Die dynamischen Entwicklungen in den Neurowissenschaften prägen auch die Neurorehabilitation.
((Quelle: A. Fischer/Thieme Gruppe; Symbolbild))
Allein ein Blick auf die Bettenentwicklung verdeutlicht dies: Im Jahr 2000 existierten
etwa 1100 Rehabilitationskliniken mit ca. 144 000 Betten. Davon waren weniger als
15 000 für die Neurologische Rehabilitation, weniger als 1000 Betten für die NNFR
und weniger als 100 für beatmete Patienten vorgesehen. 2020 verfügen genauso viele
Rehabilitationseinrichtungen über etwa 164 000 Betten, jetzt allerdings mit ca. 20 000 Betten
in der Neurorehabilitation. 5000 Betten sind in der NNFR verortet, davon ca. 1000 Betten
mit Patienten zur Beatmungsentwöhnung (Weaning) belegt [1]. Die letzten 20 Jahre haben der NNFR also einen Zuwachs von 500 % an belegten Betten
und ca. 1000 % Beatmungsbetten beschert. Ist das rechnerisches Kalkül oder tatsächlicher
Bedarf? Und vor allem: Was hat sich darüber hinaus noch alles verändert?
Der folgende Artikel kann nicht alle Aspekte zurückliegender und kommender Veränderungen
in der NNFR im Detail beleuchten, sondern muss sich aus Platzgründen auf die wichtigsten
beschränken. Die vom Autor vorgenommene Auswahl ist zweifellos subjektiv, zeigt jedoch
einerseits die großen Herausforderungen in der gegenwärtigen Zeit, andererseits aber
auch Chancen für die Zukunft. Die wichtigsten Aspekte wurden nach Veränderungen der
„Medizin“, der „Hygiene“ und der „Gesundheitspolitik und -ökonomie“ kategorisiert.
Veränderungen durch neurologisch fachspezifische Entwicklungen
Änderungen des Diagnosespektrums und der Fallschwere
Zur vergleichenden Analyse, wie sich in den zurückliegenden Jahren Rehabilitationsdiagnosen
und/oder die Fallschwere verändert haben, eignen sich 2 multizentrische Langzeitverlaufsstudien
aus deutschen NNFR-Kliniken: 2002 wurden 1280 Patienten eingeschlossen [2], 2014 insgesamt 784 Patienten [3]. Zu den Top-5-Diagnosen in der NNFR zählen in beiden Erhebungen unverändert der
ischämische Schlaganfall (30,2 % vs. 31,7 % aller Patienten), die intrakranielle Blutung
(15,2 % vs. 14,9 %), das Schädel-Hirn-Trauma (16,1 % vs. 11,5 %) und die hypoxische
Hirnschädigung (9,9 % vs. 6,2 %). Am zweithäufigsten ist 2014 jedoch mit 17,1 % die
Critical-Illness-Polyneuropathie (CIP), also ein Krankheitsbild, das 2002 noch nicht
vertreten war.
Auch wenn dies in den Studien nicht explizit untersucht wurde, weisen diese meist
von Intensivstationen verlegten Patienten eine ausgeprägte Multimorbidität auf, die
Ärzten, Pflegepersonal und Therapeuten in der NNFR gleichermaßen die Rehabilitation
erschweren. Die Case-Mix-Indizes (CMI) als Indikatoren der Multimorbidität sind in
Frührehabilitationskliniken außergewöhnlich hoch, insbesondere wenn Patienten noch
beatmet werden. Unter den Top-10-Kliniken mit der höchsten Fallschwere des Krankenhaus-Reports
finden sich seit Jahren ausschließlich spezialisierte Zentren aus der Herzchirurgie
und der NNFR.
