Z Sex Forsch 2021; 34(01): 29-35
DOI: 10.1055/a-1367-9551
Praxisbeitrag

Sexualbezogene Online-Fortbildung für Fachkräfte: Twitter

Sex-Related Online Training for Professionals: Twitter
Nicola Döring
Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft, Technische Universität Ilmenau
› Institutsangaben
 

Zusammenfassung

Der vorliegende Praxisbeitrag befasst sich mit sexualbezogenen Debatten und sexualpolitischem Aktivismus auf Twitter. Er greift dazu exemplarisch drei Themengebiete heraus, die auf Twitter stark präsent sind: Sexuelle Gewalt, Schwangerschaftsabbruch und Sexarbeit. Zudem werden Fachleute und Fachorganisationen vorgestellt, die sich an sexualbezogenen Debatten auf Twitter beteiligen.


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Abstract

This practice-oriented article deals with sexuality-related debates and sexual-political activism on Twitter. It picks out three topic areas that are very visible on Twitter as examples: sexual violence, abortion and sex work. In addition, it presents experts and professional organisations that take part in sexuality-related debates on Twitter.


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Der vorliegende Praxisbeitrag setzt die in Heft 1/2018 der „Zeitschrift für Sexualforschung” gestartete Serie zur sexualbezogenen Online-Fortbildung für Fachkräfte fort ([Döring 2018b]). Nach Webvideos ([Döring 2018c]), Webinaren ([Döring 2018 d]), Podcasts ([Döring 2018e]) und Weblogs ([Döring 2019]) geht es nun um den Mikroblogging-Dienst Twitter und seine Bedeutung für Fachkräfte, die im Bereich der sexuellen Bildung, Beratung und Therapie sowie der Sexualforschung tätig sind.

Twitter

Der Mikroblogging-Dienst Twitter (aktuell im Besitz von Twitter Inc.) wurde im Jahr 2006 gegründet und diente zuerst dem öffentlichen Austausch von telegrammartigen Textnachrichten mit 140 Zeichen Länge, was noch unter der Länge einer klassischen SMS mit 160 Zeichen liegt. Inzwischen sind Twitter-Beiträge (sog. Twitter Posts oder Tweets) mit bis zu 280 Zeichen möglich. Auch lassen sich mehrere Tweets zu einem Thread verknüpfen, sodass auch längere Textpassagen auf Twitter publizierbar sind. Zudem können mit den Tweets Fotos und kurze Videos sowie Verlinkungen auf Webseiten veröffentlicht werden. Twitter kann am PC oder Laptop (www.twitter.com) und als App auf dem Tablet oder Smartphone genutzt werden.

Der Name Twitter (englisch für „Gezwitscher“) verweist auf den niedrigschwelligen Austausch von kurzen Botschaften. Man spricht von Mikroblogging, weil die Twitter-Beiträge so viel kürzer sind als klassische Weblog-Beiträge ([Döring 2019]). Im Unterschied zu langen schriftlichen Weblog-Beiträgen sowie zu aufwändig produzierten und nachbearbeiteten Webvideos ([Döring 2018c]) oder Podcasts ([Döring 2018e]) sind Twitter-Beiträge in Sekundenschnelle verfasst und veröffentlicht.

Die ernste Seite von Twitter

Twitter eignet sich deswegen sehr gut für einen spontanen, aktualitäts- und ereignisbezogenen Austausch. Die Nutzungskontexte sind dabei vielfältig. Protestaktionen und Demonstrationen wurden und werden über Twitter koordiniert. International viel beachtet wurde der Twitter-Einsatz beispielsweise im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling 2010/2011 oder mit den politischen Protesten in Hongkong 2019/2020. Aktuelle nationale und internationale politische Ereignisse werden auf Twitter diskutiert. So manche neue Wendung und auch interne Information wird direkt aus Parlamenten und Ausschüssen heraus getwittert. US-Wahlkämpfe werden inzwischen maßgeblich über Twitter geführt. Sehr große Aufmerksamkeit erzielte beispielsweise der von 2017 bis 2021 amtierende 45. Präsident der USA, Donald Trump, der sich unter seinem persönlichen Account @realDonaldTrump fast täglich an seine zuletzt rund 90 Millionen Follower:innen auf Twitter wandte. Als er im Wahlkampf 2020 dem demokratischen Kandidaten Joe Biden unterlag, wollte er diese Niederlage nicht anerkennen und verbreitete über Twitter beständig Falschinformationen über angeblichen Wahlbetrug. Twitter Inc. ging daraufhin Ende 2020 dazu über, einige seiner Tweets mit Warnmeldungen anlässlich der Falschinformationen zu versehen. Am 6. Januar 2021 wurde das Capitol von Trump-Anhänger:innen gestürmt. Kongressabgeordnete mussten sich in ihren Büros verschanzen, Sicherheitskräfte und Polizei griffen kaum ein, fünf Menschen starben. Als Trump im Nachgang twitterte, seinen patriotischen Unterstützer:innen sollten keinerlei Nachteile drohen, und weiterhin mitteilte, er werde der Amtseinführung von Biden fernbleiben, sperrte Twitter Inc. am 8. Januar 2021 schließlich Trumps Account dauerhaft mit der Begründung, seine Tweets würden zur Gewalt anstacheln ([Twitter Inc. 2021]). Dieser Fall steht exemplarisch für weitreichende und komplexe Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung von Plattform-Betreibenden wie Twitter Inc.

