III Methodik
Grundlagen
Die Methodik zur Erstellung dieser Leitlinie wird durch die Vergabe der Stufenklassifikation vorgegeben. Das AWMF-Regelwerk (Version 1.0) gibt entsprechende Regelungen vor. Es wird zwischen der niedrigsten Stufe (S1), der mittleren Stufe (S2) und der höchsten Stufe (S3) unterschieden. Die niedrigste Klasse definiert sich durch eine Zusammenstellung von Handlungsempfehlungen, erstellt durch eine nicht repräsentative Expertengruppe. Im Jahr 2004 wurde die Stufe S2 in die systematische Evidenzrecherche-basierte (S2e) oder strukturelle konsensbasierte Unterstufe (S2k) gegliedert. In der höchsten Stufe S3 vereinigen sich beide Verfahren.
Diese Leitlinie entspricht der Stufe: S2k
Empfehlungsgraduierung
Die Evidenzgraduierung nach systematischer Recherche, Selektion, Bewertung und Synthese der Evidenzgrundlage und eine daraus resultierende Empfehlungsgraduierung einer Leitlinie auf S2k-Niveau ist nicht vorgesehen. Es werden die einzelnen Statements und Empfehlungen nur sprachlich – nicht symbolisch – unterschieden ([Tab. 3]):
Tab. 3 Graduierung von Empfehlungen.
Beschreibung der Verbindlichkeit
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Ausdruck
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starke Empfehlung mit hoher Verbindlichkeit
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soll/soll nicht
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einfache Empfehlung mit mittlerer Verbindlichkeit
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sollte/sollte nicht
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offene Empfehlung mit geringer Verbindlichkeit
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kann/kann nicht
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Statements
Sollten fachliche Aussagen nicht als Handlungsempfehlungen, sondern als einfache Darlegung Bestandteil dieser Leitlinie sein, werden diese als „Statements“ bezeichnet. Bei diesen Statements ist die Angabe von Evidenzgraden nicht möglich.
Konsensusfindung und Konsensusstärke
Im Rahmen einer strukturierten Konsenskonferenz nach dem NIH-Typ (S2k/S3-Niveau) stimmen die berechtigten Teilnehmer der Sitzung die ausformulierten Statements und Empfehlungen ab. Der Ablauf war wie folgt: Vorstellung der Empfehlung, inhaltliches Nachfragen, Vorbringen von Änderungsvorschlägen, Abstimmung aller Änderungsvorschläge. Bei Nichterreichen eines Konsensus (> 75% der Stimmen) Diskussion und erneute Abstimmung. Abschließend wird abhängig von der Anzahl der Teilnehmer die Stärke des Konsensus ermittelt ([Tab. 4]).
Tab. 4 Einteilung zur Zustimmung der Konsensusbildung.
Symbolik
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Konsensusstärke
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prozentuale Übereinstimmung
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+++
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starker Konsens
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Zustimmung von > 95% der Teilnehmer
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++
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Konsens
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Zustimmung von > 75 – 95% der Teilnehmer
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+
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mehrheitliche Zustimmung
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Zustimmung von > 50 – 75% der Teilnehmer
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–
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kein Konsens
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Zustimmung von < 51% der Teilnehmer
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Expertenkonsens
Wie der Name bereits ausdrückt, sind hier Konsensusentscheidungen speziell für Empfehlungen/Statements ohne vorige systemische Literaturrecherche (S2k) oder aufgrund von fehlenden Evidenzen (S2e/S3) gemeint. Der zu benutzende Expertenkonsens (EK) ist gleichbedeutend mit den Begrifflichkeiten aus anderen Leitlinien wie „Good Clinical Practice“ (GCP) oder „klinischer Konsensuspunkt“ (KKP). Die Empfehlungsstärke graduiert sich gleichermaßen wie bereits im Kapitel Empfehlungsgraduierung beschrieben ohne die Benutzung der aufgezeigten Symbolik, sondern rein semantisch („soll“/„soll nicht“ bzw. „sollte“/„sollte nicht“ oder „kann“/„kann nicht“).
IV Leitlinie
1 Epidemiologie
Die Daten zur Epidemiologie genitaler Fehlbildungen sind oft älter und stammen meist aus retrospektiven Studien und Fallberichten [1], [2].
