Über viele Jahre galt die neoadjuvante Radiochemotherapie (oder Kurzzeit-Radiotherapie)
mit anschließender operativer Resektion als Standardtherapie für Rektumkarzinome des
unteren und mittleren Rektumdrittels in den UICC-Stadien II und III (cT3/4 und/oder
cN+).
In den letzten Jahren erfolgt eine zunehmend differenzierte Anpassung der Therapieoptionen
auf Basis der Tumorinfiltrationstiefe in das mesorektale Fettgewebe, des Tumorabstandes
zur mesorektalen Faszie (MRF) sowie des LK-Befalls. So eröffnet die aktuelle S3-Leitlinie
die Option einer Therapiedeeskalation. Bei Tumoren mit geringer Infiltrationstiefe
(frühes T3 bzw. T3a/b) und fehlendem LK-Befall kann auf eine vorangehende Strahlentherapie
verzichtet und primär operiert werden. In der OCUM-Studie [1 ] war das Vorgehen einer alleinigen Operation mit risikoadaptierter adjuvanter Chemotherapie
auf Basis einer exakten Beschreibung des Abstandes des Tumors zur mesorektalen Faszie
(MRF) in vielen Fällen möglich [1 ]. Weitere Studien (RAPIDO, PRODIGE und OPRA) adressieren wiederum die Intensivierung
der adjuvanten Therapie als sog. „totale neoadjuvante Therapie“ (TNT), zum Teil (OPRA-Studie)
mit intendiertem Organerhalt („watch and wait“-Konzept) bei lokal fortgeschrittenen
Rektumkarzinomen des mittleren und unteren Drittels [2 ].
Die Stratifizierung der Therapieoptionen beim Rektumkarzinom im Hinblick auf Deeskalation
und Eskalation setzt ein adäquates prätherapeutisches Staging voraus. In der Deutschen
Neoadjuvansstudie CAO/ARO/AIO-94 wurden bildgebend als lokal fortgeschritten eingestufte
Rektumkarzinome eingeschlossen. Dennoch wurden in der Gruppe der primär operierten
Patienten 18 % der Karzinome pathologisch lediglich als T1–2N0 diagnostiziert [3 ]. In der OCUM-Studie wuchs trotz protokollgeführter MRT-Diagnostik dieser Anteil
auf 27,3 % an [4 ].
Die Einschätzung der lokalen Tumorausbreitung des Rektumkarzinoms sollte nach aktueller
Leitlinie vorzugsweise mittels MRT durchgeführt werden. Gegenüber Ultraschall und
CT erlaubt der intrinsische hohe Weichteilkontrast der MRT eine sehr gute Differenzierung
der therapierelevanten Risikostrukturen. Die Leitlinie hält allerdings auch kritisch
fest, dass die Genauigkeit insbesondere für die MRT wesentlich von der lokalen Expertise
abhängt [5 ].
Die multiparametrische MRT-Diagnostik des Rektumkarzinoms setzt qualitative Standards
in technischer Durchführung sowie Auswertung und Befundung voraus. In Zusammenarbeit
mit der AG Onkologische Bildgebung, AG Gastrointestinal- und Abdominaldiagnostik und
der AG Informationstechnologie sowie klinischen Vertretern u. a. der Deutschen Gesellschaft
für Allgemein- und Viszeralchirurgie wurden in einem Konsensus-Meeting 2017 strukturierte
Befundvorlagen für das Rektum- und Kolonkarzinom entwickelt und online zur Verfügung
gestellt (www.befundung.drg.de). Stellenwert und qualitative Voraussetzungen der MRT
für die Therapieplanung beim Rektumkarzinom wurden darüber hinaus als interdisziplinäre
Empfehlungen der AIO, ARO, ACO und der deutschen Röntgengesellschaft kürzlich publiziert
[6 ].