Informationen über Terroranschläge oder Naturkatastrophen verbreiten sich heute oft als Erstes über Twitter, wo sich dann aber echte News, Gerüchte und Fake News, Hilfsangebote und Hassbotschaften mischen. Vertreter:innen von unterschiedlichen Medien, Parteien, NGOs, Verbänden, Behörden und Ministerien sind auf Twitter immer live mit dabei. Hervorzuheben ist hier unter anderem die professionelle Twitter-Kommunikation der Landespolizeien (z. B. Polizei Thüringen: https://twitter.com/Polizei_Thuer) und Bundespolizeien (z. B. Bundespolizei Berlin: https://twitter.com/bpol_b), die das Medium zur fortlaufenden Information der Bevölkerung und zur Öffentlichkeitsfahndung nutzen sowie ihre Arbeit transparenter machen.


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Die heitere Seite von Twitter

Twitter hat zudem eine weniger ernste, nämlich sehr unterhaltsame Seite. Die „Tatort“-Fans beispielsweise kommentieren jede Folge ihres Sonntags-Krimis mehr oder minder humorvoll live auf Twitter – Zeitungen drucken am nächsten Morgen die besten Tweets ab. Freud und Leid des Familienlebens werden von Eltern auf Twitter mit Galgenhumor geteilt (z. B. https://twitter.com/MarleneHellene). Wenn es darum geht, sich mit Späßen, Witzen und Memes zu überbieten, ist die Twitter-Community in ihrem Element.

Zwischen Albernheiten, Zeitgeschehen und Katastrophen befasst sich ein Großteil der Twitter Posts auch mit Fachfragen und Wissenschaft, ist Werbung und Marketing gewidmet oder dient dem eher persönlichen Austausch über Mittagessen und Sommerurlaub.


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Verbreitung und Nutzung von Twitter

Während Twitter in den USA in der Allgemeinbevölkerung relativ stark verbreitet ist, spielt der Mikroblogging-Dienst in Deutschland eine viel randständigere Rolle: Twitter wird hierzulande vor allem von medienschaffenden und politisch aktiven Menschen genutzt. Gemäß bevölkerungsrepräsentativer ARD-ZDF-Onlinestudie 2019 (http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/) greifen bislang nur 4 % der Bevölkerung in Deutschland mindestens einmal pro Woche auf Twitter zurück ([Beisch et al. 2019]: 383). Wenn also auf Twitter eine Diskussion überkocht, dann haben dennoch 96 % der Menschen hierzulande von diesem „Skandal“ oder „Shitstorm“ gar nichts mitbekommen. Es sei denn, das Thema findet von Twitter seinen Weg in die Massenmedien.

Statistische Daten zu Twitter und anderen Sozialen Medien liefert der Analyse-Dienst SocialBlade. Ihm ist z. B. zu entnehmen, welches die weltweit reichweitenstärksten Twitter-Accounts sind (https://socialblade.com/twitter/top/10/followers): An erster Stelle steht hier der ehemalige US-Präsident Barack Obama mit rund 130 Millionen Follower:innen, gefolgt von Musik- und Fußballstars wie Justin Bieber, Katy Perry, Rihanna und Cristiano Ronaldo.

Welche Tweets Twitter-Nutzende in ihrer Timeline zu sehen bekommen, bestimmt sich dadurch, welchen Accounts sie folgen, welchen Standort sie angeben und was der Twitter-Algorithmus für sie aufgrund ihres bisherigen Nutzungsverhaltens als besonders relevant erachtet. Man kann aber auch über die Twitter-Suchmaske gezielt nach Personen, Organisationen, Themen und Schlagworten (sog. Hashtags) suchen. Über Hashtags, also Schlagworte, denen eine Raute vorangestellt ist (z. B. #MeToo), lassen sich Querbezüge zwischen Diskussionsbeiträgen herstellen. Auch kann man vorhandene Tweets retweeten (d. h. weiterleiten), favorisieren (d. h. liken) und kommentieren. Die aktuell meistdiskutierten Begriffe und Hashtags erscheinen in den sogenannten Twitter Trends (https://twitter.com/explore), die man sich u. a. für Deutschland oder global anzeigen lassen kann.

Im Zusammenhang mit sexualbezogenen Themen und Fragen spielt Twitter durchaus eine wichtige Rolle für Fachkräfte. Denn auf Twitter lassen sich aktuelle sexualbezogene und sexualpolitische Debatten verfolgen, und man stößt dabei auf Quellen, Personen oder Organisationen, die man vielleicht noch nicht kannte. Wie alle Sozialen Medien wird auch Twitter genutzt, um Gegenöffentlichkeit herzustellen und für Emanzipation und sexuelle sowie reproduktive Menschenrechte einzutreten. Andererseits sind auf Twitter Personen und Organisationen aktiv, die sexuelle und reproduktive Rechte einschränken wollen.

