Schlüsselwörter
Internet - Online-Fort- und Weiterbildung - sexueller Aktivismus - sexueller Diskurs
- sexuelle Kultur
Key words
internet - online professional training - sexual activism - sexual culture - sexual
discourse
Der vorliegende Praxisbeitrag setzt die in Heft 1/2018 der „Zeitschrift für Sexualforschung”
gestartete Serie zur sexualbezogenen Online-Fortbildung für Fachkräfte fort ([Döring 2018b]). Nach Webvideos ([Döring 2018c]), Webinaren ([Döring 2018 d]), Podcasts ([Döring 2018e]) und Weblogs ([Döring 2019]) geht es nun um den Mikroblogging-Dienst Twitter und seine Bedeutung für Fachkräfte,
die im Bereich der sexuellen Bildung, Beratung und Therapie sowie der Sexualforschung
tätig sind.
Twitter
Der Mikroblogging-Dienst Twitter (aktuell im Besitz von Twitter Inc.) wurde im Jahr
2006 gegründet und diente zuerst dem öffentlichen Austausch von telegrammartigen Textnachrichten
mit 140 Zeichen Länge, was noch unter der Länge einer klassischen SMS mit 160 Zeichen
liegt. Inzwischen sind Twitter-Beiträge (sog. Twitter Posts oder Tweets) mit bis zu 280 Zeichen möglich. Auch lassen sich mehrere Tweets zu einem Thread verknüpfen, sodass auch längere Textpassagen auf Twitter publizierbar sind. Zudem
können mit den Tweets Fotos und kurze Videos sowie Verlinkungen auf Webseiten veröffentlicht
werden. Twitter kann am PC oder Laptop (www.twitter.com) und als App auf dem Tablet oder Smartphone genutzt werden.
Der Name Twitter (englisch für „Gezwitscher“) verweist auf den niedrigschwelligen
Austausch von kurzen Botschaften. Man spricht von Mikroblogging, weil die Twitter-Beiträge
so viel kürzer sind als klassische Weblog-Beiträge ([Döring 2019]). Im Unterschied zu langen schriftlichen Weblog-Beiträgen sowie zu aufwändig produzierten
und nachbearbeiteten Webvideos ([Döring 2018c]) oder Podcasts ([Döring 2018e]) sind Twitter-Beiträge in Sekundenschnelle verfasst und veröffentlicht.
Die ernste Seite von Twitter
Twitter eignet sich deswegen sehr gut für einen spontanen, aktualitäts- und ereignisbezogenen
Austausch. Die Nutzungskontexte sind dabei vielfältig. Protestaktionen und Demonstrationen
wurden und werden über Twitter koordiniert. International viel beachtet wurde der
Twitter-Einsatz beispielsweise im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling 2010/2011
oder mit den politischen Protesten in Hongkong 2019/2020. Aktuelle nationale und internationale
politische Ereignisse werden auf Twitter diskutiert. So manche neue Wendung und auch
interne Information wird direkt aus Parlamenten und Ausschüssen heraus getwittert.
US-Wahlkämpfe werden inzwischen maßgeblich über Twitter geführt. Sehr große Aufmerksamkeit
erzielte beispielsweise der von 2017 bis 2021 amtierende 45. Präsident der USA, Donald
Trump, der sich unter seinem persönlichen Account @realDonaldTrump fast täglich an seine zuletzt rund 90 Millionen Follower:innen auf Twitter wandte.
Als er im Wahlkampf 2020 dem demokratischen Kandidaten Joe Biden unterlag, wollte
er diese Niederlage nicht anerkennen und verbreitete über Twitter beständig Falschinformationen
über angeblichen Wahlbetrug. Twitter Inc. ging daraufhin Ende 2020 dazu über, einige
seiner Tweets mit Warnmeldungen anlässlich der Falschinformationen zu versehen. Am
6. Januar 2021 wurde das Capitol von Trump-Anhänger:innen gestürmt. Kongressabgeordnete
mussten sich in ihren Büros verschanzen, Sicherheitskräfte und Polizei griffen kaum
ein, fünf Menschen starben. Als Trump im Nachgang twitterte, seinen patriotischen
Unterstützer:innen sollten keinerlei Nachteile drohen, und weiterhin mitteilte, er
werde der Amtseinführung von Biden fernbleiben, sperrte Twitter Inc. am 8. Januar
2021 schließlich Trumps Account dauerhaft mit der Begründung, seine Tweets würden
zur Gewalt anstacheln ([Twitter Inc. 2021]). Dieser Fall steht exemplarisch für weitreichende und komplexe Fragen der gesellschaftlichen
Verantwortung von Plattform-Betreibenden wie Twitter Inc.