Das MRT-Untersuchungsprotokoll enthält obligat hochaufgelöste 2 D (optimal 3 D) -T2-gewichtete
Sequenzen über die Tumorregion, die in 2 Raumrichtungen orthogonal bzw. im rechten
Winkel zur Achse des betroffenen Rektumabschnittes gekippt werden (sog. paraaxiale
und parakoronale Kippung). In gleicher Kippung werden sog. diffusionsgewichtete und
kontrastmittelgestützte 3D-GRE-Aufnahmen akquiriert [6 ]
[7 ]
[8 ]. Die diffusionsgewichtete Bildgebung (DWI) erleichtert die Tumordetektion, ist aber
für die Beurteilung eines LK-Befalls nur eingeschränkt geeignet. Kontrastmittelgestützte
Sequenzen ergänzen die Planung der Strahlentherapie. Bei tiefsitzenden Rektumtumoren
im unteren Drittel erfolgt zur Beurteilung des Tumorbezuges zum Sphinkterkomplex die
Kippung abweichend hiervon orthogonal zur Achse des Analkanals.
Die Befundung fokussiert auf die therapierelevanten Kriterien. Diese umfassen neben
der Tumorausbreitung (T-Kategorie) den lokoregionären und lateralen Lymphknotenbefall
(N-Kategorie) [9 ], den Abstand zur mesorektalen Faszie (MRF) bzw. beim tiefen Rektumkarzinom zum intersphinktären
Gewebe als anatomische Fortsetzung der mesorektalen Faszie (mrLowRectalCancerPlane)
[8 ] sowie die Beschreibung einer extramuralen Veneninvasion (EMVI) [10 ]. Ein mrEMVI-positiver Befund klassifiziert den Tumor für eine neoadjuvante Therapie
(ESMO-Guidlines). In den NCCN-Guidelines ist EMVI nicht inkludiert.
Die therapierelevanten Befundungskriterien sollten in strukturierter Form erhoben
werden:
Tumormetrik: Lokalisation, Abstand zur AC-Linie, Tumorlänge und Tumorabstand zum Oberrand
der Puborektalschlinge bzw. zum anorektalen Übergang.
Morphologie (konzentrisch, semizirkulär, polypoid) sowie Tumormatrix (solide versus
muzinös), Angabe der Uhrzeit.
T-Klassifikation mit Subklassifikation T3 in T3a/b und T3c/d[1 ]. Bei Tumoren des oberen und mittleren Drittels Lagebezug zur peritonealen Umschlagsfalte
(T4a bei Infiltration). Beschreibung der Infiltration anderer Organe (T4b).
Bei Tumoren des unteren Drittels Beurteilung des Sphinkterkomplexes mit Unterscheidung
Infiltration M. sphincter internus, intersphinktäres Gewebe, M. sphincter externus
sowie Levator ani (T4)[2 ].
Lagebezug zur mesorektalen Faszie: Der geringste Abstand zur mesorektalen Faszie wird
lokalisiert mit Angabe des Abstandes zur MRF und der Uhrzeit (Tumor selbst, Tumorsatellit
oder LK-Metastase). Wenn < 1 mm oder Kontakt/Infiltration ist der Schnittrand als
positiv zu werten, d. h. der potenzielle zirkumferentielle Resektionsrand (CRM) ist
positiv.
Beurteilung der extramuralen Veneninvasion (EMVI). Die Graduierung erfolgt auf Basis
einer 4-teiligen Ordinalskala nach Smith et al. [10 ].
Beurteilung von lokoregionären LK sowie lateralen bzw. extramesorektalen LK.
Die Beurteilung einer prognostisch relevanten LK-Metastasierung stellt bildgebend
eine besondere Herausforderung dar. Mikrometastasen können in nicht vergrößerten LK
auftreten. Tatsächlich sind ca. 48 % der befallenen LK 5 mm oder kleiner [11 ]. Dies gilt insbesondere für LK im mesorektalen Fettgewebe knapp ober- und unterhalb
(< 1 cm) des Tumorniveaus. Andererseits können LK auch reaktiv vergrößert sein ohne
Nachweis einer Metastasierung. Die Beschränkung auf Größenkriterien allein birgt damit
das Risiko der Fehlklassifikation. Darüber hinaus ist die LK-Metastasierung abhängig
von der Tumorhöhe. Je tiefer der Tumor sitzt, desto wahrscheinlicher ist eine LK-Metastasierung
in extramesorektale bzw. laterale LK.