Twitter wird in den letzten Jahren verstärkt sozialwissenschaftlich untersucht, was auch sexualbezogene Diskurse einschließt. Im Folgenden werden exemplarisch drei Themen herausgegriffen und deren Behandlung auf Twitter wird anhand von Beispielen und Studien beschrieben: 1. Sexuelle Gewalt, 2. Schwangerschaftsabbruch und 3. Sexarbeit. Nach dieser themen- und debattenbezogenen Betrachtung folgt ein Abschnitt, der auf die Twitter-Aktivitäten einzelner Personen und Organisationen hinweist, bevor der Beitrag mit einem Fazit endet.


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Sexuelle Gewalt als Thema auf Twitter

Aktivismus gegen Sexismus und sexuelle Gewalt hat sich auf Twitter als sehr resonanzstark erwiesen. In Deutschland waren und sind etwa der Hashtag #aufschrei und international der Hashtag #MeToo äußerst einflussreich.

Der Hashtag #aufschrei (seit 2013)

Nachdem die Twitter-Nutzerin fröken von Horst am 25. Januar 2013 getwittert hatte: „Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen eines Selbstmordversuchs im Krankenhaus lag“, antwortete Anne Wizorek (Twittername: @marthadear) mit „@vonhorst wir sollten diese erfahrungen unter einem hashtag sammeln. ich schlage #aufschrei vor“ (https://twitter.com/marthadear/status/294586884540223488?lang=de). Unter dem Hashtag #aufschrei kamen dann so schnell so viele erschütternde Erfahrungsberichte zu sexuellen Übergriffen zusammen, dass eine öffentliche Debatte einsetzte, die bald auch die Massenmedien erreichte: Anne Wizorek wurde noch im Januar 2013 in die Fernseh-Talkshow von Günter Jauch eingeladen. Im Sommer 2013 gewann der Hashtag #aufschrei dann den Grimme Online Award, geehrt wurden von der Jury symbolisch „alle, die sich konstruktiv an #aufschrei beteiligt haben“ (https://www.grimme-online-award.de/archiv/2013/preistraeger/p/d/aufschrei/).

Die Erfahrungen mit #aufschrei, die Anne Wizorek unter anderem in einem Vortrag auf der Internet-Konferenz re:publica beschreibt (https://www.youtube.com/watch?v=B3c4UMnX7ig), waren letztlich zwiespältig. Denn #aufschrei hatte nicht nur das öffentliche Bewusstsein für Alltagssexismus und sexuelle Gewalt geschärft, sondern der Mitinitiatorin persönlich auch massenhaft Hassbotschaften und Gewaltdrohungen eingebracht.

Das Fallbeispiel #aufschrei ist hier nicht untypisch: Twitter wird gerade im feministischen Aktivismus intensiv genutzt. Gleichzeitig sind Akivist:innen auf Twitter in hohem Maße selbst sexueller Belästigung und Bedrohung ausgesetzt ([Hardaker und McGlashan 2016]). Zudem werden feministische Hashtags wie #aufschrei immer wieder „gekapert“, d. h. zur Verbreitung antifeministischer Botschaften genutzt. Die bisherigen wissenschaftlichen Analysen von #aufschrei bescheinigen der Gegenöffentlichkeit auf Twitter trotz aller Einschränkungen jedoch ein positives Potenzial ([Drüeke und Zobl 2013], [2016]; [Gsenger und Thiele 2014]).


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Der Hashtag #MeToo (seit 2017)

Globale Beachtung fand der Hashtag #MeToo (auf Deutsch: „ich [bin] auch [betroffen]“), der ab 2017 – zunächst im Zuge der Vorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein – sexuelle Übergriffe im Arbeitsumfeld von Hollywood aufgriff und inzwischen sexuelle Gewalt in allen möglichen beruflichen und privaten Kontexten adressiert. Die Schauspielerin Alyssa Milano initiierte diese Diskussion mit dem Beitrag „If you’ve been sexually harassed or assaulted write ‘me too’ as a reply to this tweet.“ (https://twitter.com/alyssa_milano/status/919659438700670976). Deutschsprachige Tweets mit dem Hashtag #MeToo lauteten beispielsweise:

„Ich bin 51. Mit 6 Jahren von einem Exhibitionisten belästigt – mit 9 und 12 Jahren übergriffige Nachbarjungs – mit 19 vergewaltigt. #MeToo

„Wir lesen Geschichten von betroffenen Frauen, Geschichten voller Wut, Schmerz und Angst. Unterdessen wird bekannt, dass Polanski einen neuen Film drehen wird, Thema falsche Vorwürfe. Er nennt #MeToo ‚Massenhysterie‘, während er sich versteckt, weil er ein Kind vergewaltigt hat.“