Informationen über Terroranschläge oder Naturkatastrophen verbreiten sich heute oft
als Erstes über Twitter, wo sich dann aber echte News, Gerüchte und Fake News, Hilfsangebote
und Hassbotschaften mischen. Vertreter:innen von unterschiedlichen Medien, Parteien,
NGOs, Verbänden, Behörden und Ministerien sind auf Twitter immer live mit dabei. Hervorzuheben
ist hier unter anderem die professionelle Twitter-Kommunikation der Landespolizeien
(z. B. Polizei Thüringen: https://twitter.com/Polizei_Thuer) und Bundespolizeien (z. B. Bundespolizei Berlin: https://twitter.com/bpol_b), die das Medium zur fortlaufenden Information der Bevölkerung und zur Öffentlichkeitsfahndung
nutzen sowie ihre Arbeit transparenter machen.
Die heitere Seite von Twitter
Twitter hat zudem eine weniger ernste, nämlich sehr unterhaltsame Seite. Die „Tatort“-Fans
beispielsweise kommentieren jede Folge ihres Sonntags-Krimis mehr oder minder humorvoll
live auf Twitter – Zeitungen drucken am nächsten Morgen die besten Tweets ab. Freud
und Leid des Familienlebens werden von Eltern auf Twitter mit Galgenhumor geteilt
(z. B. https://twitter.com/MarleneHellene). Wenn es darum geht, sich mit Späßen, Witzen und Memes zu überbieten, ist die Twitter-Community
in ihrem Element.
Zwischen Albernheiten, Zeitgeschehen und Katastrophen befasst sich ein Großteil der
Twitter Posts auch mit Fachfragen und Wissenschaft, ist Werbung und Marketing gewidmet
oder dient dem eher persönlichen Austausch über Mittagessen und Sommerurlaub.
Verbreitung und Nutzung von Twitter
Während Twitter in den USA in der Allgemeinbevölkerung relativ stark verbreitet ist,
spielt der Mikroblogging-Dienst in Deutschland eine viel randständigere Rolle: Twitter
wird hierzulande vor allem von medienschaffenden und politisch aktiven Menschen genutzt.
Gemäß bevölkerungsrepräsentativer ARD-ZDF-Onlinestudie 2019 (http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/) greifen bislang nur 4 % der Bevölkerung in Deutschland mindestens einmal pro Woche
auf Twitter zurück ([Beisch et al. 2019]: 383). Wenn also auf Twitter eine Diskussion überkocht, dann haben dennoch 96 %
der Menschen hierzulande von diesem „Skandal“ oder „Shitstorm“ gar nichts mitbekommen.
Es sei denn, das Thema findet von Twitter seinen Weg in die Massenmedien.
Statistische Daten zu Twitter und anderen Sozialen Medien liefert der Analyse-Dienst
SocialBlade. Ihm ist z. B. zu entnehmen, welches die weltweit reichweitenstärksten Twitter-Accounts
sind (https://socialblade.com/twitter/top/10/followers): An erster Stelle steht hier der ehemalige US-Präsident Barack Obama mit rund 130 Millionen
Follower:innen, gefolgt von Musik- und Fußballstars wie Justin Bieber, Katy Perry,
Rihanna und Cristiano Ronaldo.
Welche Tweets Twitter-Nutzende in ihrer Timeline zu sehen bekommen, bestimmt sich
dadurch, welchen Accounts sie folgen, welchen Standort sie angeben und was der Twitter-Algorithmus
für sie aufgrund ihres bisherigen Nutzungsverhaltens als besonders relevant erachtet.
Man kann aber auch über die Twitter-Suchmaske gezielt nach Personen, Organisationen,
Themen und Schlagworten (sog. Hashtags) suchen. Über Hashtags, also Schlagworte, denen eine Raute vorangestellt ist (z. B.
#MeToo), lassen sich Querbezüge zwischen Diskussionsbeiträgen herstellen. Auch kann man
vorhandene Tweets retweeten (d. h. weiterleiten), favorisieren (d. h. liken) und kommentieren.
Die aktuell meistdiskutierten Begriffe und Hashtags erscheinen in den sogenannten
Twitter Trends (https://twitter.com/explore), die man sich u. a. für Deutschland oder global anzeigen lassen kann.
Im Zusammenhang mit sexualbezogenen Themen und Fragen spielt Twitter durchaus eine
wichtige Rolle für Fachkräfte. Denn auf Twitter lassen sich aktuelle sexualbezogene
und sexualpolitische Debatten verfolgen, und man stößt dabei auf Quellen, Personen
oder Organisationen, die man vielleicht noch nicht kannte. Wie alle Sozialen Medien
wird auch Twitter genutzt, um Gegenöffentlichkeit herzustellen und für Emanzipation
und sexuelle sowie reproduktive Menschenrechte einzutreten. Andererseits sind auf
Twitter Personen und Organisationen aktiv, die sexuelle und reproduktive Rechte einschränken
wollen.
Twitter wird in den letzten Jahren verstärkt sozialwissenschaftlich untersucht, was
auch sexualbezogene Diskurse einschließt. Im Folgenden werden exemplarisch drei Themen
herausgegriffen und deren Behandlung auf Twitter wird anhand von Beispielen und Studien
beschrieben: 1. Sexuelle Gewalt, 2. Schwangerschaftsabbruch und 3. Sexarbeit. Nach
dieser themen- und debattenbezogenen Betrachtung folgt ein Abschnitt, der auf die
Twitter-Aktivitäten einzelner Personen und Organisationen hinweist, bevor der Beitrag
mit einem Fazit endet.
