Rofo 2020; 192(09): 877-878
DOI: 10.1055/a-1229-7019
Nachruf

Dr. med. Inna Nitz: 1932–2020

 

Nachruf auf eine außergewöhnliche Persönlichkeit der Kinderradiologie

Kurz nach der Geburt in Berlin erfährt ihr scheinbar vorgezeichnetes Leben im Alter von 9 Monaten die entscheidende Richtung: Ihre besorgten Eltern lassen sie auf der Rückreise nach China vorerst zurück. Der Vater kommt durch Piraterie um, die Mutter erreicht mit 5 weiteren Kindern China und kann nicht zurückkehren. Inna wächst bei Pflegeeltern in Berlin auf, ihre chinesische Staatsangehörigkeit behält sie zeitlebens.


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Dr. med. Inna Nitz

Persönlich betroffen von der Ideologie des NS-Regimes, darf sie erst 1945 das Gymnasium besuchen und soll kurzfristig den Ansprüchen der nationalchinesischen Schule genügen, lernt jedoch nie Chinesisch. Nach dem Abitur gestaltet sie ihren persönlichen Weg in der DDR.

Sie studiert Medizin an der Humboldt-Universität zu Berlin und promoviert über „Die Beeinflussung der normalen und nephritischen Rattenniere durch Diamox.“

Ihr primärer beruflicher Wunsch ist der Facharzt für Innere Medizin, aber auch diese Richtung wird sie letztlich nicht nehmen: Auf dem Weg zur Internistin liegt die radiologische Ausbildung, in der sie bis zu ihrem 1. Facharzt 1964 verbleibt.

Die erste radiologische Einheit in einer Kinderklinik Deutschlands, installiert unter Professor Heubner 1903 in Berlin, wurde bis 1964 durch Fachärzte der Pädiatrie betreut. Erst zu diesem Zeitpunkt werden klinische Abteilungen mit Röntgenfachärzten besetzt, und es entstehen Subspezialitäten. Bezeichnend ist, dass zwei Ordinarien, der Radiologe Professor Ließ und der Pädiater Professor Dieckmann, die außergewöhnliche Persönlichkeit von Frau Dr. Nitz erkennen und sich darum bemühen, sie für die Leitung der Röntgenabteilung der Kinderklinik zu gewinnen. Sie willigt ein, erlangt 1967 ihren 2. Facharzt für Pädiatrie und widmet sich mit Elan der Kinderradiologie in einem schwierigen politischen Umfeld.

Nachdem das Ehepaar Nitz Zwillingssöhne adoptiert hat, wird die Bewältigung des Alltags nicht einfacher.

Die Kinderklinik verfügt 1964 für die damaligen Verhältnisse über eine gute technische Ausrüstung, und die neue diagnostische Herausforderung meistert Frau Dr. Nitz sehr bald. Zu ihren Schwerpunkten werden die kardiovaskuläre Nativdiagnostik, insbesondere jedoch die Skelettdiagnostik bei humangenetischen Fragestellungen sowie die fetale radiologische Diagnostik in der Kinderpathologie. Es resultiert eine beachtliche Sammlung konnataler Skelettveränderungen.

1979 gelingt es ihr, eine „Import-Röntgeneinrichtung“ der Firma Philips für die Abteilung durchzusetzen. Zusammen mit der Pädiatrie konstruiert sie ein System, mit dessen Unterstützung Thoraxübersichtsaufnahmen über eine Nasensonde atemgesteuert ausgelöst werden können.

1966 wird Frau Dr. Nitz Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Kinderradiologie der DDR, deren jährliche Treffen überwiegend in der Charité stattfinden.

Bereits 1965 wird ihr aufgrund ihrer ausländischen Staatsangehörigkeit im Gegensatz zu ihren Kollegen die Teilnahme am 3. Kongress der European Society of Pediatric Radiology (ESPR) in Stockholm gestattet.

Dort muss sie den angemeldeten Vortrag des Kinderkardiologen verlesen, dessen Ausreise verweigert wurde. In Stockholm bleibt ihr Engagement in der Pädiatrischen Radiologie nicht verborgen, und es wird ihr unmittelbar seitens der ESPR die Mitgliedschaft angetragen. Sie selbst ist erstaunt, als das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen der DDR diesem Antrag stattgibt.

Kennzeichnend für sie ist, dass sie ihre persönliche Situation als Chance für andere begreift und nutzt: 1966 wird ihr die Teilnahme am ESPR-Kongress in London gestattet mit dem Hinweis, sie vertrete dort nicht die DDR. Sie erwidert umgehend, dass eine Delegation der DDR auf den Kongressen der ESPR wünschenswert wäre. Ihr Verdienst ist es, dass künftig auch eine Delegation von kinderradiologisch tätigen Kollegen der DDR zu den Kongressen der ESPR ausreisen kann. Gegen Ende der Siebzigerjahre gilt dies ebenso für die Kongresse der Gesellschaft für Pädiatrische Radiologie (GPR), allerdings erst nachdem bewiesen war, dass diese keinen Alleinvertretunganspruch für Gesamtdeutschland erhob.

Frau Dr. Nitz bleibt politisch unbequem: Auch den wiederholten Aufforderungen, die DDR- Staatsbürgerschaft anzunehmen, folgt sie nicht; wohl wissend, dass ihr damit eine weitere akademische Laufbahn in der DDR verbaut ist.

Ihre aktiven Beiträge bereichern die Kongresse. Sie ist Mitautorin vieler Veröffentlichungen. Zusammen mit Professor Thiemann aus Halle/Saale erarbeitet sie den „Röntgenatlas der normalen Hand“, ein Standardwerk vor allem in der DDR. Dort war der Atlas von Greulich und Pyle nicht verfügbar. Die Herausgabe wurde jedoch über Jahre verzögert. Der Atlas erschien endlich 1986 bei Thieme Leipzig, in den Wiederauflagen 1992 sowie 1996 bei Thieme Stuttgart.

Sie kann ihre besonderen beruflichen Beziehungen auch auf den westlichen Teil von Berlin ausweiten und steht insbesondere mit Professor Kaufmann in regem wissenschaftlichem Austausch.

Nach der Wende wird Frau Dr. Nitz Oberärztin der Kinderklinik und leitet dort weiterhin die radiologische Abteilung. 1992 erfolgt die Zusammenlegung der Abteilung mit dem zentralen Röntgeninstitut.

Mit ihrer Lebenserfahrung begleitet sie die Neubesetzung der Kinderradiologie 1994. Sie erklärt, vermittelt und berät unermüdlich, wann immer dies erforderlich wird.

Zu ihrer Verabschiedung 1995 finden sich zahlreiche Kollegen aus dem In- und Ausland in Berlin ein, um sie zu feiern.

Wo immer sie auftritt, ist ihre zierliche Gestalt nicht zu übersehen, zu überhören ist sie erst recht nicht. Sie trägt ihre Anliegen stets vehement vor. Selbst wenn dies Probleme bereiten könnte, verlässt sie ihre Richtung nicht und verfolgt konsequent die ihr wichtigen Ziele.

Ihre besondere Gabe, problemlos auf allen Ebenen zu kommunizieren, wird interdisziplinär nicht nur in der Charité, sondern auch bei allen Kollegen der Kinderradiologie hoch geschätzt.

Wir gedenken ihrer als einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, der unsere Wertschätzung und unser Dank gehören.

Professor Brigitte Stöver

Für den Vorstand der GPR


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
20. August 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York


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