Was unter dem Hashag #MeToo als Erfahrungsaustausch von gewaltbetroffenen Frauen* auf Twitter begann, entwickelte sich zu einer weltweiten Bewegung gewaltbetroffener Menschen mit weitreichenden Folgen im Offline-Leben ([Suk et al. 2019]). Nach den Sozialen Medien berichteten bald auch die Massenmedien. Mehrere Hundert Täter:innen wurden binnen des ersten Jahres ethisch und juristisch zur Verantwortung gezogen, Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein und im Rechtssystem vorangetrieben. Dabei muss sich die #MeToo-Bewegung in ihren jeweiligen nationalen Ausprägungen (siehe Wikipedia-Beitrag zu #MeToo: https://de.wikipedia.org/wiki/MeToo) natürlich auch Kritik gefallen lassen. So wird etwa kritisch diskutiert, dass im Zuge von #MeToo verschiedene Formen von Sexismus und sexueller Gewalt zu sehr vermischt würden und dass die Bewegung in unterschiedlicher Weise instrumentalisiert wird, ironischerweise oft zu Ungunsten liberaler, feministischer und queerer Kräfte ([Herzog 2020]): Berechtigte Gewaltvorwürfe im Rahmen der #MeToo-Bewegung prallen beispielsweise in den USA an republikanischen Politiker:innen scheinbar öfter ab, während unberechtigte Gewaltvorwürfe demokratische Politiker:innen eher zu Fall bringen.


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Hashtag-Aktivismus und Hashtag-Feminismus

Unzutreffend ist der pauschale Vorwurf, beim sogenannten Hashtag-Aktivismus bzw. Hashtag-Feminismus handele es sich per se um bloßen „Pseudo-Aktivismus“: Anstatt sich wirklich politisch zu beteiligen, so die Kritik, beließen es die Hashtag-Aktivist:innen beim Favorisieren, Retweeten und Kommentieren von Online-Beiträgen – bequem vom häuslichen Sofa aus, tendenziell selbstdarstellerisch und ohne die Bereitschaft, wirkliche Anstrengungen und Unannehmlichkeiten für „echtes“ politisches Engagement in Kauf zu nehmen. Abschätzig spricht die Kritik des Hashtag- und Online-Aktivismus deswegen auch von „Clicktivismus“, „Hacktivismus“ oder „Slacktivismus“ (siehe den engl. Wikipedia-Beitrag zu Slacktivism: https://en.wikipedia.org/wiki/Slacktivism). Doch der angeblich faule und bequeme Hashtag-Aktivismus beschränkt sich oftmals gar nicht auf reine Online-Aktionen, sondern stößt nicht selten auch Offline-Aktionen wie Demonstrationen, Petitionen, Boykott-Maßnahmen usw. an. Generell ist es heutzutage theoretisch wie empirisch problematisch, eine strikte Zweiteilung der Realität in virtuell und real zu postulieren, da Online- und Offline-Aktivitäten in allen Lebensbereichen zunehmend verflochten sind. Nicht zu vergessen ist auch, dass das Schweigen rund um sexuelle Gewalt noch immer überwiegt und das Schaffen von Öffentlichkeit, Solidarität und Identität somit ein wichtiger Grundbaustein von Aktivismus ist.

Wichtig für das Verständnis des so genannten Hashtag-Aktivismus und Hashtag-Feminismus auf Twitter ist nicht nur die Verbindung von Online- und Offine-Aktivitäten, sondern auch der Umstand, dass Hashtags plattformübergreifend, länderübergreifend und zeitübergreifend verwendet werden und wirken. Hashtags, die auf Twitter „trenden“, werden oft auch auf Facebook, Instagram, YouTube oder Tumblr genutzt. Der Hashtag #MeToo wird weltweit auf Englisch, aber auch in diversen anderen Sprachen benutzt (z. B. auf Französisch: #MoiAussi; auf Spanisch: #YoTambién). Nicht zuletzt ist Hashtag-Feminismus zeitgeschichtlich einzuordnen. Die #MeToo-Bewegung ist kein plötzliches Twitter-Phänomen, sondern eine zeitgemäße Ausdrucksform von jahrzehntelangem feministischem Aktivismus gegen sexuelle Gewalt. So hatte es mehrere Jahre vor #MeToo bereits reichweitenstarken Hashtag-Aktivismus gegen sexuelle Gewalt gegeben, beispielsweise unter Hashtags wie #YesAllWomen (https://en.wikipedia.org/wiki/Yes​AllWomen) oder #WhyIStayed (https://en.wikipedia.org/wiki/WhyIStayed/WhyILeft). Diese Hashtags wurden oft von schwarzen Frauen in den USA initiiert und auch #MeToo geht in seiner Ursprungsform auf den Aktivismus einer schwarzen Frau zurück, nämlich auf Tarana Burke, die 2006 auf MySpace aktiv war ([Jackson et al. 2020]). In der öffentliche Wahrnehmung und massenmedialen Diskussion von #MeToo kommen intersektionale Aspekte sexueller Gewalt oft zu kurz.

