie mit Revaskularisierung,
das heißt Wiederherstellung der Durchblutung, nötig ist. Die Durchblutung wird durch
das Feststellen der Rekapillarisierungszeit im Vergleich mit den unverletzten Nachbarfingern
erfasst.
Die aktive Funktionsprüfung der tiefen Beugesehne erfolgt bei auf der Tischebene festgehaltenem
Mittelglied. In dieser Position fordert der behandelnde Arzt den Patienten auf, den
jeweiligen Finger im Endgelenk zu beugen [Abb. 6a]. Die aktive Untersuchung der oberflächlichen Beugesehne ist komplizierter. Beide
Beugesehnen beugen über dem Mittelgelenk, sodass die Unterscheidung schwierig ist.
Um eine aussagekräftige Testung durchführen zu können, muss also die FDP-Sehne funktionell
ausgeschaltet werden. Anatomisch haben die tiefen Fingerbeugesehnen aller Langfinger
einen gemeinsamen Muskelbauch. Sie bilden somit eine funktionelle Einheit. Wenn ein
Finger weniger beweglich ist, sind es auch die drei anderen [5]. Also hält der Arzt den benachbarten Finger in Extension auf der Tischebene fest
und fordert den Patienten auf, den zu untersuchenden Finger aktiv zu beugen. Die Flexion
im Mittelgelenk kann dann nur durch eine intakte FDS-Sehne erfolgen [Abb. 6b].
Abb. 6 Klinische Funktionsprüfung der Beugesehnen: a) FDP-Sehne, b) FDS-Sehne. (Quelle: Hoffmann R, Krimmer H. Diagnostik. In: Hoffmann R, Hrsg. Checkliste
Handchirurgie. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016)
Bei fehlender Compliance des Patienten, Sprachbarriere oder bei Kleinkindern kann
keine aussagekräftige Untersuchung der aktiven Fingerbeugung erfolgen. Hier kann der
Tenodeseeffekt zur Beurteilung helfen [15]: Wenn eine Hand passiv im Handgelenk gestreckt wird, kommt es bei entspannter Haltung
automatisch zu einer zunehmenden Fingerbeugung. Umgekehrt führt eine passive Beugung
im Handgelenk zu einer zunehmenden Fingerstreckung. Dieser Effekt lässt sich durch
Druck auf die Muskulatur der entsprechenden Sehnen am Unterarm verstärken. Nach Beugesehnendurchtrennungen
ist dieser Effekt verändert.
Wichtig ist zusätzlich immer eine Prüfung der Beugung gegen Widerstand. Wenn hierbei
keine Beugung möglich ist oder diese schmerzhaft ist, kann der Arzt eine Teildurchtrennung
der Beugesehne nicht ausschließen. Das bedeutet, dass er die Beugesehne operativ darstellen
muss. Eine unversorgte Beugesehnenteilverletzung kann nämlich im Verlauf zu einer
sekundären Sehnenruptur bei Belastung führen, wenn die Wunde nur mittels Hautnaht
versorgt wurde.
Röntgen
Ergänzend kann ein Röntgenbild zum Ausschluss einer knöchernen Beteiligung oder des
Vorliegens eines röntgendichten Fremdkörpers angefertigt werden.
Beugesehnennaht
Hinsichtlich einer optimalen Nahttechnik oder eines optimalen Nahtmaterials herrscht
international bisher keine Einigung. Es ist sehr schwierig, die einzelnen relevanten
publizierten Studien miteinander zu vergleichen, da unterschiedlichste Methoden zum
Einsatz kamen. Dies führte auch zum Teil zu widersprüchlichen Ergebnissen. Allerdings
gibt es einige Grundprinzipien, die beachtet werden sollten [16]. So steht fest, dass eine Erhöhung der Anzahl an Kernnähten (sog. Stränge) die
Stabilität der Sehnennaht verstärkt, jedoch gleichzeitig die Gleitfähigkeit der Sehne
durch das eingebrachte Fadenmaterial vermindert [17]
[18]. [Abb. 7] zeigt häufig angewandte Techniken der Beugesehnennaht.
Abb. 7 Beugesehnennähte. a) 2-Strang-Naht nach Kirchmayr-Kessler. b) Feinadaption. c) 4-Strang-Naht nach Strickland. (Quelle: Bühren V, Keel M, Marzi I et al. Beugesehnenverletzungen.