Sexuelle Gewalt als Thema auf Twitter
Sexuelle Gewalt als Thema auf Twitter
Aktivismus gegen Sexismus und sexuelle Gewalt hat sich auf Twitter als sehr resonanzstark
erwiesen. In Deutschland waren und sind etwa der Hashtag #aufschrei und international der Hashtag #MeToo äußerst einflussreich.
Der Hashtag #aufschrei (seit 2013)
Nachdem die Twitter-Nutzerin fröken von Horst am 25. Januar 2013 getwittert hatte:
„Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen eines Selbstmordversuchs im
Krankenhaus lag“, antwortete Anne Wizorek (Twittername: @marthadear) mit „@vonhorst wir sollten diese erfahrungen unter einem hashtag sammeln. ich schlage #aufschrei vor“ (https://twitter.com/marthadear/status/294586884540223488?lang=de). Unter dem Hashtag #aufschrei kamen dann so schnell so viele erschütternde Erfahrungsberichte zu sexuellen Übergriffen
zusammen, dass eine öffentliche Debatte einsetzte, die bald auch die Massenmedien
erreichte: Anne Wizorek wurde noch im Januar 2013 in die Fernseh-Talkshow von Günter
Jauch eingeladen. Im Sommer 2013 gewann der Hashtag #aufschrei dann den Grimme Online Award, geehrt wurden von der Jury symbolisch „alle, die sich
konstruktiv an #aufschrei beteiligt haben“ (https://www.grimme-online-award.de/archiv/2013/preistraeger/p/d/aufschrei/).
Die Erfahrungen mit #aufschrei, die Anne Wizorek unter anderem in einem Vortrag auf der Internet-Konferenz re:publica beschreibt (https://www.youtube.com/watch?v=B3c4UMnX7ig), waren letztlich zwiespältig. Denn #aufschrei hatte nicht nur das öffentliche Bewusstsein für Alltagssexismus und sexuelle Gewalt
geschärft, sondern der Mitinitiatorin persönlich auch massenhaft Hassbotschaften und
Gewaltdrohungen eingebracht.
Das Fallbeispiel #aufschrei ist hier nicht untypisch: Twitter wird gerade im feministischen Aktivismus intensiv
genutzt. Gleichzeitig sind Akivist:innen auf Twitter in hohem Maße selbst sexueller
Belästigung und Bedrohung ausgesetzt ([Hardaker und McGlashan 2016]). Zudem werden feministische Hashtags wie #aufschrei immer wieder „gekapert“, d. h. zur Verbreitung antifeministischer Botschaften genutzt.
Die bisherigen wissenschaftlichen Analysen von #aufschrei bescheinigen der Gegenöffentlichkeit auf Twitter trotz aller Einschränkungen jedoch
ein positives Potenzial ([Drüeke und Zobl 2013], [2016]; [Gsenger und Thiele 2014]).
Der Hashtag #MeToo (seit 2017)
Globale Beachtung fand der Hashtag #MeToo (auf Deutsch: „ich [bin] auch [betroffen]“), der ab 2017 – zunächst im Zuge der Vorwürfe
gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein – sexuelle Übergriffe im Arbeitsumfeld
von Hollywood aufgriff und inzwischen sexuelle Gewalt in allen möglichen beruflichen
und privaten Kontexten adressiert. Die Schauspielerin Alyssa Milano initiierte diese
Diskussion mit dem Beitrag „If you’ve been sexually harassed or assaulted write ‘me
too’ as a reply to this tweet.“ (https://twitter.com/alyssa_milano/status/919659438700670976). Deutschsprachige Tweets mit dem Hashtag #MeToo lauteten beispielsweise:
„Ich bin 51. Mit 6 Jahren von einem Exhibitionisten belästigt – mit 9 und 12 Jahren
übergriffige Nachbarjungs – mit 19 vergewaltigt. #MeToo“
„Wir lesen Geschichten von betroffenen Frauen, Geschichten voller Wut, Schmerz und
Angst. Unterdessen wird bekannt, dass Polanski einen neuen Film drehen wird, Thema
falsche Vorwürfe. Er nennt #MeToo ‚Massenhysterie‘, während er sich versteckt, weil er ein Kind vergewaltigt hat.“
Was unter dem Hashag #MeToo als Erfahrungsaustausch von gewaltbetroffenen Frauen* auf Twitter begann, entwickelte
sich zu einer weltweiten Bewegung gewaltbetroffener Menschen mit weitreichenden Folgen
im Offline-Leben ([Suk et al. 2019]). Nach den Sozialen Medien berichteten bald auch die Massenmedien. Mehrere Hundert
Täter:innen wurden binnen des ersten Jahres ethisch und juristisch zur Verantwortung
gezogen, Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein und im Rechtssystem vorangetrieben.