Feministischer Hashtag-Aktivismus gegen sexuelle Gewalt und andere genderbezogene gesellschaftliche Missstände wird wissenschaftlich zunehmend untersucht, etwa indem man die Tweets manuell oder computergestützt inhaltsanalytisch auswertet, die Sichtweisen der Beteiligten per Interview oder Fragebogen erfasst und auch den praktischen Konsequenzen des Hashtag-Aktivismus nachgeht. Verwiesen sei exemplarisch auf Analysen zu #MeToo ([Bogen et al. 2019]; [Hosterman et al. 2018]; [Jackson et al. 2020]; [Kaufman et al. 2019]; [Lindgren 2019; Mendes et al. 2018]; [Mendes und Ringrose 2019]; [Suk et al. 2019]), zu #YesAllWomen ([Barker-Plummer und Barker-Plummer 2017]; [Rodino-Colocino 2014]; [Thrift 2014]) und zu #WhyIStayed ([Clark 2016]; [Weathers et al. 2016]).

Neben dem Hasthag-Aktivismus gegen sexuelle Gewalt und Sexismus findet sich auf Twitter zudem viel organisierter Aktivismus gegen Rassismus, Polizeigewalt und andere Gewaltformen. Der Hashtag #BlackLivesMatter, der Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA anprangert, gehört zu den weltweit meistgenutzten Twitter-Hashtags überhaupt ([Anderson 2016]; [Nummi et al. 2019]).


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Schwangerschaftsabbruch als Thema auf Twitter

Neben der Bekämpfung sexueller Gewalt ist reproduktive Selbstbestimmung ein wichtiger Gegenstand von feministischem Aktivismus. Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass der „Stern“ mit der von Alice Schwarzer initiierten Aktion „Ich habe abgetrieben – und fordere das Recht dazu für alle Frauen“ titelte ([Schwarzer 2011]). Für die Aktion waren Unterschriften von 374 Frauen in Deutschland gesammelt worden, darunter 16 Prominente. Das öffentliche Bekenntnis zur damals generell illegalen Abtreibung beflügelte den Aktivismus für eine Reform des § 218 StGB. Pro-Choice-Aktivismus für reproduktive Selbstbestimmung findet heute sehr sichtbar auf Twitter statt.

Der Hashtag #ShoutYourAbortion (seit 2015)

Angesichts zunehmender Einschränkungen des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung in den USA, verdeutlicht etwa durch die Streichung der Fördermittel für Planned Parenthood, wurde 2015 der Hashtag #ShoutYourAbortion von Amelia Bonow (https://twitter.com/ameliabonow) und Lindy West ins Lebens gerufen, wie sie in einem YouTube-Video berichten (https://www.youtube.com/channel/UC-zikEgBZyUu9OhbnDlTsJQ/featured). Es geht darum, Scham und Schweigen rund um Schwangerschaftsabbrüche zu überwinden und auf die Bedeutung des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung hinzuweisen, und zwar gemäß der Parole des Hashtags nicht nur leise flüsternd, sondern laut rufend.

Aus dem Hashtag entwickelten sich eine Non-Profit-Organisation und eine soziale Bewegung, da massenhaft Mädchen und Frauen begannen, von ihren Abtreibungen zu erzählen. Weil es auf Twitter schwierig ist, ältere Posts wiederzufinden, werden #Shout​YourAbortion (kurz: #SYA) Posts auch auf einer Website (https://shoutyourabortion.com/) und auf einem YouTube-Kanal (https://www.youtube.com/channel/UC-zikEgBZyUu9OhbnDlTsJQ/videos) gesammelt.

Der feministische Hashtag-Aktivismus rund um #ShoutYour​Abortion hat Netzwerke und Gemeinschaften geschaffen und geht mit zahlreichen Offline-Aktivitäten einher (Demonstrationen, Kulturevents, Plakataktionen usw.), die inzwischen in einem Buch dokumentiert sind ([Bonow et al. 2018]). Die Presse hat den Pro-Choice-Hashtag-Aktivismus interessiert aufgenommen. So berichtete 2016 unter anderem die „Emma“ unter dem Titel „Wir haben abgetrieben! Reloaded.“ ([o. V. 2016]). Empirische Studien weisen darauf hin, dass Abtreibungs-Mythen in alten Medien wie etwa im Fernsehen nach wie vor verbreitet sind, während in Sozialen Medien neuerdings verstärkt realitätsnahe Beiträge zu Schwangerschaftsabbrüchen zu finden sind ([Whaley und Brandt 2018]).

Andererseits weisen sowohl Pressebeiträge (z. B. 2015 Artikel in der „New York Times“ mit dem Titel „#Shout Your Abortion gets Angry Shouts back“ ([Lewin 2015])) als auch Studien (z. B. Ahmed 2018) darauf hin, dass #ShoutYourAbortion teilweise sehr kritische und feindselige Reaktionen auf den Plan ruft. Eine aktuelle Studie spricht sogar davon, dass der Hashtag #ShoutYourAbortion mittlerweile von Abteibungsgegner:innen übernommen worden sei, um Abtreibungen und Pro-Choice-Aktivist:innen zu diffamieren ([Kosenko et al. 2019]). Lindy West, die Mitbegründerin des Hashtags, hat sich mittlerweile selbst von Twitter abgemeldet mit der Begründung, dass sie auf Twitter zu viele Gewaltdrohungen und Hassbotschaften erhalte und Twitter Inc. unzureichend dagegen vorgehe ([West 2017]).