Hinweise für eine steigende Fallschwere ergeben sich im Vergleich der Studien auch
daraus, dass die Patienten vor Verlegung in die NNFR kürzer im primärversorgenden
Krankenhaus behandelt wurden (2014 Median 23 Tage, 2002 Median 27 Tage; p < 0,001)
bzw. dass das Patientenalter (2014: 68,0 ± 14,8 Jahre, 2002: 60,9 ± 16,9 Jahre; p < 0,001),
der Anteil an beatmeten Patienten in der NNFR (2014: 25,5 %, 2002: 15,2 %; p = 0,007)
und die Mortalität (2014: 9,6 %, 2002: 6,4 %; p = 0,031) im Verlauf der Jahre signifikant
höher waren. Umso bemerkenswerter ist dahingegen, dass 2014 ein signifikant höherer
Anteil an Patienten die weiterführende Rehabilitation (Phase C) erreichte (2014: 38 %,
2002: 33 %; p = 0,024).
Demografische Entwicklung
Die prognostizierte Entwicklung der Altersverteilung hat bereits jetzt Auswirkungen
auf die NNFR (s. o., Eintrittsalter in die Frührehabilitation) und wird dies zukünftig
in einem noch stärkeren Maße haben. Das Statistische Bundesamt hat ermittelt, dass
die Zahl der Menschen ab 67 Jahren bereits zwischen 1990 und 2018 um 54 % von 10,4 Millionen
auf 15,9 Millionen stieg. Bis 2039 ist mit einem weiteren Anstieg dieser Zahl auf
mindestens 21 Millionen zu rechnen [4]. Ältere bzw. chronisch kranke Menschen sind prädisponiert für neurovaskuläre Erkrankungen,
die in der Summe > 50 % der „typischen“ Diagnosen in der Neurorehabilitation stellen
[3].
Aus Registerdaten wird damit gerechnet, dass die Zahl der Schlaganfälle in Deutschland
von jetzt knapp 280 000 pro Jahr bis 2050 um ca. 68 % zunehmen wird [5]. Für Schädel-Hirn-Traumata ist eine analoge Entwicklung zu erwarten: Seit 2013 zeigt
sich, dass jedes zweite schwere Schädel-Hirn-Trauma Folge eines häuslichen Sturzes
ist, mit steigender Tendenz. In dieser Gruppe liegt der Altersgipfel jenseits des
60. Lebensjahres. Statistisch gesehen stürzen in dieser Altersgruppe 30 von 100 Menschen
mindestens einmal im Jahr schwer, und 12 % erleiden dabei eine Kopfverletzung [6]. Beide Erkrankungen haben als akute Verletzungen des Zentralnervensystems einen
hohen Bedarf an spezialisierter Rehabilitation. Es ist also mit einer weiter anwachsenden
Zahl von Patienten in der NNFR zu rechnen, deren Altersdurchschnitt steigt.
Demenz als Komorbidität
Ein weiteres Problem einer überalternden Bevölkerung ist die hohe Inzidenz neurodegenerativer
Erkrankungen, deren führendes klinisches Syndrom die Demenz ist. In Deutschland leben
nach jüngsten epidemiologischen Schätzungen rund 1,6 Millionen Menschen mit Demenz.
Die mittleren Prävalenzraten demenzieller Erkrankungen liegen bei 1,3 % für die Altersgruppe
65–69 Jahre, bei 8,1 % für die 75–79-Jährigen und bei 21,8 % für die 85–89-Jährigen
[7]. Unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Patientenalters von 68 Jahren in
der NNFR ist es statistisch unumgänglich, dass viele Patienten mit Demenz als (Zweit-)Diagnose
auch in neurologischer Rehabilitationsbehandlung sind.
Eine Demenzerkrankung stellt die therapeutischen Konzepte der NNFR vor besondere Herausforderungen:
Klassische Strategien des motorischen und kognitiven Lernens funktionieren nicht oder
nur eingeschränkt, was die Prognose einer Erholung zu funktioneller Unabhängigkeit
im Alltag verschlechtert. Regelmäßige, durchstrukturierte Tagesabläufe, von denen
an Demenz Erkrankte grundsätzlich sehr profitieren, lassen sich speziell in Kliniken,
aber auch durch interkurrente Erkrankungen (z. B. Infekte) oft nicht realisieren.