Konsensbasiertes Statement 1.S1
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die Inzidenz genitaler Fehlbildungen liegt in der weiblichen Allgemeinbevölkerung bei 3,0 – 6,7%, über 7% bei Sterilitätspatientinnen und ca. 17% bei Patientinnen mit habituellen Aborten.
Im Vergleich zur Normalbevölkerung resultieren bei vorhandener, insbesondere uteriner Fehlbildung signifikant höhere Abortraten.
2 Ätiologie von Störungen der Müllerʼschen Gänge
Konsensbasiertes Statement 2.S2
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bestimmte Mikrodeletionen und Mikroduplikationen können Störungen der Müllerʼschen Gänge hervorrufen.
Mutationen in Genen wie LHX1, WNT4 und WNT9B gehen mit Störungen der Müllerʼschen Gänge einher.
3 Klassifikation
Über viele Jahre wurde die Fehlbildungsklassifikation der „American Fertility Society“ (AFS) als Standard angesehen. Da Fehlbildungen sich in einer großen Varianz zeigen, wurden die Klassifikationen VACUAM [3] und die der ESHRE/ESGE [4] entwickelt. Beide orientieren sich an den anatomischen Strukturen. In diesem Zusammenhang ist es ebenfalls wichtig, assoziierte Fehlbildungen mit zu berücksichtigen.
Konsensbasierte Empfehlung 3.E1
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Um eine Fehlbildung replizierbar zu erfassen, sollten die Klassifikationen ESHRE/ESGE oder VCUAM benutzt werden.
Konsensbasiertes Statement 3.S3
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die anatomischen Klassifikationen ESHRE/ESGE & VCUAM bieten derzeit die beste Option, eine Fehlbildung suffizient abzubilden.
4 Diagnostik
Konsensbasierte Empfehlung 4.E2
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bei pränatalem V. a. eine Genitalfehlbildung ist die weiterführende Abklärung, Diagnostik und interdisziplinäre Beratung an entsprechenden Einrichtungen zu empfehlen.
Konsensbasiertes Statement 4.S4
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Im Rahmen der Ultraschallscreeninguntersuchungen erhobene Befunde können auf Genitalfehlbildungen hinweisen.
Konsensbasierte Empfehlung 4.E3
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bei Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter sollte auf weibliche Genitalfehlbildungen geachtet werden. Bei V. a. eine Genitalfehlbildung ist die weiterführende Abklärung, Diagnostik und ggf. interdisziplinäre Beratung zu empfehlen. Bei Kindern und Jugendlichen soll auf den Schutz vor ungerechtfertigten diagnostischen Maßnahmen geachtet werden.
Konsensbasiertes Statement 4.S5
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die Diagnostik bei V. a. weibliche genitale Fehlbildungen im Kindes- und Jugendalter setzt viel Erfahrung, ein kindgerechtes Instrumentarium und Ambiente sowie ein gutes Einfühlungsvermögen der Untersucher voraus.
Konsensbasierte Empfehlung 4.E4
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bei Vorliegen von weiblichen genitalen Fehlbildungen soll auf die Assoziation zu anderen anatomischen Fehlbildungen, Syndromen oder Symptomkomplexen geachtet werden. Bei der Bildgebung sollen Methoden ohne ionisierende Strahlung bevorzugt eingesetzt werden. Mittel der Wahl ist der Ultraschall.
Konsensbasiertes Statement 4.S6
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Anomalien der Nieren und des harnableitenden Systems können mit weiblichen genitalen Fehlbildungen assoziiert sein. Weibliche genitale Fehlbildungen können Bestandteil von Syndromen sein.
5 Transition
5.1 Einführung und Begriffserklärung
Konsensbasierte Empfehlung 5.E5
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Jugendliche mit genitalen Fehlbildungen sollen während der 3 Phasen der Pubertät entsprechend ihrer Reife auf die Transition vorbereitet werden.
Die Transition soll eine längerfristige und kontinuierliche Begleitung in die Erwachsenenzeit umfassen.
Konsensbasiertes Statement 5.S7
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Viele Jugendliche mit chronischen Erkrankungen und Medikamenteneinnahme entziehen sich während der Pubertät zunehmend der ärztlichen Kontrolle, zeigen eine schlechtere Compliance und gehen oft in der Transition verloren („Lost in Transition“), was sich negativ auf Gesundheit und Lebenserwartung der Betroffenen auswirkt.