Diese Ambivalenz ist typisch für Hashtag-Aktivismus: Er bietet niedrigschwellig die Möglichkeit, Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Aber gleichzeitig sind die Aktivist:innen auch in starkem Maße Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt, da Plattformen wie Twitter nach wie vor Hassrede nicht konsequent und effizient bekämpfen und somit die Betroffenen meist alleine lassen. Zwar kann man bei der Polizei Anzeige erstatten, doch dies ist zeitaufwändig und bringt meist auch keine Effekte.

Dennoch reißt der Aktivismus nicht ab. Als 2019 der US-Bundesstaat Alabama sein Abtreibungsgesetz stark verschärfte, startete die Schauspielerin Busy Philipps (https://twitter.com/BusyPhilipps) den Hashtag #YouKnowMe, wiederum mit der Absicht, das Schweigen rund um Abtreibungen zu brechen und zu verdeutlichen, dass alle Menschen Mädchen, Frauen und genderdiverse Personen kennen, die abgetrieben haben. Posts lesen sich beispielsweise so:

„Ich war 12 Jahre alt… muss ich noch mehr dazu zu sagen???“

„Ich hatte eine Abtreibung in meinen 30ern. Ich bereue nur, dass ich es zugelassen habe, dass Leute mir einreden, dass ich mich dafür schämen muss. Heute stehe ich für alle Mädchen und Frauen ein, die diese Entscheidung treffen müssen und sage: Bleibt stark! Ihr seid nicht allein!“


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Die Hashtags #219a#wegmit219a#keineKompromisse

Im Jahr 2017 wurde die Gießener Ärztin Kristina Hänel zu einer Geldstrafe von 6 000 Euro verurteilt. Sie hatte auf ihrer Praxis-Webseite angegeben, auch Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Gemäß § 219a StGB wurde diese Information als illegale „Werbung“ für Abtreibungen gewertet. Der Rechtsstreit ging über weitere Instanzen und wurde von politischem Aktivismus gegen den als veraltet und repressiv eingeordneten § 219a begleitet. Im Frühjahr 2019 wurde der in der großen Koalition ausgehandelte reformierte § 219a vom Bundestag verabschiedet. Der reformierte Paragraf kriminalisiert aber weiterhin Ärzt:innen für schlichte Informationen zu ihrem Leitungsspektrum. So wurde im Herbst 2019 die Berliner Ärztin Bettina Gaber zu 2 000 Euro Geldstrafe verurteilt für diesen Hinweis auf ihrer Praxis-Website: „Auch ein medikamentöser, narkosefreier Schwangerschaftsabbruch in geschützter Atmosphäre gehört zu unseren Leistungen.“ Dass die Ärztin die Methode des Abbruchs genannt hatte, wertete das Gericht als „Werbung“.

Wer sich über Pro-Choice-Aktivismus und den kritischen Diskurs zu § 219a auf dem Laufenden halten, aktuelle Gerichtsurteile erfahren und die Stimmen der betroffenen Ärzt:innen hören möchte, ist auf Twitter bei den Hashtags #219a, #wegmit219a und #keineKompromisse an der Quelle. Neben vielen anderen Personen und Organisationen, die sich für reproduktive Rechte von Frauen bzw. Menschen mit Uterus stark machen, ist die Ärztin und Aktivistin Kristina Hänel selbst auf Twitter sehr aktiv und hat dort mehr als 20 000 Follower:innen (https://twitter.com/haenel_kh). Die Erfahrungen mit ihrem Pro-Choice-Aktivismus hat sie mittlerweile auch in einem Buch veröffentlicht ([Hänel 2019]).


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Sexarbeit als Thema auf Twitter

Spätestens seit Inkrafttreten des wegen seiner repressiven Ausrichtung hoch umstrittenen sogenannten Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) im Jahr 2017 ([Döring 2018a]; [Döring, 2020b]) wird in Deutschland wieder vermehrt über Prostitutionspolitik diskutiert. Während von Prostitutionsgegner:innen eine Kriminalisierung im Sinne eines Sexkaufverbots gefordert wird (sog. Schwedisches Modell, Nordisches Modell), fordern Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International sowie die Sexarbeiter:innen-Bewegung Entkriminalisierung, Entstigmatisierung und eine bessere rechtliche Absicherung einvernehmlicher Sexarbeit bei gleichzeitiger Verfolgung von Menschenhandel, der ja ohnehin strafbar ist. Diese Kontroverse wird auch auf Twitter ausgetragen.

Der Hashtag #FacesofProstitution (seit 2015)

Die populäre romantische Hollywood-Komödie „Pretty Woman“ (1990) erzählt die Geschichte der jungen, schönen und fröhlichen Prostituierten Vivian (Julia Roberts), die in einem wohlhabenden Kunden, dem Geschäftsmann Edward (Richard Gere), unerwartet die große Liebe findet. Auf der Website von Exodus Cry, einer abolitionistischen Organisation in den USA, die sich der Abschaffung von Sexarbeit verschrieben hat, wurde anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Erscheinens von „Pretty Woman“ auf die „Ugly Reality“ verwiesen und behauptet, dass letztlich so gut wie alle Frauen, die sexuelle Dienstleistungen erbringen, mit Gewalt dazu gezwungen werden und bereits als Kinder sexuell missbraucht wurden ([Mickelwait 2015]). Der mit dem Foto einer misshandelten und drogenabhängigen Frau illustrierte Text kursierte weitläufig im Netz, ist mittlerweile aber von der Autorin entfernt worden.