Dabei muss sich die #MeToo-Bewegung in ihren jeweiligen nationalen Ausprägungen (siehe Wikipedia-Beitrag zu #MeToo: https://de.wikipedia.org/wiki/MeToo) natürlich auch Kritik gefallen lassen. So wird etwa kritisch diskutiert, dass im
Zuge von #MeToo verschiedene Formen von Sexismus und sexueller Gewalt zu sehr vermischt würden und
dass die Bewegung in unterschiedlicher Weise instrumentalisiert wird, ironischerweise
oft zu Ungunsten liberaler, feministischer und queerer Kräfte ([Herzog 2020]): Berechtigte Gewaltvorwürfe im Rahmen der #MeToo-Bewegung prallen beispielsweise in den USA an republikanischen Politiker:innen scheinbar öfter
ab, während unberechtigte Gewaltvorwürfe demokratische Politiker:innen eher zu Fall
bringen.
Hashtag-Aktivismus und Hashtag-Feminismus
Unzutreffend ist der pauschale Vorwurf, beim sogenannten Hashtag-Aktivismus bzw. Hashtag-Feminismus
handele es sich per se um bloßen „Pseudo-Aktivismus“: Anstatt sich wirklich politisch
zu beteiligen, so die Kritik, beließen es die Hashtag-Aktivist:innen beim Favorisieren,
Retweeten und Kommentieren von Online-Beiträgen – bequem vom häuslichen Sofa aus,
tendenziell selbstdarstellerisch und ohne die Bereitschaft, wirkliche Anstrengungen
und Unannehmlichkeiten für „echtes“ politisches Engagement in Kauf zu nehmen. Abschätzig
spricht die Kritik des Hashtag- und Online-Aktivismus deswegen auch von „Clicktivismus“,
„Hacktivismus“ oder „Slacktivismus“ (siehe den engl. Wikipedia-Beitrag zu Slacktivism: https://en.wikipedia.org/wiki/Slacktivism). Doch der angeblich faule und bequeme Hashtag-Aktivismus beschränkt sich oftmals
gar nicht auf reine Online-Aktionen, sondern stößt nicht selten auch Offline-Aktionen
wie Demonstrationen, Petitionen, Boykott-Maßnahmen usw. an. Generell ist es heutzutage
theoretisch wie empirisch problematisch, eine strikte Zweiteilung der Realität in
virtuell und real zu postulieren, da Online- und Offline-Aktivitäten in allen Lebensbereichen
zunehmend verflochten sind. Nicht zu vergessen ist auch, dass das Schweigen rund um
sexuelle Gewalt noch immer überwiegt und das Schaffen von Öffentlichkeit, Solidarität
und Identität somit ein wichtiger Grundbaustein von Aktivismus ist.
Wichtig für das Verständnis des so genannten Hashtag-Aktivismus und Hashtag-Feminismus
auf Twitter ist nicht nur die Verbindung von Online- und Offine-Aktivitäten, sondern
auch der Umstand, dass Hashtags plattformübergreifend, länderübergreifend und zeitübergreifend
verwendet werden und wirken. Hashtags, die auf Twitter „trenden“, werden oft auch
auf Facebook, Instagram, YouTube oder Tumblr genutzt. Der Hashtag #MeToo wird weltweit auf Englisch, aber auch in diversen anderen Sprachen benutzt (z. B.
auf Französisch: #MoiAussi; auf Spanisch: #YoTambién). Nicht zuletzt ist Hashtag-Feminismus zeitgeschichtlich einzuordnen. Die #MeToo-Bewegung ist kein plötzliches Twitter-Phänomen, sondern eine zeitgemäße Ausdrucksform von
jahrzehntelangem feministischem Aktivismus gegen sexuelle Gewalt. So hatte es mehrere
Jahre vor #MeToo bereits reichweitenstarken Hashtag-Aktivismus gegen sexuelle Gewalt gegeben, beispielsweise
unter Hashtags wie #YesAllWomen (https://en.wikipedia.org/wiki/YesAllWomen) oder #WhyIStayed (https://en.wikipedia.org/wiki/WhyIStayed/WhyILeft). Diese Hashtags wurden oft von schwarzen Frauen in den USA initiiert und auch #MeToo geht in seiner Ursprungsform auf den Aktivismus einer schwarzen Frau zurück, nämlich
auf Tarana Burke, die 2006 auf MySpace aktiv war ([Jackson et al. 2020]). In der öffentliche Wahrnehmung und massenmedialen Diskussion von #MeToo kommen intersektionale Aspekte sexueller Gewalt oft zu kurz.
Feministischer Hashtag-Aktivismus gegen sexuelle Gewalt und andere genderbezogene
gesellschaftliche Missstände wird wissenschaftlich zunehmend untersucht, etwa indem
man die Tweets manuell oder computergestützt inhaltsanalytisch auswertet, die Sichtweisen
der Beteiligten per Interview oder Fragebogen erfasst und auch den praktischen Konsequenzen
des Hashtag-Aktivismus nachgeht. Verwiesen sei exemplarisch auf Analysen zu #MeToo ([Bogen et al. 2019]; [Hosterman et al. 2018]; [Jackson et al. 2020]; [Kaufman et al. 2019]; [Lindgren 2019; Mendes et al. 2018]; [Mendes und Ringrose 2019]; [Suk et al. 2019]), zu #YesAllWomen ([Barker-Plummer und Barker-Plummer 2017]; [Rodino-Colocino 2014]; [Thrift 2014]) und zu #WhyIStayed ([Clark 2016]; [Weathers et al. 2016]).