Die Stimmungs- und Motivationslagen der von Demenz Betroffenen sind labil, ändern
sich spontan und korrelieren nur bedingt mit Kriterien des therapeutischen Erfolgs
oder Misserfolgs [8]. Die länger anhaltende Entfremdung von vertrauten Umgebungen oder Bezugspersonen
während stationärer NNFR führt zu einer erhöhten Rate an Unruhezuständen mit Delir
oder Stürzen, mit der Konsequenz des Einsatzes sedierender Medikamente mit z. T. unvorteilhaften
Auswirkungen auf die Neuroplastizität (z. B. Neuroleptika).
Generell bleibt festzuhalten, dass Konzepte einer „demenzbegleitenden“ Neurorehabilitation
derzeit weder mit einer guten Evidenzlage unterlegt noch in Einrichtungen der NNFR
flächendeckend verbreitet sind. Gut etablierte Stärken der Rehabilitation, wie z. B.
die Einbeziehung von Angehörigen in den Rehabilitationsprozess, könnten hierbei hilfreich
sein.
Robotik und Digitalisierung in Therapie und Pflege
Nur wenige Themen haben die NNFR seit Anfang 2000 in einem ähnlichen Tempo weiterentwickelt
wie die Integration robotischer Technologie in die Behandlungsabläufe von Therapie
und Pflege. Sogenannte Exoskelette und Endeffektorgeräte zum motorischen Training
paretischer Extremitäten gehören in vielen Einrichtungen der neurologischen Rehabilitation
zur routinemäßigen Toolbox von Physio- und Ergotherapeuten. „Intelligente“ Software
und digital vernetzte Trainingsgeräte ermöglichen therapeutische Spiele („exergaming“)
und eine realitätsnähere kognitive Stimulation („enriched environment“) – beides mit
zusätzlichen Effekten auf die Patientenmotivation. Schließlich kann „virtuelle Rehabilitation“
mittels telemedizinischer Anwendungen auch in der Neurorehabilitation zum (ferntherapeutisch
unterstützten) Eigentraining und damit zur Erhöhung der Therapiefrequenz genutzt werden.
Von derartigen Lösungen profitieren nicht nur lokomotorische, sondern auch logopädische
oder kognitive Therapieprogramme.
Die therapeutische Wirksamkeit für viele robotische Verfahren ist mittlerweile für
funktionale und alltagsrelevante Parameter (z. B. Arm- und Beinkraft, funktionelle
Reichweite, selbstständiges Gehen, Ganggeschwindigkeit, Balance) belegt und in zahlreichen
Metaanalysen und systematischen Cochrane Reviews publiziert. Nach Studienlage verbessern
sich Paresen durch roboterassistierte Therapie am besten nach ischämischen Schlaganfällen,
(traumatischen) Querschnittlähmungen und Multipler Sklerose [9–12].
Es ist bemerkenswert, dass die hohe Wiederholungszahl von robotischen Therapiegeräten
die anfänglichen Erwartungen hinsichtlich Effektstärken gegenüber der konventionellen
Therapie bislang enttäuscht hat. Auch sind Therapeuten durch Roboter nicht „entbehrlich“
geworden, wie es sich vielleicht mancher Ressourcenoptimierer erhofft hatte. Vielmehr
haben die „robotics“ das neurorehabilitative Therapiespektrum sehr sinnvoll ergänzt
und gleichzeitig zu einer erheblichen qualitativen Verbesserung in der Durchführung
randomisierter kontrollierter Studien (RCT) in den Rehabilitationswissenschaften beigetragen.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch in der (therapeutischen) Pflege
robotische Systeme klinische Anwendung gefunden haben: Mobilisationsbetten, die die
(halb-)automatisierte Vertikalisierung von schwer Betroffenen, z. B. beatmeten Intensivpatienten,
in den Stand mit passiven Beinbewegungen kombinieren, sind als Prototypen derzeit
in der klinischen Testung und haben sicherlich das größte Potenzial für einen weiter
verbreiteten Einsatz. Die medial stärker beachteten „humanoiden Pflegeroboter“ sind
derzeit wohl eher in der Alten- und häuslichen Pflege vorstellbar als in der Komplexität
der NNFR.
