Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz
**** Ziegeler C, Schulte LH, May A. Altered trigeminal pain processing on brainstem
level in persistent idiopathic facial pain. Pain 2021; 162: 1374–1378
Patienten reagieren auf Schmerzreize mit gesteigerter Aktivierung im kaudalen Trigeminuskern.
Inhalt
Der anhaltende idiopathische Gesichtsschmerz (engl. persistent idiopathic facial pain,
PIFP) wurde früher atypischer Gesichtsschmerz genannt. Es handelt sich um eines der
am wenigsten erforschten Schmerzphänomene, obwohl die Prävalenz nicht gering ist (die
offizielle Prävalenz von unter 0,1 % ist sehr wahrscheinlich unterschätzt). Leider
ist diese Erkrankung nur wenig bekannt, sodass sie zu den häufigsten falsch negativen
Diagnosen im Kopf- und Gesichtsschmerzbereich gehört. In der hier vorgelegten Arbeit
sollte die trigeminale Schmerzverarbeitung beim PIFP untersucht werden. Dazu wurden
25 Patienten mit PIFP und 25 gesunde Kontrollen untersucht. Trigeminale Schmerzen
wurden durch die stoßweise Applikation von gasförmigem Ammoniak in das linke Nasenloch
evoziert. Im Schmerzmodell zeigten beide Gruppen dieselben Symptome, es bestand kein
signifikanter Unterschied in der Schmerzintensität von 0–10. Im Vergleich beider Gruppen
in der Aktivierung gemessen im fMRT zeigte sich jedoch ein signifikanter Unterschied,
nämlich eine ipsilaterale Aktivierung im spinalen Nucleus caudalis des Nervus trigeminus.
Im Übrigen wurde in beiden Gruppen die zerebrale Schmerzmatrix aktiviert. Die Autoren
schließen aus ihren Ergebnissen, dass es beim PIFP zu somatisch begründbaren Veränderungen
der trigeminalen Schmerzverarbeitung kommt, die jedoch durch andere Studien (z. B.
im Vergleich zum neuropathischen Gesichtsschmerz) genauer untersucht werden müssen.
Kommentar
Die Studie ist erst einmal ohnehin verdienstvoll, weil sie sich einer in der Forschung
bislang vernachlässigtem Schmerzerkrankung widmet. Sie ist aber auch verdienstvoll,
weil sie weitere Informationen über das Wesen dieser Erkrankung gibt. Zwar stellt
PIFP klinisch gesehen ein relativ klares Krankheitsbild dar, vor allem für diejenigen,
die häufiger solche Patienten sehen, es ist jedoch sehr umstritten, ob es sich um
eine Entität und um eine eher somatoform gestaltete Erkrankung oder um eine neurologische
Erkrankung handelt. Die Diskussion wird in ähnlicher Form beim Fibromyalgie-Syndrom
oder beim Burning-Mouth-Syndrom geführt. Diese Arbeit zeigt eindrücklich, dass es
beim PIFP zu spezifischen Aktivierungen in der trigeminalen Schmerzverarbeitung kommt,
es handelt sich dabei sehr wahrscheinlich um fazilitierende Prozesse und nicht um
inhibierende. Allerdings kann diese Studie nicht die Fragen beantworten, welche Bedingungen
letztlich zur Entstehung von PIFP beitragen. Hier bleibt zum einen offen, ob es sich
bei den beobachteten Veränderungen nicht um Folgen der Schmerzerkrankung selbst handelt
(im Sinne einer Plastizität) und nicht um deren primum movens. Zum anderen kann es
sein, dass die beobachteten Veränderungen eine notwendige (evt. weiter verbreitete),
aber nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung des PIFP darstellen. In jedem
Fall ist es sehr begrüßenswert, dass die hochwertige moderne Schmerzforschung nun
auch den PIFP erreicht hat.
Stefan Evers, Coppenbrügge
Die Auswirkung von Omega-3-Fettsäure-reichen Diäten auf Migräne
**Ramsden CE, Zamora D, Faurot KR, et al. Dietary alteration of n-3 and n-6 fatty
acids for headache reduction in adults with migraine: randomized controlled trial.
BMJ 2021; 374: n1448
Omega-3-Fettsäure-reiche Diäten führten bei Migräne-Patienten in einer doppelblind
randomisiert-kontrollierten Studie zu einem leichten Rückgang der Kopfschmerzfrequenz
ohne signifikante Verbesserung der Lebensqualität.