Neben dem Hasthag-Aktivismus gegen sexuelle Gewalt und Sexismus findet sich auf Twitter
zudem viel organisierter Aktivismus gegen Rassismus, Polizeigewalt und andere Gewaltformen.
Der Hashtag #BlackLivesMatter, der Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA anprangert, gehört zu den weltweit meistgenutzten
Twitter-Hashtags überhaupt ([Anderson 2016]; [Nummi et al. 2019]).
Schwangerschaftsabbruch als Thema auf Twitter
Schwangerschaftsabbruch als Thema auf Twitter
Neben der Bekämpfung sexueller Gewalt ist reproduktive Selbstbestimmung ein wichtiger
Gegenstand von feministischem Aktivismus. Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass
der „Stern“ mit der von Alice Schwarzer initiierten Aktion „Ich habe abgetrieben –
und fordere das Recht dazu für alle Frauen“ titelte ([Schwarzer 2011]). Für die Aktion waren Unterschriften von 374 Frauen in Deutschland gesammelt worden,
darunter 16 Prominente. Das öffentliche Bekenntnis zur damals generell illegalen Abtreibung
beflügelte den Aktivismus für eine Reform des § 218 StGB. Pro-Choice-Aktivismus für reproduktive Selbstbestimmung findet heute sehr sichtbar auf Twitter
statt.
Angesichts zunehmender Einschränkungen des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung
in den USA, verdeutlicht etwa durch die Streichung der Fördermittel für Planned Parenthood, wurde 2015 der Hashtag #ShoutYourAbortion von Amelia Bonow (https://twitter.com/ameliabonow) und Lindy West ins Lebens gerufen, wie sie in einem YouTube-Video berichten (https://www.youtube.com/channel/UC-zikEgBZyUu9OhbnDlTsJQ/featured). Es geht darum, Scham und Schweigen rund um Schwangerschaftsabbrüche zu überwinden
und auf die Bedeutung des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung hinzuweisen, und
zwar gemäß der Parole des Hashtags nicht nur leise flüsternd, sondern laut rufend.
Aus dem Hashtag entwickelten sich eine Non-Profit-Organisation und eine soziale Bewegung,
da massenhaft Mädchen und Frauen begannen, von ihren Abtreibungen zu erzählen. Weil
es auf Twitter schwierig ist, ältere Posts wiederzufinden, werden #ShoutYourAbortion (kurz: #SYA) Posts auch auf einer Website (https://shoutyourabortion.com/) und auf einem YouTube-Kanal (https://www.youtube.com/channel/UC-zikEgBZyUu9OhbnDlTsJQ/videos) gesammelt.
Der feministische Hashtag-Aktivismus rund um #ShoutYourAbortion hat Netzwerke und Gemeinschaften geschaffen und geht mit zahlreichen Offline-Aktivitäten
einher (Demonstrationen, Kulturevents, Plakataktionen usw.), die inzwischen in einem
Buch dokumentiert sind ([Bonow et al. 2018]). Die Presse hat den Pro-Choice-Hashtag-Aktivismus interessiert aufgenommen. So
berichtete 2016 unter anderem die „Emma“ unter dem Titel „Wir haben abgetrieben! Reloaded.“
([o. V. 2016]). Empirische Studien weisen darauf hin, dass Abtreibungs-Mythen in alten Medien
wie etwa im Fernsehen nach wie vor verbreitet sind, während in Sozialen Medien neuerdings
verstärkt realitätsnahe Beiträge zu Schwangerschaftsabbrüchen zu finden sind ([Whaley und Brandt 2018]).
Andererseits weisen sowohl Pressebeiträge (z. B. 2015 Artikel in der „New York Times“
mit dem Titel „#Shout Your Abortion gets Angry Shouts back“ ([Lewin 2015])) als auch Studien (z. B. Ahmed 2018) darauf hin, dass #ShoutYourAbortion teilweise sehr kritische und feindselige Reaktionen auf den Plan ruft. Eine aktuelle
Studie spricht sogar davon, dass der Hashtag #ShoutYourAbortion mittlerweile von Abteibungsgegner:innen übernommen worden sei, um Abtreibungen und
Pro-Choice-Aktivist:innen zu diffamieren ([Kosenko et al. 2019]). Lindy West, die Mitbegründerin des Hashtags, hat sich mittlerweile selbst von
Twitter abgemeldet mit der Begründung, dass sie auf Twitter zu viele Gewaltdrohungen
und Hassbotschaften erhalte und Twitter Inc. unzureichend dagegen vorgehe ([West 2017]).