In: Bühren V, Keel M, Marzi I, Hrsg. Checkliste Traumatologie. 7., komplett überarbeitete
und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2011; grafische Umsetzung: Thieme Verlagsgruppe)
Unserer Meinung nach sind biomechanisch 4 Kernnähte die beste Wahl, um den Patienten
in der Nachbehandlung frühzeitig aktiv beüben zu können und auf der anderen Seite
nicht unnötig viel Fadenmaterial einzubringen. Deshalb wird von vielen Autoren derzeit
die 4-Strang-Naht als Standard angesehen, obwohl ein klinischer Vorteil gegenüber
der einfacheren 2-Strang-Naht in Metaanalysen nicht gesichert ist [19].
Zu erwähnen gilt, dass andere Autoren beschreiben, dass auch nach 2-Strang-Naht eine
aktive Beübung möglich sei. So fand sich bei aktiver Nachbehandlung kein statistisch
signifikanter Unterschied bezüglich der Rupturrate bei Zweistrang- oder Mehrstrangtechniken
[20]. Auch hinsichtlich des funktionellen Ergebnisses konnte in einzelnen Studien für
Mehrstrangnähte keine Überlegenheit gezeigt werden [21].
Darüber hinaus muss sich der Chirurg entscheiden, wo er den Knoten platzieren soll.
Eine Möglichkeit besteht darin, ihn zwischen die Sehnenstümpfe zu legen. Auch wenn
dadurch eine gewisse Naht-Dehiszenz und eine Verminderung der Kontaktfläche der Sehnenstümpfe
entstehen könnten, wurde in einer In-vivo-Studie keine Reduktion der Nahtstabilität
festgestellt und sogar vermutet, dass diese Knotenlage einen positiven Anreiz auf
die Sehnenheilung hat [22]. Eine zirkulär epitendinöse Feinadaptationsnaht dient zusätzlich dazu, minimale
Lücken nach erfolgter Kernnaht zu schließen, um eine glatte Adaptation zu erreichen.
Sie trägt außerdem bis zu 50 % zur Gesamtstabilität bei [23].
Fallbeispiel: Unfall auf dem Bauernhof
Fallbeispiel: Unfall auf dem Bauernhof
Herr S. erlitt im Rahmen seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit auf dem Bauernhof eine
Durchtrennung der Beugesehnen von Zeige-, Mittel- und Ringfinger der linken Hand.
Er ist Linkshänder und von Beruf Landwirt. Ihm war anfangs noch nicht bewusst, dass
aufgrund dieser Verletzung seine gesamte berufliche Zukunft und die Existenz seines
Bauernhofes auf dem Spiel standen. Bei seiner notfallmäßigen Vorstellung in der Klinik
berichtete er, dass er eine Verstopfung im Strohhäcksler [Abb. 8] lösen wollte. Hierfür habe er den Auswurf abgeschraubt und in die Maschine gefasst.
Obwohl er zuvor daran gedacht hatte, die Stromzufuhr zu unterbrechen, lief die Strohmühle
noch nach. Hierbei verletzte er seine linke Hand an der rotierenden Klinge.
Abb. 8 Beim Hantieren im Strohhäcksler durchtrennte sich Herr S. mehrere Beugesehnen. (Quelle:
Privat)
In der klinischen Untersuchung zeigten sich Durchblutung und Sensibilität intakt.
Inspektorisch fiel mir sofort ein kompletter Tonusverlust der Finger der linken Hand
auf. Passend zur Höhe der Schnittverletzung in Zone 2, proximal, hatte ich den Verdacht
auf eine Durchtrennung der FDP- und FDS-Sehnen II–V. Dieser erhärtete sich durch die
Funktionsprüfung. Der Bauer konnte Zeige- bis Kleinfinger nicht mehr aktiv beugen.
Radiologisch bestanden keine Auffälligkeiten. Wir stellten die Indikation zur sofortigen
operativen Versorgung und führten eine 4-Strang-Naht mit Feinadaptation der FDP-Sehnen
II–IV sowie U-Naht der FDS-Sehnen II–IV durch. [Abb. 9] zeigt die Hand nach der operativen Versorgung.
Abb. 9 Die Hand von Herrn S. nach Schnittverletzung und operativer Versorgung. (Quelle:
Privat)
Die Nachbehandlung erfolgte für 6 Wochen nach dem modifizierten Kleinert-Schema. Nach
12 Wochen konnte er die Arbeit auf seinem Bauernhof wiederaufnehmen. Seine Existenz
konnte somit durch die moderne Beugesehnenbehandlung in Zusammenarbeit von Chirurg
und Ergotherapeut gesichert werden.