Aus Protest gegen diese einseitige Darstellung von Prostituierten als bloßen Opfern startete die australische Sexarbeiterin Tilly Lawless (https://twitter.com/tilly_lawless) den Hashtag #Facesof​Prostitution: Sie zeigte im Selfie ihr eigenes Gesicht und schrieb, dass Sexarbeit in Wirklichkeit sehr viele Gesichter habe und mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen verbunden sei. In der Folge nutzten Hunderte von Sexarbeiter:innen den Hashtag, um sich in Selfies zu zeigen. Dabei wird sichtbar, dass sie weder alle bewunderswert glamourös wie in „Pretty Woman“ aussehen noch alle bemitleidenswert misshandelt und elend wirken, sondern dass die Realität der Sexarbeit eine große Vielfalt an Menschen unterschiedlichster Körperformen, Altersgruppen, Hautfarben, Geschlechter und Lebensumstände umfasst. Die Kampagne erzeugte große und durchaus positive Medien-Resonanz, auch in Deutschland. Bis heute wird der Hashtag #FacesofProstitution genutzt, auch wenn Prostitutionsgegner:innen ihn zu kapern versuchen, indem sie unter dem Hashtag z. B. Fotos von ermordeten Prostitutierten verbreiten ([Middleweek 2019]).


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Der Hashtag #oldestoppression (seit 2016)

Im Jahr 2016 führte das Royal Melbourne Institute of Technology (RMIT) eine abolitionistische Konferenz unter dem Titel „The World’s Oldest Oppression“ durch. Die Konferenz sprach sich für eine Kriminalisierung der in Australien legalen Sexarbeit aus und ließ Opfer der Straftat des Menschenhandels zum Zweck sexueller Ausbeutung zu Wort kommen. Die Sexarbeiter:innen-Bewegung kritisierte die Einseitigkeit der Konferenz und verlangte, dass auch freiwillige Sexarbeiter:innen gehört werden und zudem der internationale Forschungsstand zu negativen Effekten der Kriminalisierung von Sexarbeit berücksichtigt wird. Doch die Veranstalter:innen hielten an ihrem rein abolitionistischen Konzept fest.

Die Sexarbeiter:innen-Bewegung organisierte daraufhin Protest vor Ort (z. B. Demonstration vor dem Konferenzgebäude), aber auch umfassend im Netz, insbesondere auf Twitter unter den Konferenz-Hashtags #oldestoppression und #rmit2016. Den Konferenz-Kritiker:innen gelang es, den Diskurs über die Konferenz auf Twitter wesentlich mitzubestimmen ([Barron 2020]).


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Vielfältige Stimmen von Sexarbeiter:innen und Verbündeten

In Deutschland werden Menschen- und Arbeitsrechte von Sexarbeiter:innen unter unterschiedlichen Hashtags verhandelt, etwa unter #sexarbeit, #sexarbeitistarbeit, #hurenbewegung oder #ProstSchG sowie unter internationalen Hashtags wie #notyourrescueproject, #rightsnotrescue, #listentosexworkers, #nobadwhoresjustbad​laws und #stigmakills. Parteien, Verbände, Beratungsstellen, Forschungsnetzwerke, Sexarbeiter:innen-Organisationen und einzelne Sexarbeiter:innen melden sich zu Wort. Wer den Hashtags folgt, kann leicht die in der Debatte aktiven Accounts identifizieren und ihnen bei Interesse folgen, etwa Accounts wie @KampagneSAIA (Sexarbeit ist Arbeit. Respekt!), @SexWorkID (BesD e. V.), @tampepeu (TAMPEP Network), @rosealliance (Rose Alliance), @Hauptstadtdiva (Hauptstadt-Diva), @KF_SW_aktivism (Mademoiselle Ruby Rebelde), @Salome_herself (Salomé Balthus), @Johanna_Weber_ (Johanna Weber) oder @KristinaMarlen_ (Kristina Marlen). Die Wissenschaftlerin Sonja Dolinsek (@sonjdol), die zur Geschichte der sexuellen Arbeit promoviert, teilt ihre Expertise auf Twitter und betreibt dazu auch die sehr aktiven Accounts @sexworkpol (Prostitutionspolitik) und @SexWorkResearch (Sex Work Research). Das Forschungnetzwerk Sexarbeit der Universität York (UK) verweist über seinen Twitter-Account auf aktuelle Studien (Sex Work Research Hub; @sexwork​reshub).