Leitlinienentwicklung in der Rehabilitation
Die Einführung einer Leitlinienkommission in der DGNR seit 2006 mit Etablierung einer
ersten fachspezifischen Leitlinie 2009 [13] war ein wichtiger Schritt zur Fokussierung therapeutischer Inhalte der Neurorehabilitation
auf evidenzbasierte Verfahren, zur wissenschaftlichen (Neu-)Bewertung der klinischen
Praxis und als Impulsgeber zur Standardisierung und Erweiterung des Behandlungsspektrums.
Seitdem wuchs die Zahl der publizierten Leitlinien an – aktuell sind auf der Website
der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR) 3 eigene Leitlinien abrufbar;
das Portal der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
e. V. (AWMF) verzeichnet darüber hinaus nicht weniger als 25 weitere Leitlinien anderer
Fachgesellschaften, die unter der Mitwirkung der DGNR entstanden sind, weil sie wichtige
Themen der Neurorehabilitation berühren (z. B. Spastik, Aphasien, Dysphagien und schwere
Bewusstseinsstörungen).
Für die nähere Zukunft bleibt festzuhalten, dass diese Leitlinien zwar vielfach direkte
Auswirkungen auf die tägliche Arbeit von Therapeuten in Kliniken und Praxen, bislang
allerdings noch zu wenig Niederschlag in den Ausbildungscurricula therapeutischer
Berufe gefunden haben. Hier gilt es konsequent nachzubessern, weil den klassischen,
in ihrer Wirksamkeit jedoch nicht belegten „Therapieschulen“ (z. B. nach Bobath oder
Vojta) noch Kapazitäten eingeräumt werden, die nach heutiger Kenntnis nicht mehr gerechtfertigt
sind.
Veränderungen durch Entwicklungen der Hygiene
Multiresistente Erreger und Neurorehabilitation
Bakterielle, multiresistente Erreger (MRE) nehmen in allen Sektoren der Krankenversorgung,
insbesondere in stationären Bereichen, seit Jahren kontinuierlich zu. Die NNFR ist
von dieser Entwicklung in einem hohem Maße betroffen, weil die Patientenbehandlung
durch eine Vielzahl von Risiken charakterisiert ist: vorausgehende, oft komplikationsträchtige
Aufenthalte auf Intensivstationen mit hoher nosokomialer Keimlast, rezidivierende
Infektionen in der Akut- und Rehaklinik mit jeweils antibiotischer Behandlung, Vorhandensein
medizinischer Installationen (z. B. Kathetersysteme), lange Verweildauern, enger körperlicher
Kontakt zu einer hohen Zahl verschiedener Kontaktpersonen des therapeutischen Teams,
um nur einige der wichtigsten Aspekte zu nennen. Über die quantitative MRE-Prävalenz
und nosokomiale Neuinfektionsrate in der NNFR liegen dabei noch wenig bzw. zum Teil
widersprüchliche Daten vor, weil zur Häufigkeit von Eingangs- und Verlaufsscreenings
auf MRE keine verbindlichen Standards existieren.
Rollnik et al. [14] haben über einen 10-Jahres-Zeitraum von 2004–2013 im eigenen Zentrum eine Aufnahmeprävalenz
für MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) von 11,4 % festgestellt.
Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann einmal in der NNFR mit einem gramnegativen Erreger,
der gegen 3 oder 4 der wichtigsten Antibiotikaklassen resistent ist, (3- oder 4-MRGN)
infiziert zu werden, lag dort bei 11,8 %. Die tatsächliche MRE-Belastung dürfte jedoch
deutlich höher liegen. Systematische Eingangs- und Verlaufsscreenings aus 4 NNFR-Zentren
der Schön-Klinik-Gruppe im Jahr 2015 zeigten, dass bei 36,8 % der Patienten irgendwann
während der Rehabilitationsdauer ein MRE nachgewiesen wurde (19 % bei Aufnahme, 12 %
mit Isolationspflicht; unveröffentlichte Daten).
Die Konsequenzen durch Isolationsmaßnahmen sind enorm: Therapien werden erheblich
aufwendiger, z. T. nicht möglich (z. B. gerätegestützte oder Therapie in Kleingruppen),
die soziale Verarmung der Patienten wächst.
Unter ökonomischen Aspekten führen MRE-Besiedelungen zu einer verlängerten Verweildauer
und zu Mehrkosten von 418 € pro Behandlungstag, die bislang nicht in den gängigen
Vergütungssystemen abgebildet sind [15].
Rehabilitation bei Covid-19
Die Pandemie mit SARS-CoV2 seit Anfang 2020 betrifft auch die NNFR in einem außergewöhnlichen
Maße. Die Multimorbidität und das hohe Durchschnittsalter machen die Patienten zur
besonderen Risikogruppe für eine Infektion bzw. für schwere Verläufe. Die Vielzahl
persönlicher Kontakte mit Mitarbeitern des interdisziplinären Teams, die aufgrund
der hohen Hilfebedürftigkeit unvermeidliche körperliche Nähe bei pflegerischen und
therapeutischen Maßnahmen und nur bedingte Patientencompliance beim Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes
haben die gewohnten Behandlungsabläufe der NNFR in ein kritisches Licht gerückt (und
in nicht wenigen Kliniken völlig zum Erliegen gebracht). Und verschärfte Besucherregeln
in Krankenhäusern schließen die Einbeziehung von Angehörigen in den Rehabilitationsverlauf
aus.
Andererseits steigt jedoch durch Folgeerkrankungen von Covid-19 der Bedarf an fachspezifischer
NNFR zusätzlich: Durch direkte, neurotrope oder indirekte Effekte des SARS-Virus werden
erhöhte Inzidenzen von Schlaganfällen, Enzephalopathien und Guillain-Barré-Syndromen
berichtet [16]. Langzeitbeatmete Patienten nach komplikativen Covid-19-Pneumonien entwickeln Critical-Illness-Polyneuropathien
und benötigen rehabilitatives Training.
Im Hinblick auf die steigenden Infektionszahlen bzw. die unklare Dauer des weiteren
Pandemieverlaufs sind alle Mitwirkenden der Neurorehabilitation gefordert, sich an
der Infektionsprävention, aber auch bei der Bewältigung des fachspezifischen Patientenbedarfs
zu beteiligen. Temporäre Schließungen (oder Umwidmung in reine „Abstromkliniken“)
von Rehabilitationseinrichtungen, wie noch im Frühjahr 2020 erfolgt, sind gesundheitspolitisch
äußerst kritisch zu sehen und sollten vermieden werden.
Veränderungen in der Gesundheitspolitik und -ökonomie
Verweildauer in der stationären Frührehabilitation
In den beiden schon zitierten deutschen Längsschnittstudien war die Verweildauer in
der NNFR 2014 bei den nicht beatmeten Patienten mit einem Median von 37,5 Tagen (49,0 ± 44,2;
N = 562) gegenüber 2002 mit einem Median von 42 Tagen verkürzt (Mittelwert 48,6 ± 43,9;
N = 1077). Auch wenn dieser Trend nicht signifikant war, sind die Ursachen multifaktoriell:
Ganz wesentlich hat sicher die Einführung des DRG-Systems im Beobachtungszeitraum
dazu beigetragen, das den Druck für eine (kostenoptimierte) Verweildauersteuerung
erhöht. Auch die 2014 höhere Mortalitätsrate trägt (z. B. durch unerwartete Todesfälle)
zu diesem Effekt bei. Es darf jedoch auch positiv davon ausgegangen werden, dass die
wissenschaftsorientierte Professionalisierung der NNFR therapeutische Verfahren effizienter
bzw. prognostische Einschätzungen zu einer ressourcenorientierten Patientenselektion
sicherer gemacht hat. Dennoch bleibt eine Reduktion dieses medianen Ausmaßes in einem
Verlaufszeitraum von nur 12 Jahren bemerkenswert.