Hintergrund
Die Ernährung in Industrieländern zeichnet sich durch ein Überwiegen von Omega-6-Fettsäuren
(Linolsäure) gegenüber Omega-3-Fettsäuren (Eicosapentaensäure, EPA, und Docosahexaensäure,
DHA) aus. Diese Fettsäuren sind die Ausgangsprodukte für die Synthese bioaktiver Oxylipine,
die schmerzmodulatorische Effekte aufweisen (z. B. Prostaglandine, Leukotriene) [1]. Hinweise für den Einfluss von Oxylipinen auf die Migränepathophysiologie ergaben
sich durch humanexperimentelle Studien, in denen Migräneattacken durch Infusion von
Prostaglandinen induziert werden konnten [2]. Zudem wurde im Tiermodell eine erhöhte Erregbarkeit trigeminaler Neurone durch
Linolsäurederivate gezeigt [3]. Die Zusammensetzung der körpereignen Oxylipine kann durch Diäten mit niedrigem
Anteil an Omega 6 und hohem Gehalt an Omega-3-Fettsäuren beeinflusst und ihr Verhältnis
von pronozizeptiven zu antinozizeptiven Lipiden verschoben werden [4].
Zusammenfassung
Eine randomisiert-kontrollierte Doppelblindstudie aus den USA untersuchte die Auswirkung
diätischer Maßnahmen zur Erhöhung von Omega-3-Fettsäuren und Reduktion von Omega-6-Fettsäuren
auf Migräne. Hierzu wurden 182 Migräne-Patienten in 3 Gruppen randomisiert. Jedem
Teilnehmer wurden angepasst an die jeweilige Diät Öle und Butter mit der Anweisung
zur Verfügung gestellt, diese in einem Zeitraum von 16 Wochen so oft wie möglich für
die Zubereitung von Speisen zu verwenden und auf andere Fette möglichst zu verzichten.
Gruppe 1 erhielt eine Diät reich an Omega-3-Fettsäuren, Gruppe 2 erhielt eine Omega-3-reiche
und Omega-6-arme Diät und Gruppe 3 erhielt eine Zusammensetzung der Fettsäuren entsprechend
der durchschnittlichen Ernährung eines US-Bürgers (Kontrollgruppe). Eingeschlossen
wurden Patienten mit episodischer oder chronischer Migräne (durchschnittliche Kopfschmerzfrequenz
der Probanden: 16 Tage/Monat) mit und ohne Schmerzmittelübergebrauch und unabhängig
vom Einsatz einer prophylaktischen Medikation. Die Studie verfehlte ihren primären
Endpunkt zur signifikanten Verbesserung des Hit-6-Scores nach Abschluss der 16-wöchigen
Diät. Eine Auswertung der Kopfschmerztagebücher zeigte eine Reduktion von 4 Kopfschmerztagen
im Monat bei Gruppe 2 und 2 Kopfschmerztagen im Monat bei Gruppe 1 im Vergleich zu
der Kontrollgruppe. Allerdings wirkte sich die Reduktion der Kopfschmerztage nur geringfügig
auf die Einnahmefrequenz der Akutmedikation (leichter Effekt für NSAR, kein Effekt
für Triptane) aus. Im Blut ließ sich zwar die erzielte Erhöhung von EPA und DHA unter
der Diät von Gruppe 1 und 2 nachweisen, es fanden sich jedoch keine Veränderungen
klassischer schmerzassoziierter Entzündungsmediatoren wie Prostaglandine, Leukotriene
oder CGRP.
Kommentar
Die vorgestellte Studie untersucht mit aufwendigem Design die Wirksamkeit von diätetischen
Maßnahmen zur Veränderung der Bioverfügbarkeit von Omega-3-Fettsäuren auf Migräne.
