Schlüsselwörter
lymphatische Malformation - Melkersson-Rosenthal-Syndrom - Cheilitis granulomatose
- Lymphödem
Keywords
lymphatic malformation - melkersson-Rosenthal syndrome - cheilitis granulomatosa -
lymph edema
Kasuistik
Anamnese
Ein 43-jähriger Patient stellte sich aufgrund einer schmerzlosen Schwellung der Unterlippe
in unserer operativen/phlebologischen Sprechstunde vor. Die Schwellung habe sich vor
allem in den letzten 8 Monaten deutlich größenprogredient gezeigt. Extern wurde der
Verdacht eines Melkersson-Rosenthal-Syndroms gestellt und deshalb eine Behandlung
mit Kortison und Antihistaminika durchgeführt. Diese sei erfolglos gewesen, weshalb
zur Diagnosesicherung bei uns eine Probebiopsie der Unterlippe erfolgen sollte.
Auf Nachfrage berichtete der Patient über eine seit der Geburt linksseitig im Vergleich
zur Gegenseite vergrößerte Zunge sowie eine Schwellung der linken Wange. Des Weiteren
trage er seit dem 12. Lebensjahr Kompressionsstrümpfe. Im Alter von 15 Jahren erfolgte
anamnestisch bei Varikose beidseits die Entfernung von Krampfadern. Dies führte jedoch
nur zu einer temporären Besserung der Beinödeme.
Diagnostik
Hautbefund bei Erstvorstellung:
Es zeigte sich eine linksseitig betonte massive ödematöse Schwellung der Unterlippe
mit knotigen Anteilen sowie eine teigige Schwellung der linken Wange ohne Fazialisparese.
Des Weiteren präsentierte sich eine asymmetrisch vergrößerte Zunge ([Abb. 1], [2]).
Abb. 1 Schwellung der Unterlippe bei Erstvorstellung. Quelle: Hautklinik Universitätsklinikum
Schleswig-Holstein.
Abb. 2 Schwellung der Unterlippe und Zunge. Quelle: Hautklinik Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.
Außerdem bestand eine sehr zarte Rötung der rechten Gesichtshälfte mit Teleangiektasien
im Sinne einer kapillären Malformation.
Bei der Inspektion des gesamten Integuments fielen vor allem ausgeprägte Lymphödeme
mit Betonung der Füße sowie teils großkalibrige Varizen an beiden Unterschenkeln auf
([Abb. 3]). Weiterhin zeigten sich multiple Nävi flammei im Bereich des Körperstamms und der
Extremitäten ([Abb. 4]).
Abb. 3 Lymphödem und N. flammeus an den Unterschenkeln. Quelle: Hautklinik Universitätsklinikum
Schleswig-Holstein.
Abb. 4 N. flammei am Stamm. Quelle: Hautklinik Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.
Histologie Unterlippe
Eine tiefe Probeexzision der Unterlippe ergab neben ödematösem Bindegewebe und kleineren
Granulomen dilatierte Lymphgefäße mit histiozytären Zellen sowie einzelne mehrkernige
Riesenzellen vereinbar mit einer vaskulären Malformation. Ferner zeigte sich kein
Anhalt für ein Melkersson-Rosenthal-Syndrom ([Abb. 5]).
Abb. 5 Histologie aus der Unterlippe. Quelle: Hautklinik Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.
Verlauf
Die oben beschriebene Symptomatik passte nicht zu einem Melkersson-Rosenthal-Syndrom.
In Zusammenschau des klinischen Befundes mit der Anamnese stellten wir die Diagnose
einer kombinierten kapillären und lymphatischen Malformation, was histologisch auch
bestätigt wurde.
Therapeutisch führten wir 2-mal täglich eine Entstauungstherapie mittels intermittierender
pneumatischer Kompression sowie eine tägliche manuelle Lymphdrainage im Gesicht und
an den Beinen durch. Es zeigte sich ein sehr gutes Ansprechen auf die Therapie mit
deutlicher Reduktion des Lymphödems der Beine und Verbesserung der Mobilität. Anschließend
erfolgte eine Weiterbehandlung in einer spezialisierten Fachklinik für Lymphologie
mit Fortführung der Entstauungstherapie mittels intermittierender pneumatischer Kompression
sowie manueller Lymphdrainage an den oberen und unteren Extremitäten sowie im Gesicht.
Im Bereich der Entnahmestelle der Probebiopsie zeigte sich bereits ein deutlicher
Rückgang der ödematösen Schwellung ([Abb. 6]), sodass wir aktuell eine chirurgische Lippenreduktion geplant haben.
Abb. 6 Befund Unterlippe nach Probeentnahme. Quelle: Hautklinik Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.
Diskussion
Die Einteilung von vaskulären Anomalien erfolgt in einer einheitlichen, fachübergreifenden
Klassifikation basierend auf den Überlegungen der International Society for the Study
of Vascular Anomalies (ISVAA) [6]. Gefäßtumoren werden hierbei von Gefäßmalformationen (GM) unterschieden [7].
Zu den GM zählen kapilläre, venöse, arteriovenöse und lymphatische Fehlbildungen.