Da die Erholung von Schädigungen des Nervensystems auch einer biologischen Verlaufsdynamik
unterworfen ist, die nicht beliebig verkürzbar ist, sollte die Verweildauer als Kenngröße
der Behandlungsqualität in der NNFR weiterhin aufmerksam beobachtet werden.
Kriterien für den Akutstationären Behandlungsbedarf (ASB)
In Bayern sind als bislang einzigem Bundesland seit dem 1.9.2012 von einem Expertengremium
erstellte und mit den Kostenträgern konsentierte verbindliche Kriterien zur „Rechtfertigung
des akutstationären Behandlungsbedarfs in der neurologischen Frührehabilitation“ im
Einsatz (sog. „ASB-Checkliste“ [17]). Diese wöchentlich dokumentierten Items sollen operationalisierte Kategorien definieren,
ab welchem Zeitpunkt Patienten nicht mehr die Kriterien der NNFR („Phase B“) erfüllen,
die durch ihre sozialgesetzliche Verortung als akutstationäre Behandlung (§ 39 SGBV)
als Leistung eines Krankenhauses definiert sind.
Eine möglichst präzise Festlegung hierzu war notwendig, weil die Bundesarbeitsgemeinschaft
für Rehabilitation (BAR) von 1995 lediglich die Eingangs-, nicht jedoch die Ausschlusskriterien
der Phase B festgelegt hatten und es insbesondere in der Abgrenzung zur weiterführenden
Rehabilitation („Phase C“, § 37 SGB IX) notorische Streitpunkte zwischen den Leistungserbringern
und Kostenträgern gegeben hatte. Dem Expertengremium ist es jedoch gelungen, auch
Merkmale, die den Rehabilitationsbedarf bzw. das Rehabilitationspotenzial charakterisieren,
als behandlungsrelevante Items in die Checkliste zu integrieren. Die ASB-Kriterien
wurden seit 2012 zwischenzeitlich zweimal revidiert und sind in der gegenwärtigen
Fassung seit 2017 in allen bayerischen NNFR-Einrichtungen im Einsatz. Die Transparenz
und die Verbindlichkeit des Katalogs haben zu hoher Akzeptanz bei allen Beteiligten
geführt.
Als Schwachpunkt hat sich jedoch eine Subgruppe von Patienten herausgestellt, die
nach strenger Auslegung der ASB-Kriterien zu den Verlieren der Vereinbarung zählen:
Patienten, die keine akutmedizinischen Kriterien mehr erfüllen, weiterhin Potenzial
zu funktionalen Verbesserungen aufweisen, aber durch einen Barthel-Index < 35 Punkte
die Eingangsvoraussetzungen in die weiterführende Rehabilitation (noch) nicht erfüllen.
Für diese Patienten, deren Anteil in einzelnen NNFR-Kliniken zwischen 0 und 30 % der
Gesamtbelegung beträgt, entstand eine Versorgungslücke (sog. „B/C-Lücke“), die entweder
zu einer nicht vergüteten Mehrbelastung für die Kliniken oder zu einer vorzeitigen
Entlassung rehafähiger Patienten in Pflegeheime führt. Trotz Gesprächen ist eine für
alle Seiten befriedigende Lösung dieses Problems noch nicht in Sicht.