5.2 Assoziierte Fehlbildungen
Konsensbasierte Empfehlung 5.E6
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bevor ein komplexer operativer Eingriff vorgenommen wird, soll die fachlich kompetente Nachbetreuung, auch längerfristig, besprochen und die Transition sichergestellt werden.
Um assoziierte Fehlbildungen rechtzeitig zu erkennen, sollen weibliche Jugendliche mit urogenitaler Fehlbildung spätestens ab Tanner-Stadium B3 von einer kinder- und jugendgynäkologisch ausgebildeten Fachperson untersucht und eine entsprechende Abflussbehinderung ausgeschlossen werden.
Konsensbasiertes Statement 5.S8
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Weibliche genitale Fehlbildungen, wiederholte genitale Operationen und Funktionsstörungen wie Inkontinenz können zu Verunsicherung und bleibender Ablehnung von Sexualität und Intimität führen. Eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung in der Zeit der Pubertät kann die Therapietreue stärken und die Compliance verbessern.
5.3 Multidisziplinäres Team
Konsensbasierte Empfehlung 5.E7
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Kinder und Jugendliche mit komplexen genitalen Fehlbildungen sollen in einem multidisziplinären Team besprochen und von einer in Kinder- und Jugendgynäkologie geschulten Fachperson auch in der Transition begleitet werden.
Konsensbasiertes Statement 5.S9
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Zentren, die Operationen bei Kindern und Jugendlichen mit genitalen Fehlbildungen vornehmen, sollen die Beratung und das Therapiekonzept interdisziplinär mit Vertretern aller beteiligten medizinischen und psychosozialen Fachbereichen unter Einbezug der Kinder- und Jugendgynäkologie besprechen und die Transition langfristig planen.
5.4 Konkrete Aufgaben der Transition
Konsensbasierte Empfehlung 5.E8
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bei Mädchen mit genitaler Fehlbildung soll die Transition entsprechend einer Checkliste (siehe Langfassung) erfolgen. Zentrale Themen der Transition wie Sexualaufklärung, Kontrazeption, frühzeitige präkonzeptionelle Beratung sowie Unterstützung der Eigenständigkeit sind gerade bei Personen mit genitalen Fehlbildungen besonders wichtig und sollen sorgfältig und mit entsprechendem Fachwissen erfolgen.
Konsensbasiertes Statement 5.S10
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Für Mädchen mit genitaler, urogenitaler oder anogenitaler Fehlbildung ist die korrekte Begleitung und Unterstützung in der Transition essenziell.
6 Fehlbildungen der Vulva
Die Wiederherstellung von Form und Funktion des äußeren weiblichen Genitales basiert auf der Re-Etablierung morphologischer Eigenschaften [5].
Konsensbasierte Empfehlung 6.E9
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Für rekonstruktive Chirurgie an der Vulva sollen die Behandelnden über mikrochirurgisch-anatomische Expertise verfügen und diese Region als Komposition verschiedener anatomischen Einheiten verstehen.
Aufgrund der Komplexität möglicher anatomischer Beeinträchtigungen sollte die rekonstruktive Chirurgie der äußeren weiblichen Genitalien neben generell-operativen Prinzipien insbesondere spezialisierte Verfahren berücksichtigen, um ein optimales Outcome zu erreichen [6].
Konsensbasiertes Statement 6.S11
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Angeborene Fehlbildungen des äußeren weiblichen Genitales und deren Behandlungen können mit einer erheblichen Beeinflussung der psychosozialen, aber auch psychosexuellen Integrität der betroffenen Patientinnen einhergehen.
Die Region des äußeren weiblichen Genitales ist als „Komposition verschiedener anatomischer Einheiten“ zu verstehen.
Komplexe Rekonstruktionen der Vulva verlangen vom Operateur eingehende Kenntnisse der speziellen Anatomie und plastisch-rekonstruktiver Operationsverfahren.