Auch können, wie in dem oben beschriebenen Fall, kombinierte Malformationen vorliegen.
Lymphatische und kapilläre Malformationen sind schon bei Geburt vorhanden, treten
aber nicht immer sofort in Erscheinung. Hierbei handelt es sich um Gefäßmalformationen
mit niedrigem oder fehlendem Fluss (Slow-Flow) [8]. Die kapillären Malformationen stellen sich als kutane Teleangiektasien und als
Naevus flammeus dar.
Das lymphatische System spielt eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des interstitiellen
Flüssigkeitsgleichgewichts, bei Immunreaktionen und der Aufnahme von Lipiden und fettlöslichen
Nährstoffen aus dem Darm. Folglich können Personen mit lymphatischen Malformationen
erheblichen Morbiditäten unterliegen. Im Vordergrund stehen lokalisierte, teils sehr
ausgeprägte Lymphödeme der betroffenen Körperregionen [9]. Häufig kommt es wie bei dem hier vorgestellten Patienten zu einer lokalisierten
oder auch Extremitäten-bezogenen Schwellung, vorzugsweise im Kopf/Hals-Bereich [10].
Das Melkersson-Rosenthal-Syndrom (MRS) hingegen ist eine seltene, erworbene granulomatöse
Erkrankung, welche durch eine Trias von Symptomen gekennzeichnet wird: progredientes
orofaziales Ödem, rezidivierende Fazialisparese sowie eine Zungenfurchung (Lingua
plicata). Das häufigste Symptom ist ein orofaziales Ödem im Sinne einer Schwellung
der Lippen.
Bei unserem Patienten hat die auffällige Schwellung der Unterlippe zunächst zur Verdachtsdiagnose
eines MRS geführt. Allerdings bestand keine Fazialisparese bei Vorstellung in unserer
Klinik – auch die Anamnese war dahingehend leer. Der Zungenbefund zeigte eine einseitige
angedeutete Lingua plicata, die aber eher auf eine lymphatische Stauung zurückzuführen
war als auf eine granulomatöse Entzündung. Obwohl der klinische Verdacht eher einer
kombinierten venös-kapillär-lymphatischen Malformation entsprach, führten wir eine
repräsentative Probebiopsie der Unterlippe durch, um ein MRS sicher ausschließen zu
können. Die Histologie entsprach einer lymphatischen Malformation (s. [Abb. 5]).
Einen großen Stellenwert besitzt bei der Diagnostik von Gefäßmalformationen neben
der ausführlichen Anamneseerhebung eine komplette klinische Ganzkörperuntersuchung,
wobei die Inspektion des Hautorgans mitsamt den einsehbaren Schleimhäuten im Vordergrund
steht. In unserem Fall wird dies auch sehr deutlich. Zusätzlich stehen bildgebende
Verfahren wie Sonografie und Magnetresonanztomografie zur Verfügung.
Bei unserem Patienten veranlassten wir ein MRT des Kopfes und der Halsweichteile mit
der Frage nach der Ausdehnung möglicher tieferliegender Anteile der lymphangiomatösen
Malformation oder dem Vorliegen möglicher weiterer arteriovenöser Fehlbildungen. Eine
weitere tiefere tumoröse Ausdehnung konnte ausgeschlossen werden, auch zeigten sich
keine Zysten mit typischem Anreicherungsmuster.
Therapeutisch stellt, unabhängig vom klinischen Stadium, die komplexe physikalische
Entstauungstherapie (KPE) die Behandlung der Wahl dar, bestehend aus Bewegung, manueller
Lymphdrainage (MLD), ggf. kombiniert mit sequenzieller intermittierender pneumatischer
Kompressionstherapie (SIPK), sowie dem konsequenten Tragen von Kompressionsstrümpfen
[11]. Bezogen auf die Befunde an den Unterschenkeln profitierte unser Patient von diesen
Maßnahmen, die in unserer Klinik begonnen wurden und in einer lymphologischen Spezialklinik
intensiviert wurden. Er führt die komplexen Therapiemaßnahmen mittlerweile erfolgreich
in seinem häuslichen Umfeld durch. Im Bereich der Unterlippe führt eine manuelle Lymphdrainage
lediglich zu einer leichten Abschwellung.
Im Kopf-Hals-Bereich stellen eine chirurgische Exzision oder eine bildgesteuerte Sklerotherapie
die Therapieoptionen der Wahl dar [12]
[13]. Auffällig ist bei unserem Patienten die anhaltende Reduktion des Unterlippenvolumens
nach der Probenentnahme. Daher stellt sich die Frage nach einer operativen Therapie
der Unterlippe im weiteren Verlauf. Diese ist in naher Zukunft geplant.
Dieser Fall macht deutlich, dass eine vermeintlich typische Symptomatik für eine Erkrankung
auch ein Symptom im Rahmen einer anderen Erkrankung sein kann. Ferner wird anhand
unseres Falles die Vielgestaltigkeit der Klinik und die Komplexität der Therapie von
vaskulären Malformationen deutlich.