Für LK im mesorektalen Fettgewebe sind neben a) ihrer Größe deshalb additiv b) die
LK-Form und c) die Signalhomogenität ihrer Binnenstruktur in der sog. T2-Wichtung
zu bewerten. Im Hinblick auf die Randbegrenzung kann d) ferner die Randunterbrechung
bzw. das Fehlen von sog. „chemical shift“-Artefakten in T2-gewichteten Bildern als
Kriterium für eine Tumorinfiltration gewertet werden. Die Genauigkeit der MRT im LK-Staging
kann durch die Kombination dieser Kriterien auf bis zu 78–85 % gesteigert werden [12 ].
Ein positiver LK-Befall stuft Patienten a priori und unabhängig von der T-Kategorie
(T1-T3a/b) in eine intermediäre Risikogruppe ein. Aus Behandlungssicht ist die prätherapeutische
Beurteilung des Lymphknotenstatus ein kritisches Moment. Einerseits besteht eine große
diagnostische Unsicherheit, andererseits sind daran relevante therapeutische Konsequenzen
gebunden, da sowohl die aktuellen deutschen Leitlinien als auch die NCCN für einen
klinisch lymphknotenpositiven Tumor eine neoadjuvante Therapie vorsehen. Lediglich
die ESMO-Leitlinie erlaubt für definierte Fälle (≤ T3a/b, CRM-negativ, EMVI-negativ)
die primäre OP bei LK-Positivität. Die deutsche S3-Leitlinie nimmt zu dieser Problematik
wie folgt Stellung:
„Als Problem jeder neoadjuvanten Therapie muß das potentielle „Overstaging“ und die
daraus resultierende „Überbehandlung“ von Patienten gewertet werden, bei denen fälschlicherweise
ein lymphknotenpositiver Tumor (cN+) diagnostiziert wurde.
Bei der Beurteilung der Lymphknoten sind Sensitivität (55–73 %) und Spezifität (74–78 %)
aller Verfahren derzeit unbefriedigend. Dies ist u. a. dadurch bedingt, dass einerseits
eine reaktive Lymphknotenvergrößerung auftritt, andererseits auch Lymphknoten von
5 mm und kleiner Metastasen enthalten können. Aus diesem Grund sollte die Indikation
zu einer neoadjuvanten Therapie sehr zurückhaltend gestellt werden, wenn sie allein
auf der Beschreibung suspekter Lymphknoten in der prätherapeutischen Bildgebung basiert.“
Zusammenfassend wird daher vorgeschlagen, die bildmorphologische Beurteilung von Lymphknoten
in der T2-Wichtung systematisch nach Größe, Form, Binnenstruktur und Randbegrenzung
vorzunehmen sowie abschließend die Befundsicherheit nach einer 3-teiligen Konfidenzskala
vorzunehmen: 1. eindeutiger Tumorbefall (N plus), 2. fraglicher Tumorbefall (Nx) und
3. sicher kein Tumorbefall (N0).
Die o. g. Arbeitsgruppen werden in Zusammenarbeit und in Ergänzung zu den hier erwähnten
Kriterien weitere Vorschläge und Präzisierungen erarbeiten, die den jeweiligen Fachgesellschaften
zur Konsentierung vorgelegt werden.
Sigmar Stelzner, Stefan Fichtner-Feigl, Volker Kahlke, Anton Kroesen, Peter Kienle
für die Chirurgische Arbeitsgemeinschaft Coloproktologie (CACP) der Deutschen Gesellschaft
für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV)
Johannes Weßling, Lars Grenacher für die Arbeitsgemeinschaft Gastrointestinal- und Abdominaldiagnostik der Deutschen
Röntgengesellschaft (DRG)
Korrespondenzadresse: Priv.-Doz. Dr. med. Sigmar Stelzner Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie Städtisches Klinikum Dresden-Friedrichstadt Friedrichstr. 41 D-01067 Dresden E-Mail: sigmar.stelzner@klinikum-dresden.de
Erstpubliziert in S. Stelzner, S. Fichtner-Feigl, V. Kahlke, P. Kienle, A. Kroesen,
L. Grenacher, J. Wessling (2021) Standardisierung der präoperativen Ausbreitungsdiagnostik
beim Rektumkarzinom mittels MRT. Der Chirurg 5. doi:10.1007/s00104-021-01411-y