Aus ernährungswissenschaftlicher Perspektive ist das Studiendesign bestmöglich geplant
und umgesetzt. Die Auswahl des Patientenkollektivs, der erhobenen migränespezifischen
klinischen Parameter und Endpunkte zählt jedoch zu den Schwächen der Studie und trägt
zu der limitierten Aussagekraft der Daten bei. So wurden aufgrund der schleppenden
Rekrutierung der Studie die Einschlusskriterien von der episodischen Migräne nachträglich
auf Patienten mit chronischer Migräne erweitert, die letztlich die Mehrheit der Studienpatienten
(67 %) ausmachten. 56 % der Probanden wiesen einen Schmerzmittelübergebrauch auf,
wovon sich ein verhältnismäßig größerer Anteil in der Kontrollgruppe befand. Patienten
wurden ungeachtet der Einnahme einer kopfschmerzprophylaktischen Medikation bzw. eines
Medikamentenwechsels innerhalb des 4-monatigen Beobachtungszeitraums eingeschlossen.
Insgesamt kann die Reduktion der Kopfschmerztage in der Diätgruppe somit nicht sicher
auf die alleinige Wirkung der diätetischen Maßnahme zurückgeführt werden. Darüber
hinaus werden leider keine genaueren Angaben über die langfristige Praktikabilität
und Verträglichkeit der Diäten für die Patienten gemacht. In diesem Zusammenhang fällt
ein erhöhter Anteil von Studienabbrechern bei Gruppe 2 im Vergleich zur Kontrollgruppe
auf (25 vs. 16 %). Aufgrund der genannten methodischen Mängel können aus der Studie
keine generellen Behandlungsempfehlungen für Migränepatienten abgeleitet werden.
Victoria Ruschil, Tübingen
Real-world-Daten zum Erfolg einer Therapiepause von CGRP(R)-Antikörpern
*** Gantenbein AR, Agosti R, Gobbi C, et al. Impact on monthly migraine days of discontinuing
anti-CGRP antibodies after one year of treatment – a real-life cohort study. Cephalalgia
2021: 3331024211014616. doi:10.1177/03331024211014616
90 % der Patienten beginnen nach 3 Monaten wieder mit der CGRP(R)-Antikörpertherapie
Hintergrund
Die Einführung von Antikörpern gegen Calcitonin gene-related peptide (CGRP) bzw. den
CGRP-Rezeptor (CGRP-Antikörper) haben die prophylaktische Pharmakotherapie der Migräne
revolutioniert [1]. In der aktuellen Leitlinie wird bei Therapieansprechen innerhalb der ersten 3 Therapiemonate
eine Fortsetzung für weitere 6–9 Monate empfohlen, um anschließend in einer Therapiepause
zu überprüfen, ob weiterhin eine Indikation zur Prophylaxe besteht [2]. Die Studie liefert wichtige Real-world-Daten zur Abschätzung, ob und wie lange
eine Remission nach einer 12-monatigen Therapie mit CGRP-Antikörpern zu erwarten ist.
Zusammenfassung
Es handelt sich um eine Beobachtungsstudie der Routinebehandlung von Patienten mit
episodischer (EM) und chronischer Migräne (CM) in der Schweiz. Die Verordnung von
CGRP-Antikörpern ist in der Schweiz nur für Neurologen möglich; zudem sind ein Versagen,
eine Kontraindikation oder fehlende Verträglichkeit von mindestens 2 zugelassenen
oralen Prophylaxen (Betablocker, Kalziumantagonisten, Antikonvulsiva) sowie mindestens
8 Migränetage/Monat (MMD) gefordert. Nach spätestens 12 Monaten muss pausiert werden,
bei Wiederanstieg auf ≥ 8 MMD kann die Therapie nach 3 Monaten Pause wieder begonnen
werden.
Es wurden 52 Patienten (47 weiblich, 48 ± 12 Jahre alt, 21 mit CM, 4 mit Kopfschmerz
bei Medikamentenübergebrauch, MOH) eingeschlossen, die 14 ± 7 MMD (EM) bzw. 20 ± 5
MMD (CM) aufwiesen (5 Studienzentren, 51 Erenumab, 1 Galcanezumab). Nach 12 Monaten
kam es zu einer signifikanten Reduktion der Migränefrequenz auf 5 ± 4 MMD in beiden
Gruppen (EM, n = 31; CM, n = 20). 45/52 Patienten begannen nach 12 Monaten eine Therapiepause.
Im ersten, zweiten und dritten anschließenden Monat stieg die Migränefrequenz auf
8 ± 4, 9 ± 5 und 12 ± 6 MMD (EM, n = 14 im 3. Monat) bzw. 5 ± 3, 8 ± 4 und 11 ± 4
MMD (CM, n = 14 im 3. Monat). Nach durchschnittlich 13 ± 3 Wochen Therapiepause begannen
89 % (n = 40/42, 3 nicht berichtet) der Patienten erneut eine Therapie mit CGRP-Antikörpern.