Diese Ambivalenz ist typisch für Hashtag-Aktivismus: Er bietet niedrigschwellig die
Möglichkeit, Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Aber gleichzeitig sind die Aktivist:innen
auch in starkem Maße Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt, da Plattformen wie Twitter
nach wie vor Hassrede nicht konsequent und effizient bekämpfen und somit die Betroffenen
meist alleine lassen. Zwar kann man bei der Polizei Anzeige erstatten, doch dies ist
zeitaufwändig und bringt meist auch keine Effekte.
Dennoch reißt der Aktivismus nicht ab. Als 2019 der US-Bundesstaat Alabama sein Abtreibungsgesetz
stark verschärfte, startete die Schauspielerin Busy Philipps (https://twitter.com/BusyPhilipps) den Hashtag #YouKnowMe, wiederum mit der Absicht, das Schweigen rund um Abtreibungen zu brechen und zu verdeutlichen,
dass alle Menschen Mädchen, Frauen und genderdiverse Personen kennen, die abgetrieben
haben. Posts lesen sich beispielsweise so:
„Ich war 12 Jahre alt… muss ich noch mehr dazu zu sagen???“
„Ich hatte eine Abtreibung in meinen 30ern. Ich bereue nur, dass ich es zugelassen
habe, dass Leute mir einreden, dass ich mich dafür schämen muss. Heute stehe ich für
alle Mädchen und Frauen ein, die diese Entscheidung treffen müssen und sage: Bleibt
stark! Ihr seid nicht allein!“
Im Jahr 2017 wurde die Gießener Ärztin Kristina Hänel zu einer Geldstrafe von 6 000 Euro
verurteilt. Sie hatte auf ihrer Praxis-Webseite angegeben, auch Schwangerschaftsabbrüche
durchzuführen. Gemäß § 219a StGB wurde diese Information als illegale „Werbung“ für
Abtreibungen gewertet. Der Rechtsstreit ging über weitere Instanzen und wurde von
politischem Aktivismus gegen den als veraltet und repressiv eingeordneten § 219a begleitet.
Im Frühjahr 2019 wurde der in der großen Koalition ausgehandelte reformierte § 219a
vom Bundestag verabschiedet. Der reformierte Paragraf kriminalisiert aber weiterhin
Ärzt:innen für schlichte Informationen zu ihrem Leitungsspektrum. So wurde im Herbst
2019 die Berliner Ärztin Bettina Gaber zu 2 000 Euro Geldstrafe verurteilt für diesen
Hinweis auf ihrer Praxis-Website: „Auch ein medikamentöser, narkosefreier Schwangerschaftsabbruch
in geschützter Atmosphäre gehört zu unseren Leistungen.“ Dass die Ärztin die Methode
des Abbruchs genannt hatte, wertete das Gericht als „Werbung“.
Wer sich über Pro-Choice-Aktivismus und den kritischen Diskurs zu § 219a auf dem Laufenden
halten, aktuelle Gerichtsurteile erfahren und die Stimmen der betroffenen Ärzt:innen
hören möchte, ist auf Twitter bei den Hashtags #219a, #wegmit219a und #keineKompromisse an der Quelle. Neben vielen anderen Personen und Organisationen, die sich für reproduktive
Rechte von Frauen bzw. Menschen mit Uterus stark machen, ist die Ärztin und Aktivistin
Kristina Hänel selbst auf Twitter sehr aktiv und hat dort mehr als 20 000 Follower:innen
(https://twitter.com/haenel_kh). Die Erfahrungen mit ihrem Pro-Choice-Aktivismus hat sie mittlerweile auch in einem
Buch veröffentlicht ([Hänel 2019]).
Sexarbeit als Thema auf Twitter
Sexarbeit als Thema auf Twitter
Spätestens seit Inkrafttreten des wegen seiner repressiven Ausrichtung hoch umstrittenen
sogenannten Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) im Jahr 2017 ([Döring 2018a]; [Döring, 2020b]) wird in Deutschland wieder vermehrt über Prostitutionspolitik diskutiert. Während
von Prostitutionsgegner:innen eine Kriminalisierung im Sinne eines Sexkaufverbots
gefordert wird (sog. Schwedisches Modell, Nordisches Modell), fordern Menschenrechtsorganisationen
wie Amnesty International sowie die Sexarbeiter:innen-Bewegung Entkriminalisierung, Entstigmatisierung und
eine bessere rechtliche Absicherung einvernehmlicher Sexarbeit bei gleichzeitiger
Verfolgung von Menschenhandel, der ja ohnehin strafbar ist. Diese Kontroverse wird
auch auf Twitter ausgetragen.
Die populäre romantische Hollywood-Komödie „Pretty Woman“ (1990) erzählt die Geschichte
der jungen, schönen und fröhlichen Prostituierten Vivian (Julia Roberts), die in einem
wohlhabenden Kunden, dem Geschäftsmann Edward (Richard Gere), unerwartet die große
Liebe findet. Auf der Website von Exodus Cry, einer abolitionistischen Organisation in den USA, die sich der Abschaffung von Sexarbeit
verschrieben hat, wurde anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Erscheinens von „Pretty
Woman“ auf die „Ugly Reality“ verwiesen und behauptet, dass letztlich so gut wie alle
Frauen, die sexuelle Dienstleistungen erbringen, mit Gewalt dazu gezwungen werden
und bereits als Kinder sexuell missbraucht wurden ([Mickelwait 2015]). Der mit dem Foto einer misshandelten und drogenabhängigen Frau illustrierte Text
kursierte weitläufig im Netz, ist mittlerweile aber von der Autorin entfernt worden.