7 Fehlbildungen der Vagina
7.1 Vaginalsepten
(ESHRE/ESGE Class V1 – 3; VCUAM V1 – 5)
7.1.1 Longitudinales nicht obstruierendes Septum (V1)
(ESHRE/ESGE Class V1; VCUAM V2)
7.1.1.1 Diagnostik
Für die sichere Diagnose eines longitudinalen Vaginalseptums ist eine Spekulumuntersuchung meist unersetzlich.
Vaginale Septen sind in mehr als 87% mit uterinen Fehlbildungen assoziiert. Auch auf häufig vorkommende Anomalien der Nieren und des ableitenden Harnsystems hin muss untersucht werden [7], [8].
7.1.1.2 Therapie
Die Dissektion des Septums entlang zweier langer gerader Klemmen stellt die Therapie der Wahl dar.
Konsensbasierte Empfehlung 7.E10
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Eine operative Therapie longitudinaler nicht obstruierender Vaginalsepten soll jederzeit bei Beschwerden oder aber bei geplanter Schwangerschaft zur Erleichterung einer vaginalen Entbindung erwogen werden. Siehe auch Kapitel 13 in Teil 2 der Leitlinie.
Konsensbasiertes Statement 7.S12
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Longitudinale nicht obstruierende Vaginalsepten sind nicht selten asymptomatisch.
7.1.2 Longitudinales obstruierendes Vaginalseptum
(ESHRE/ESGE Class V2; VCUAM V5a)
7.1.2.1 Diagnostik
Für die sichere Diagnose eines obstruierenden longitudinalen Septums, welches sich meist zervixnah befindet, und zur Festlegung des therapeutischen Vorgehens ist eine Spekulumuntersuchung unersetzlich. Sonografisch zeigt sich ein Hämatokolpos und ggf. eine Hämatometra auf der obstruierten Seite, sowie häufig eine Nierenanomalie. In letzter Zeit bekommt auch hier die 3-D-Sonografie einen immer größeren Stellenwert [9], [10].
Eine Kernspintomografie (MRT) kann bei der Differenzialdiagnose der verschiedenen obstruierenden Fehlbildungen helfen [11], [12].
7.1.2.2 Therapie
Die Therapie besteht aus einer Resektion des Septums, indem an der sich vorwölbenden Stelle zunächst mit einer Kanüle aspiriert und dann der partielle Anteil des Septums scharf reseziert wird. Eine Stenosierung muss vermieden werden.
7.1.3 Hymenalatresie und transversales Vaginalseptum
(ESHRE/ESGE Class V3; VCUAM V1b)
7.1.3.1 Hymenalatresie
7.1.3.1.1 Diagnostik
Bei der Inspektion fällt das vorgewölbte Hymen auf. Sonografisch lässt sich ein Hämatokolpos und ggf. auch bereits eine Hämatometra darstellen.
7.1.3.1.2 Therapie
Die operative Korrektur wird durch mittige Inzision des Hymens und Resektion über einem in der Scheide geblockten Blasenkatheter mit einem Laser oder monopolarer Stromnadel vorgenommen. Meist erfolgt eine kreuzförmige oder zirkuläre Exzision [12], [13].
7.1.3.2 Transversales Vaginalseptum
7.1.3.2.1 Diagnostik
Die Diagnose wird mithilfe einer Spekulumuntersuchung in Kombination mit einer Sonografie und ggf. einem MRT gestellt.
7.1.3.2.2 Therapie
Die operative Therapie besteht in der Exzision des Septums. In komplexen Fällen und bei dickwandigen Septen muss die Therapie häufig mit einem abdominalen Zugang (per Laparoskopie oder Laparotomie) sowie ggf. mit Lappenplastiken kombiniert werden [14].
Konsensbasierte Empfehlung 7.E11
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Obstruierende Vaginalsepten, die in der Pubertät symptomatisch werden, sollen in der Regel zeitnah operativ therapiert werden. Eine detaillierte Diagnostik soll vor dem operativen Vorgehen erfolgen. Für die Behandlung sollte eine entsprechende Expertise vorhanden sein.
Konsensbasiertes Statement 7.S13
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Obstruierende longitudinale und transversale Vaginalsepten werden in der Neugeborenenphase (Mukokolpos) oder häufig erst bei Beschwerden in der Pubertät (Hämatokolpos) symptomatisch. Der Schweregrad der Eingriffe reicht von relativ einfach bis hochkomplex.