Nach Wiederbeginn reduzierte sich die Migränefrequenz wieder auf 7 ± 5 MMD (EM, n
= 8) bzw. 5 ± 3 MMD (CM, n = 9). Die Autoren berichten abschließend, dass alle bis
auf einen Patienten, die nach 1 oder 2 Monaten Therapiepause wieder ≥ 8 MMD hatten,
auch nach dem 3. Monat wieder ≥ 8 MMD hatten.
Die Autoren diskutieren, ob das Festhalten an einer Therapiepause nach spätestens
12 Monaten anhand ihrer Daten gerechtfertigt ist. Während die MMD im 3. Monat der
Therapiepause durchschnittlich um 25 % reduziert blieben, erreichten 50 % der Patienten
vergleichbare oder höhere MMD im Vergleich zur Baseline. Somit würden die ökonomischen
Nachteile der Krankheitslast die ökonomischen Vorteile einer Therapiepause überwiegen.
Therapiepausen sollten zudem so kurz wie möglich gehalten werden, da ein Anstieg auf
8 MMD bereits im 1. bzw. 2. Monat prädiktiv für das Erreichen dieser Grenze nach 3
Monaten ist. Als mögliche Mechanismen eines anhaltenden Therapieeffekts spekulieren
die Autoren die Auflösung eines MOH, Reduktion der zentralen Sensitisierung und Optimierung
nicht medikamentöser Therapieverfahren durch Ressourcenaktivierung.
Kommentar
Die vorliegende Studie liefert wichtige Real-world-Daten, die sich mit denen der Therapiepause
bei Patienten mit CM im Studienkontext decken [3]. Die Übertragbarkeit der Daten auf den deutschen Markt ist leider aufgrund der unterschiedlichen
Verordnungsrichtlinien eingeschränkt. Zudem merken die Autoren selbst an, dass möglicherweise
ein Selektionsbias zu besonders schwer betroffenen Patienten besteht, da die nach
der Zulassung der Antikörper zuerst behandelten Patienten eingeschlossen wurden. Diese
Einschränkungen berücksichtigend, und die Unmöglichkeit durch die anonyme Datenerfassung
für Confounder zu kontrollieren (z. B. Begleitmedikation, Komorbiditäten, psychosoziale
Faktoren), lässt die Fallzahl von 34 bzw. 28 Patienten, die im 1. bzw. 3. Monat der
Therapiepause zur Verfügung standen, zu gering erscheinen, um abschließende Schlüsse
zu ziehen. In einer Real-world-Studie ist außerdem ein Nocebo-Effekt durch das Absetzen
der Therapie nicht auszuschließen. Dennoch sind die Daten hoch relevant, da sie an
einer unselektierten Kohorte belegen, dass eine Wirksamkeit während der Therapie nicht
zwangsläufig mit einem krankheitsmodifizierenden Effekt gleichgesetzt werden kann.
Darüber hinaus sind strenge zeitliche Therapiegrenzen nicht nur biologisch unplausibel,
sondern auch in der Praxis wenig hilfreich. Letztlich unterstreicht dies den Bedarf
nach Biomarkern, die im Sinne einer individualisierten Medizin helfen, therapeutische
Entscheidungen zu lenken. Was wäre wohl die Kardiologie ohne EKG, Ultraschall oder
Troponin?
Robert Fleischmann, Greifswald
INFORMATION
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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete
Übersicht bietet
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Gute experimentelle oder klinische Studie
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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter
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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen
Mängeln
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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln
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Die Kopfschmerz-News werden betreut von: Priv.-Doz. Dr. Ruth Ruscheweyh, Klinik und
Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Universität München, Marchioninistr. 15, 81377
München, Tel. 089/440073907, ruth.ruscheweyh@med.uni-muenchen.de
Sie wird dabei unterstützt von Dr. Thomas Dresler, Tübingen (Bereich Psychologie und
Kopfschmerz), PD Dr. Gudrun Goßrau, Dresden (Bereich Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen)
und Dr. Katharina Kamm, München (Bereich Clusterkopfschmerz).
Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen
Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.