Aus Protest gegen diese einseitige Darstellung von Prostituierten als bloßen Opfern
startete die australische Sexarbeiterin Tilly Lawless (https://twitter.com/tilly_lawless) den Hashtag #FacesofProstitution: Sie zeigte im Selfie ihr eigenes Gesicht und schrieb, dass Sexarbeit in Wirklichkeit
sehr viele Gesichter habe und mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen verbunden sei.
In der Folge nutzten Hunderte von Sexarbeiter:innen den Hashtag, um sich in Selfies
zu zeigen. Dabei wird sichtbar, dass sie weder alle bewunderswert glamourös wie in
„Pretty Woman“ aussehen noch alle bemitleidenswert misshandelt und elend wirken, sondern
dass die Realität der Sexarbeit eine große Vielfalt an Menschen unterschiedlichster
Körperformen, Altersgruppen, Hautfarben, Geschlechter und Lebensumstände umfasst.
Die Kampagne erzeugte große und durchaus positive Medien-Resonanz, auch in Deutschland.
Bis heute wird der Hashtag #FacesofProstitution genutzt, auch wenn Prostitutionsgegner:innen ihn zu kapern versuchen, indem sie unter
dem Hashtag z. B. Fotos von ermordeten Prostitutierten verbreiten ([Middleweek 2019]).
Im Jahr 2016 führte das Royal Melbourne Institute of Technology (RMIT) eine abolitionistische Konferenz unter dem Titel „The World’s Oldest Oppression“
durch. Die Konferenz sprach sich für eine Kriminalisierung der in Australien legalen
Sexarbeit aus und ließ Opfer der Straftat des Menschenhandels zum Zweck sexueller
Ausbeutung zu Wort kommen. Die Sexarbeiter:innen-Bewegung kritisierte die Einseitigkeit
der Konferenz und verlangte, dass auch freiwillige Sexarbeiter:innen gehört werden
und zudem der internationale Forschungsstand zu negativen Effekten der Kriminalisierung
von Sexarbeit berücksichtigt wird. Doch die Veranstalter:innen hielten an ihrem rein
abolitionistischen Konzept fest.
Die Sexarbeiter:innen-Bewegung organisierte daraufhin Protest vor Ort (z. B. Demonstration
vor dem Konferenzgebäude), aber auch umfassend im Netz, insbesondere auf Twitter unter
den Konferenz-Hashtags #oldestoppression und #rmit2016. Den Konferenz-Kritiker:innen gelang es, den Diskurs über die Konferenz auf Twitter
wesentlich mitzubestimmen ([Barron 2020]).
Vielfältige Stimmen von Sexarbeiter:innen und Verbündeten
In Deutschland werden Menschen- und Arbeitsrechte von Sexarbeiter:innen unter unterschiedlichen
Hashtags verhandelt, etwa unter #sexarbeit, #sexarbeitistarbeit, #hurenbewegung oder #ProstSchG sowie unter internationalen Hashtags wie #notyourrescueproject, #rightsnotrescue, #listentosexworkers, #nobadwhoresjustbadlaws und #stigmakills. Parteien, Verbände, Beratungsstellen, Forschungsnetzwerke, Sexarbeiter:innen-Organisationen
und einzelne Sexarbeiter:innen melden sich zu Wort. Wer den Hashtags folgt, kann leicht
die in der Debatte aktiven Accounts identifizieren und ihnen bei Interesse folgen,
etwa Accounts wie @KampagneSAIA (Sexarbeit ist Arbeit. Respekt!), @SexWorkID (BesD e. V.), @tampepeu (TAMPEP Network), @rosealliance (Rose Alliance), @Hauptstadtdiva (Hauptstadt-Diva), @KF_SW_aktivism (Mademoiselle Ruby Rebelde), @Salome_herself (Salomé Balthus), @Johanna_Weber_ (Johanna Weber) oder @KristinaMarlen_ (Kristina Marlen). Die Wissenschaftlerin Sonja Dolinsek (@sonjdol), die zur Geschichte der sexuellen Arbeit promoviert, teilt ihre Expertise auf Twitter
und betreibt dazu auch die sehr aktiven Accounts @sexworkpol (Prostitutionspolitik) und @SexWorkResearch (Sex Work Research). Das Forschungnetzwerk Sexarbeit der Universität York (UK) verweist über seinen Twitter-Account auf aktuelle Studien (Sex Work Research
Hub; @sexworkreshub).
Abgesehen von den wissenschaftlichen und politischen Debatten zur Regulierung von
Sexarbeit bietet Twitter auch Einblicke in die Lebens- und Arbeitswelten von Sexarbeiter:innen.