7.2 Vaginalaplasie
(ESHRE/ESGE Class V4; VCUAM V5b)
7.2.1 Diagnostik
Es finden sich meist ein blind endendes Vaginalgrübchen von ein bis wenigen Zentimetern Länge sowie sonografisch ein komplett fehlender oder nur rudimentär ausgebildeter Uterus in Form von beidseitigen Uterusanlagen. Durch eine Sonografie der Nieren können assoziierte Fehlbildungen diagnostiziert werden. Mit einem MRT ist es zudem möglich, weitere assoziierte Fehlbildungen zu erkennen und rudimentäre Müller-Gang-Strukturen zu charakterisieren [15], [16].
7.2.2 Therapie
Ziel der Therapie bei Vaginalaplasie ist die Anlage einer adäquat langen und weiten Neovagina. Konservative und zahlreiche operative Methoden zur Neovaginaanlage sind bislang beschrieben worden. Eine Übersicht der einzelnen Verfahren wurde in [Tab. 5] zusammengestellt.
Tab. 5 Übersicht der Methoden zur Behandlung von vaginalen Fehlbildungen.
Methode
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Vorteile
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Nachteile
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Komplikationen
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nicht operative Selbstdehnung nach Frank
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keine OP-Risiken, keine OP-Komplikationen, keine Narkose
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langwierige Therapie, schmerzhaft, erfordert höchste Motivation und stringente Anleitung, dauerhafte Anwendung nötig, da Schrumpfungsneigung, wenn kein regelmäßiger GV, eher geringere Neovaginalänge
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Risiko der falschen Technik mit z. B. Dilatation der Urethra, urethrovaginale/rektovaginale Fistel, Prolapsgefahr
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operative Methoden
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1. Neovaginaanlage durch Dissektion (vaginale Tunnelung) zwischen Blase und Rektum und Verwendung eines Transplantates
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Schrumpfungstendenz mit regelmäßiger postoperativer Dilatationsnotwendigkeit oder sexueller Aktivität, ggf. sichtbare Narbe an der Transplantat-Entnahmestelle (Spalthaut), fehlende bis mäßige Lubrikation, Haarwachstum
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Prolaps, Fisteln, Darm- und Harnblasenverletzung, Karzinomentstehung, häufiger Granulationsgewebe
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1.1 McIndoe-Technik und Modifikationen
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bei McIndoe: relativ einfache Methode, kein abdominaler Zugang nötig, bei funktionsfähigem Uterus möglich
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1.2 Davydov-Technik
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bei Davydov gute Vaginallängen, auch bei genitalen Narben nach Vor-OPs möglich
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2. Neovaginaanlage durch Dissektion (vaginale Tunnelung) zwischen Blase und Rektum ohne Verwendung eines Transplantates
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2.1 Wharton-Sheares-George
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relativ einfache Methode bei sichtbaren Gangstrukturen, kein abdominaler Zugang nötig
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Schrumpfungstendenz mit regelmäßiger lebenslanger postoperativer Dilatationsnotwendigkeit oder sexueller Aktivität, Granulationsgewebe
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Zystozelen-/Rektozelenbildung, Dehiszenz
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3. Lappenplastiken
3.1 Vollhauttransplantate und Lappenplastiken zur vaginalen Auskleidung
3.2 vulvovaginale Rekonstruktion
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kein abdominaler Zugang nötig, primäre Wundheilung, wenig Stenosen, gute Erfolgsraten
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Haarwachstum im Bereich der Neovagina, Fluor, Fisteln, Dyspareunie, Narbenbildung im Bereich der Entnahmestelle, unphysiologische Anatomie/Winkel der Neovagina
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Lappennekrosen, Wundheilungsstörungen, Infektionen, Inkontinenz, Thrombembolien, Granulationsgewebe, Prolaps
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4. Darmscheiden
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geringere Schrumpfungsneigung, gute Lubrikation, häufig keine Nachbehandlung mit Phantomen notwendig
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aufwendige Operation, exzessiver übelriechender Fluor, Dyspareunie, Narbenbildung
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schwere Komplikationen bis zur Todesfolge, Blasen-/Darmverletzungen, Infektionen, Anastomoseninsuffizienz, Ileus, Prolapsneigung, Kolitiden, Karzinomentstehung, Granulationsgewebe
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4. operative Dehnung durch Zug
4.1 Vecchietti-Methode und Modifikationen
4.2 Ballonbasierte Methode
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gute Erfolgsraten, physiologisches funktionelles Vaginalepithel, gute Lubrikation, bislang kein Prolaps, kurze Spanndauer, keine Langzeitanwendung von Dilatatoren nötig, auch bei Beckennieren problemlos möglich
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spezielles Instrumentarium nötig, suffiziente Analgesie während Spanndauer nötig, postoperative Phantombehandlung über mehrere Monate
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Darmverletzung, Blasenverletzung, Granulationsgewebe
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7.2.2.1 Nicht operative Methoden
Die vaginale Selbstdehnung wurde erstmals 1938 von Frank beschrieben [17].