Abgesehen von den wissenschaftlichen und politischen Debatten zur Regulierung von Sexarbeit bietet Twitter auch Einblicke in die Lebens- und Arbeitswelten von Sexarbeiter:innen. Unter dem Account @DichJasmin (Jasminliebtdich) erzählt beispielsweise eine junge Sexarbeiterin von banalen wie skurrilen Begebenheiten aus ihrem Arbeitsalltag. Es kann zur Entstigmatisierung von Sexarbeit beitragen, die authentischen Stimmen aus der Szene zu hören. Nicht zuletzt wurde und wird die Situation von Sexarbeiter:innen während der COVID-19-Pandemie auf Twitter intensiv diskutiert, beispielsweise unter dem Hashtag #RotlichtAN.


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Twitter-Accounts von einzelnen Personen und Organisationen

Wer sexualbezogene Diskurse auf Twitter verfolgen möchte, kann sich ergänzend zu konkreten Themen und Hashtags auch über einschlägige Organisationen und Personen annähern. So sind unter anderem die Deutsche Aidshilfe als Dachverband (@Aidshilfe_de) mitsamt den regionalen Aidshilfen wie z. B. der AIDS-Hilfe Weimar (@AidshilfeW), pro familia Landesverbände mit z. B. @profamilia_bw und @PiaProfamilia (pro familia in action), die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA; @bzga_de), der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM; @ubskm_de), die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK; @ukask_de), Zartbitter e. V. (@Zartbitter_eV), das Netzwerk BetroffenenForum e. V. (@ZanderDetlev), die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (@mhstiftung) oder der Lesben- und Schwulenverband e. V. (LSVD; @lsvd) auf Twitter vertreten. Viele weitere nationale und internationale Organisationen, die sich mit sexualbezogenen Themen befassen, sind auf Twitter aktiv.

Bei den auf Twitter aktiven Einzelpersonen findet man Sexualberater:innen, Sexualtherapeut:innen und Sexualforscher:innen. Die Doktorandin Nicole Bedera (https://twitter.com/NBedera) beispielsweise schreibt ausführlich zur Erforschung sexueller Gewalt. Eric Sprankle (https://twitter.com/DrSprankle), Professor für Psychologie und Sexuality Studies an der Minnesota State University, twittert fast täglich provokant und sexpositiv über diverse sexualbezogene Themen.


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Fazit

Der vorliegende Praxisbeitrag zu sexualbezogenen Diskursen und sexualpolitischem Aktivismus auf Twitter hat mit sexueller Gewalt, Schwangerschaftsabbruch und Sexarbeit drei prominente Themen herausgegriffen. Viele weitere Themen ließen sich in ähnlicher Weise betrachten. So sind etwa Debatten und Aktivismus rund um LGBTIQ, Polyamorie, BDSM, STI, HIV, PrEP usw. auf Twitter gut sichtbar vertreten. Ebenso sind auf Twitter der Backlash der rechten Szene und Hassrede gegen sexuelle und geschlechtliche Minoritäten und gegen Feminst:innen unübersehbar. Dass sich selbst prominente und erfolgreiche Online-Aktivistinnen wie Lindy West, Mitbegründerin des Hashtags #ShoutYourAbortion, wegen Online-Hassrede unter Protest von Twitter abmeldeten, gibt zu denken.

Und noch ein anderes Problem ist nicht zu unterschätzen: Während Plattform-Betreibenden oft zu Recht vorgeworfen wird, zu wenig gegen Online-Hassrede zu tun, muss man ihnen gleichzeitig vorwerfen, zu willkürlich und zu hart gegen sexuellen Selbstausdruck vorzugehen. So sind auf vielen Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram oder Tumblr sexualbezogene Diskussionen inzwischen nur noch sehr eingeschränkt möglich, da die Nutzungsregeln sogenannte „Erwachsenen-Inhalte“ verbieten. Während Twitter Inc. bislang vergleichsweise liberal agierte und somit auch Sexarbeiter:innen, Anhänger:innen diverser sexueller Szenen und Sexualaufklärer:innen vielfältige sexualbezogene Äußerungen und Selbstdarstellungen erlaubte, wurden die Nutzungsregeln zum 1. Januar 2020 deutlich verschärft ([Curtis 2019]). Somit wird die Frage immer wichtiger und vordringlicher: Auf welchen Social-Media-Plattformen können in Zukunft eigentlich sexuelle Inhalte noch öffentlich diskutiert werden, ohne dass einerseits Zensur durch die Plattform und/oder andererseits ungehinderte Hassrede drohen ([Döring 2020a])?

Die im vorliegenden Beitrag angeführten Beispiele mögen dazu animieren, sich bei Interesse konstruktiv und mit Zivilcourage an Online-Debatten und Online-Aktivismus zu beteiligen und Online-Hassrede entgegenzutreten. Die Beispiele können auch in der sexualpädagogischen Arbeit als Diskussionsanstöße genutzt werden. Ebenso gibt es in diesem Feld weiterhin viel Forschungsbedarf. Denn ein Großteil der bisherigen empirischen Analysen bezieht sich auf den angloamerikanischen Raum.


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Interessenkonflikt

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. phil. Nicola Döring
Technische Universität Ilmenau
Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft
Ehrenbergstr. 29 (EAZ 2217)
98693 Ilmenau
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
16. März 2021

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