Qualitätskriterien für die Neurorehabilitation
Mit dem Wechsel in das DRG-System (bundesweit seit 2013 abgeschlossen) wurden die
Strukturmerkmale für die NNFR flächendeckend durch den OPS-Code 8–552 (Komplexbehandlung
„Neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation“) festgelegt. Im Code sind die
Anforderungen an Personalqualifikationen, Assessments, Teammitglieder und Therapiemengen
zusammengefasst. Die sehr allgemein gehaltenen Basisanforderungen zur Erfüllung (und
Abrechnung) des Codes haben bundesweit dazu geführt, dass NNFR nicht nur an etablierten
Zentren und Spezialeinrichtungen, sondern in einem wachsenden Anteil auch an Akutkrankenhäusern,
in Einzelfällen sogar in nichtneurologischen Facheinrichtungen durchgeführt wird.
Es ist davon auszugehen, dass die damit verbundenen Qualitätsunterschiede erheblich
sind und letztlich zu Lasten der Patienten gehen, die sich (anders als bei elektiven
Behandlungen) ihre Behandlungseinrichtung in aller Regel nicht selbst auswählen können.
Detaillierte und fachorientierte Qualitätskriterien für die NNFR sind deshalb dringend
notwendig, bislang jedoch noch nicht konsentiert. Einzig Baden-Württemberg hat seit
2012 eine „Fachplanung Neurologische Frührehabilitation Phase B“ vorgelegt, die das
verantwortliche Ministerium bei der Planung und Bewilligung neuer Behandlungseinrichtungen
unterstützen soll. Die darin hinterlegten Forderungen orientieren sich jedoch stark
an den (veralteten) Kriterien der BAR von 1995 und sind im Hinblick auf Struktur-
und Prozessqualität auch nicht präzise genug, um flächendeckend zu einer besseren
Behandlungsqualität zu führen. Darüber hinaus existieren bislang nur vereinzelt Positionspapiere
von (ärztlichen) Expertengremien (z. B. in Bayern vom „Arbeitskreis Rehabilitation
von Schlaganfallpatienten und Schädelhirnverletzten e. V.“), aber keine bundeseinheitliche
Regelung. Eine solche wäre jedoch erforderlich, um die überwiegend historisch gewachsenen,
regional aber erheblich differenten Unterschiede in der neurorehabilitativen Versorgung
auszugleichen und die NNFR flächendeckend und zukunftssicher anzubieten.
Zusammenfassung
Die dynamischen Entwicklungen in den Neurowissenschaften und der klinischen Neurologie
der jüngeren Zeit prägen auch die Neurorehabilitation. Sie führten zu einer Vielzahl
von Veränderungen, deren Schwerpunkt insbesondere im Bereich der Frührehabilitation,
also der Rehabilitation besonders schwer Betroffener in der Postakutphase lag. Durch
eine wachsende Fokussierung auf die Entwöhnung beatmeter Patienten wurden rehabilitative
Therapien auf vielen Intensivstationen bzw. intensivmedizinische Behandlungsverfahren
in der Frührehabilitation integral miteinander verknüpft. Hierdurch hat sich eine
fachliche Spezialisierung der Neurorehabilitation ergeben, die in ihrer Behandlungsdichte
und Versorgungsqualität vermutlich weltweit einzigartig sein dürfte. Gerade deshalb
sind die Herausforderungen für alle Beteiligten hoch: Bisherige Ausbildungskonzepte
für Therapeuten, Ärzte und Pflegekräfte sind überarbeitungsbedürftig, die physische
und psychische Arbeitsbelastung aller Mitarbeiter steigt kontinuierlich, und im Prozess
der Krankenhausdigitalisierung steht die NNFR noch ganz am Anfang ihrer Entwicklung.
Nichtsdestotrotz ist die Hoffnung berechtigt, dass die positiven Veränderungen überwiegen
und am Ende die Mehrzahl der Beteiligten von den Veränderungsprozessen profitiert.