Konsensbasierte Empfehlung 7.E12
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die Selbstdehnungstherapie kann bei hoch motivierter, gut angeleiteter Patientin als Primärtherapie erwogen werden, wenn diese einem operativem Vorgehen zunächst oder überhaupt ablehnend gegenübersteht oder deutlich erhöhte OP-Risiken aufweist. Für die Behandlung sollte eine entsprechende Expertise vorhanden sein.
Konsensbasiertes Statement 7.S14
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Mithilfe von an Länge und Weite zunehmenden Vaginalstents soll die Patientin täglich über mehrere Monate für mindestens 30 Minuten Druck auf das vorhandene Vaginalgrübchen ausüben.
Anwendbar vor geplanter Uterustransplantation.
7.2.2.2 Operative Methoden
Neovaginaanlage durch Dissektion (vaginale Tunnelung) zwischen Blase und Rektum und Verwendung eines Transplantates.
7.2.2.2.1 McIndoe-Technik und Modifikationen
Die Tunnelung der Neovagina erfolgt bis zum Douglas-Peritoneum. Ein Spalthauttransplantat, welches meist von Gesäß oder Oberschenkel der Patientin stammt, wird zur Deckung der Neovagina verwendet.
Konsensbasierte Empfehlung 7.E13
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die McIndoe-Technik kann als Methode der Wahl bei Patientinnen nach ausgedehnten abdominalen Voroperationen oder mit funktionsfähigem Uterus angesehen werden. Für die Behandlung sollte eine entsprechende Expertise vorhanden sein.
Konsensbasiertes Statement 7.S15
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die originale McIndoe-Technik verwendet ein Spalthauttransplantat zur Deckung der Neovagina, welches meist von Gesäß oder Oberschenkel der Patientin stammt.
Anwendbar vor geplanter Uterustransplantation.
7.2.2.2.2 Davydov-Technik
Die ursprüngliche Technik wurde weitgehend durch ein laparoskopisches Vorgehen ersetzt, was zu geringerem Blutverlust und postoperativen Schmerzen, kürzerem Krankenhausaufenthalt, schnellerer Genesung und besseren kosmetischen Ergebnissen führte [18], [19].
Konsensbasierte Empfehlung 7.E14
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Für die Davydov-Methode gilt, dass sie auch angewandt werden kann nach vorausgegangener genitaler Operation mit Narbenbildung, da das Vaginalepithel nicht elastisch sein muss. Für die Behandlung sollte eine entsprechende Expertise vorhanden sein.
Konsensbasiertes Statement 7.S16
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Beim Davydov erfolgt primär eine Dissektion des rektovesikalen Raum. Anschließend wird von transabdominal das Peritoneum mobilisiert, durch den geschaffenen Raum gezogen und im Bereich des Introitus angenäht. Der Verschluss des Apex der Neovagina erfolgt mit einer Tabaksbeutelnaht.
7.2.2.3 Operative Methoden
Neovaginaanlage durch Dissektion (vaginale Tunnelung) zwischen Blase und Rektum ohne Verwendung eines Transplantates.
7.2.2.3.1 Wharton-Sheares-George
Die Vereinfachung nach Wharton-Sheares-George [20] kommt nunmehr ohne primäre Überkleidung des operativ erzeugten Hohlraumes mit Fremdgewebe (weder auto- noch heterolog) aus und vermeidet somit auch Probleme durch diese Transplantation.