Unter dem Account @DichJasmin (Jasminliebtdich) erzählt beispielsweise eine junge Sexarbeiterin von banalen wie
skurrilen Begebenheiten aus ihrem Arbeitsalltag. Es kann zur Entstigmatisierung von
Sexarbeit beitragen, die authentischen Stimmen aus der Szene zu hören. Nicht zuletzt
wurde und wird die Situation von Sexarbeiter:innen während der COVID-19-Pandemie auf
Twitter intensiv diskutiert, beispielsweise unter dem Hashtag #RotlichtAN.
Twitter-Accounts von einzelnen Personen und Organisationen
Twitter-Accounts von einzelnen Personen und Organisationen
Wer sexualbezogene Diskurse auf Twitter verfolgen möchte, kann sich ergänzend zu konkreten
Themen und Hashtags auch über einschlägige Organisationen und Personen annähern. So
sind unter anderem die Deutsche Aidshilfe als Dachverband (@Aidshilfe_de) mitsamt den regionalen Aidshilfen wie z. B. der AIDS-Hilfe Weimar (@AidshilfeW), pro familia Landesverbände mit z. B. @profamilia_bw und @PiaProfamilia (pro familia in action), die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA; @bzga_de), der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM; @ubskm_de), die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK; @ukask_de), Zartbitter e. V. (@Zartbitter_eV), das Netzwerk BetroffenenForum e. V. (@ZanderDetlev), die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (@mhstiftung) oder der Lesben- und Schwulenverband e. V. (LSVD; @lsvd) auf Twitter vertreten. Viele weitere nationale und internationale Organisationen,
die sich mit sexualbezogenen Themen befassen, sind auf Twitter aktiv.
Bei den auf Twitter aktiven Einzelpersonen findet man Sexualberater:innen, Sexualtherapeut:innen
und Sexualforscher:innen. Die Doktorandin Nicole Bedera (https://twitter.com/NBedera) beispielsweise schreibt ausführlich zur Erforschung sexueller Gewalt. Eric Sprankle
(https://twitter.com/DrSprankle), Professor für Psychologie und Sexuality Studies an der Minnesota State University, twittert fast täglich provokant und sexpositiv
über diverse sexualbezogene Themen.
Fazit
Der vorliegende Praxisbeitrag zu sexualbezogenen Diskursen und sexualpolitischem Aktivismus
auf Twitter hat mit sexueller Gewalt, Schwangerschaftsabbruch und Sexarbeit drei prominente
Themen herausgegriffen. Viele weitere Themen ließen sich in ähnlicher Weise betrachten.
So sind etwa Debatten und Aktivismus rund um LGBTIQ, Polyamorie, BDSM, STI, HIV, PrEP
usw. auf Twitter gut sichtbar vertreten. Ebenso sind auf Twitter der Backlash der
rechten Szene und Hassrede gegen sexuelle und geschlechtliche Minoritäten und gegen
Feminst:innen unübersehbar. Dass sich selbst prominente und erfolgreiche Online-Aktivistinnen
wie Lindy West, Mitbegründerin des Hashtags #ShoutYourAbortion, wegen Online-Hassrede unter Protest von Twitter abmeldeten, gibt zu denken.
Und noch ein anderes Problem ist nicht zu unterschätzen: Während Plattform-Betreibenden
oft zu Recht vorgeworfen wird, zu wenig gegen Online-Hassrede zu tun, muss man ihnen
gleichzeitig vorwerfen, zu willkürlich und zu hart gegen sexuellen Selbstausdruck
vorzugehen. So sind auf vielen Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram oder
Tumblr sexualbezogene Diskussionen inzwischen nur noch sehr eingeschränkt möglich,
da die Nutzungsregeln sogenannte „Erwachsenen-Inhalte“ verbieten. Während Twitter
Inc. bislang vergleichsweise liberal agierte und somit auch Sexarbeiter:innen, Anhänger:innen
diverser sexueller Szenen und Sexualaufklärer:innen vielfältige sexualbezogene Äußerungen
und Selbstdarstellungen erlaubte, wurden die Nutzungsregeln zum 1. Januar 2020 deutlich
verschärft ([Curtis 2019]). Somit wird die Frage immer wichtiger und vordringlicher: Auf welchen Social-Media-Plattformen
können in Zukunft eigentlich sexuelle Inhalte noch öffentlich diskutiert werden, ohne
dass einerseits Zensur durch die Plattform und/oder andererseits ungehinderte Hassrede
drohen ([Döring 2020a])?
Die im vorliegenden Beitrag angeführten Beispiele mögen dazu animieren, sich bei Interesse
konstruktiv und mit Zivilcourage an Online-Debatten und Online-Aktivismus zu beteiligen
und Online-Hassrede entgegenzutreten. Die Beispiele können auch in der sexualpädagogischen
Arbeit als Diskussionsanstöße genutzt werden. Ebenso gibt es in diesem Feld weiterhin
viel Forschungsbedarf. Denn ein Großteil der bisherigen empirischen Analysen bezieht
sich auf den angloamerikanischen Raum.