Konsensbasierte Empfehlung 7.E15
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die Methode nach Wharton-Sheares kann bei sichtbaren obliterierten Müllerʼschen Gängen als eine der primären Methode eingesetzt werden. Es liegen aber bisher keine Outcome-Daten vor, inwieweit diese bei insbesondere Beckennieren anwendbar ist.
Für die Behandlung sollte eine entsprechende Expertise vorhanden sein.
Konsensbasiertes Statement 7.S17
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bei der Wharton-Sheares-George-Methode wird die Neovagina durch Sondierung der obliterierten Müllerʼschen Gänge durch Hegar-Stifte aufsteigender Größe geschaffen. Anwendbar vor geplanter Uterustransplantation.
7.2.2.4 Lappenplastiken
7.2.2.4.1 Vollhauttransplantate und Lappenplastiken zur vaginalen Auskleidung
Die meisten dieser Methoden leiden darunter, dass sie sichtbare Narben hinterlassen, sich Keloid bildet und die Lubrikation insuffizient ist.
Konsensbasierte Empfehlung 7.E16
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Aufgrund von Narbenbildung, Komplexität und potenzieller Lappenverluste bleiben Lappenplastiken Patientinnen mit malignen Erkrankungen und daraus resultierender Notwendigkeit zur Exenteration oder anderen ausgedehnteren pelvinen Operationen vorbehalten. Für die Behandlung sollte eine entsprechende Expertise vorhanden sein.
Konsensbasiertes Statement 7.S18
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Verfahren wie Gracilis-, Glutaeus-, Vulvoperineal- oder Skapulalappen wurden vermehrt in den 1980er- und 1990er-Jahren beschrieben und werden heute seltener angewandt.
7.2.2.4.2 Vulvovaginale Rekonstruktion
Einwand gegen diese Methode ist die abnorme Lage der Vagina, der dadurch resultierende für den Koitus ungünstige Winkel, sowie ggf. die fehlende Lubrikation.
Konsensbasierte Empfehlung 7.E17
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Aufgrund von Narbenbildung, Komplexität und potenzieller Lappenverluste bleiben Lappenplastiken Patientinnen mit malignen Erkrankungen und daraus resultierender Notwendigkeit zur Exenteration oder anderen ausgedehnteren pelvinen Operationen vorbehalten. Für die Behandlung sollte eine entsprechende Expertise vorhanden sein.
Konsensbasiertes Statement 7.S19
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Williams beschrieb diese Technik als erster, bei der er einen externen Sack bildete, indem er die Labia majora so zusammennähte, dass sie eine kurze vertikale Vagina bildeten.
7.2.2.5 Darmscheiden
Nach Bildung eines Tunnels zwischen Rektum und Blase wird ein ausgeschaltetes Darmsegment als Schleife in die Neovagina gebracht und am Introitus befestigt [21].
Konsensbasierte Empfehlung 7.E18
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
In der Kinderurologie/-chirurgie stellt die Scheidenrekonstruktion mittels Darm bei komplexen urogenitalen Fehlbildungen eine etablierte Methode dar. Hierzu im Gegensatz ist diese OP-Methode aufgrund der hohen Komplikationsraten und der Größe des Eingriffs bei erwachsenen Patientinnen nur solchen mit primär onkologischen Fragestellungen oder nach ausgedehnten Voroperationen vorbehalten. Für die Behandlung sollte eine entsprechende Expertise vorhanden sein.
Konsensbasiertes Statement 7.S20
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Zur Anlage einer Darmscheide wurden bislang meist Ileum, Rektum und Sigma verwendet.
Nicht sinnvoll vor geplanter Uterustransplantation aufgrund erhöhter Infektionsgefahr bei Darmflora.
7.2.2.6 Operative Dehnung durch Zug
Vecchietti-Methode und Modifikationen
Durch Verbindung der Dehnungsolive über Zugfäden mit einem Spannapparat, der subumbilikal oder suprapubisch auf der Bauchdecke zu liegen kommt, kann der Zug täglich erhöht werden, sodass innerhalb von 4 – 7 Tagen eine Neovagina von 10 – 12 cm Länge erreicht wird [22], [23].
Konsensbasierte Empfehlung 7.E19
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Aufgrund der zahlenmäßigen Erfahrung mit wenigen Komplikationen weltweit stellt diese Therapie eine weitere primäre operative Methode bei angeborenen Fehlbildungen dar, da sie vor allem auch anwendbar ist bei assoziierten Nierenfehlbildungen und keine lebenslange Dilatation benötigt. Für die Behandlung sollte eine entsprechende Expertise vorhanden sein.
Konsensbasiertes Statement 7.S21
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Das Prinzip besteht darin, dass mithilfe einer Dehnungsolive oder eines Steckgliedphantoms passiver Zug auf das Vaginalgrübchen ausgeübt wird.
Anwendbar vor geplanter Uterustransplantation.
8 Fehlbildungen Zervix
8.1 Cervix duplex
(ESHRE/ESGE C1+2; VCUAM C1)
8.1.1 Spezielle Diagnostik
Kongenitale Anomalien der Zervix sind insgesamt sehr seltene Fehlbildungen.
Die Cervix duplex bezeichnet den kompletten Müllerʼschen Fusionsdefekt auf der Höhe der Zervix. Die Diagnose erfolgt durch klinische Untersuchung, Bildgebung mit Ultraschall und MRT sowie invasiv endoskopisch.
8.1.2 Therapie
Im Vordergrund steht die Therapie der Begleitfehlbildungen der Vagina und des Uterus.
Konsensbasierte Empfehlung 8.E20
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Therapeutisch steht die Korrektur von Begleitfehlbildungen (Uterus, Vagina) im Vordergrund. Eine Resektion einer Cervix duplex sollte nicht durchgeführt werden, aufgrund des nicht abzuschätzenden Risikos einer Zervixinsuffizienz in der Schwangerschaft.
Konsensbasiertes Statement 8.S22
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
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Unter Cervix duplex versteht man den kompletten Fusionsdefekt auf Höhe der Zervix.
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Anomalien der Zervix sind selten.
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Eine primäre Sterilität kann vorliegen.
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Das Belassen oder die Dissektion der Duplikatur sind beschrieben.
8.2 Zervixaplasie
(ESHRE/ESGE C3 + 4; VCUAM C2a/b)
8.2.1 Spezielle Diagnostik
Eine fehlende Zervix stellt das Vollbild der Zervixaplasie im Sinne einer kompletten Agenesie dar. Gefunden werden aber auch eine Obstruktion bei vorhandener Zervix, Zervixresiduen oder ein bindegewebiger Strang [24].
In Abhängigkeit von der Form der Fehlbildung besteht die Symptomatik in einer primären Amenorrhö oder Kryptomenorrhö mit zyklischen Unterbauchschmerzen bei obstruktiver Fehlbildung, sie kann auch ganz fehlen oder sich auf eine primäre Sterilität beschränken [25].
Die Diagnose erfolgt durch klinische Untersuchung, Bildgebung mit Ultraschall und MRT sowie invasiv endoskopisch.
8.2.2 Therapie
Die Therapie ist chirurgisch, entweder als Hysterektomie oder Rekonstruktion durch zervikozervikale bzw. uterovaginale Anastomose [21], [26].
Bei der Entscheidungsfindung müssen auch potenzielle Komplikationen bei Eintritt einer Schwangerschaft berücksichtigt werden, etwa eine mögliche Assoziation mit Plazentationsstörungen [27].
Konsensbasierte Empfehlung 8.E21
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Als temporärer konservativer Ansatz zur Unterdrückung der Endometriumproliferation soll eine medikamentöse Therapie verabreicht werden. Als Therapieoptionen können rekonstruktive Konzepte oder die Hysterektomie oder Hemihysterektomie erwogen werden. Es soll darüber aufgeklärt werden, dass auch nach einer Rekonstruktion eine erfolgreiche Schwangerschaft sehr selten ist.
Konsensbasiertes Statement 8.S23
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
-
Zervixaplasie bezeichnet das komplette Fehlen der Zervix; gefunden werden aber auch dysgenetische Formen mit unterschiedlicher Ausprägung einer Zervixanlage. Die Zervixaplasie kommt isoliert oder kombiniert mit anderen Müllerʼschen Fehlbildungen vor.
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Die klinische Symptomatik besteht je nach Ausprägung in primärer Amenorrhö oder Kryptomenorrhö mit zyklischen Unterbauchschmerzen, kann aber auch fehlen oder sich auf eine primäre Sterilität beschränken.