Schlüsselwörter
Wohnen - psychiatrische Rehabilitation - Modelltreueskala
Keywords
housing - psychiatric rehabilitation - fidelity scale
Einleitung
Die Situation des Wohnens für Menschen mit lang anhaltenden psychischen Erkrankungen
hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in den Ländern der westlichen Welt massiv
gewandelt [1]. Nach der Deinstitutionalisierung der Versorgung und der Enthospitalisierung sogenannter
Langzeitpatientinnen und -patienten ab den 1980er-Jahren wurden zahlreiche Wohnheime,
Wohngemeinschaften und betreute Wohnplätze errichtet. Ein abermaliger Wandel stellte
sich ab dem Beginn der 2010er-Jahre ein, als das selbstbestimmte Wohnen in der eigenen
Wohnung mit einer stundenweisen professionellen Unterstützung immer populärer wurde.
Damit verbunden war ein Richtungswechsel in den Zielen der Wohnunterstützung, die
sich – ebenso wie andere Bereiche der psychiatrischen Versorgung – nunmehr die Recovery-
und Inklusionsorientierung zu eigen machte [2]. Gestützt wurde dieser abermalige Wandel vor allem in Deutschland durch veränderte
gesetzliche Vorgaben und international durch große Studien im Bereich der Menschen
mit psychischen Erkrankungen in Obdachlosigkeit, die ergeben haben, dass viele Betroffene
selbst nach Jahren des Lebens auf der Straße in der Lage waren, in der eigenen Wohnung
zurechtzukommen und ein stabiles Leben zu führen [3]
[4].
Systematische Übersichtsarbeiten zu den Auswirkungen verschiedener Wohnformen, und
hier insbesondere bezüglich des Vergleichs zwischen stationärem Wohnen und Unterstützung
in der eigenen Wohnung, haben keine Nachteile für das Leben außerhalb von Einrichtungen
gefunden [5]
[6]
[7]. Zudem besteht eine klare Präferenz der Nutzenden, die in einschlägigen Studien
zu mehr als 80 % den Wunsch äußerten, nicht in einem Heimsetting zu leben [8]. Diese Präferenz steht im Einklang mit der UN-Konvention für Rechte von Menschen
mit Behinderungen, die in Artikel 19 zum Ausdruck bringt, dass Menschen mit Behinderungen
das Recht haben sollen, ihren Wohnort frei zu wählen und nicht verpflichtet sind,
in besonderen Wohnformen zu leben [9].
Das selbstbestimmte Wohnen mit Unterstützung hat viele Gemeinsamkeiten mit Wohnformen
wie dem Ambulant Betreuten Wohnen in Deutschland oder mit dem Betreuten/Begleiteten
Wohnen in der Schweiz. Allerdings kann ein wirklich selbstbestimmtes Wohnen in zentralen
Merkmalen über diese Wohnformen hinausgehen. Bis anhin fehlen jedoch im deutschsprachigen
Raum Kriterien, nach denen beurteilt werden kann, ob selbstbestimmtes Wohnen vorliegt.
Dies ist insbesondere auch dann von Bedeutung, wenn Wohnsettings in ihrer Wirkung
wissenschaftlich untersucht und verglichen werden. Hierzu braucht es zwingend transparente
und messbare Kriterien [10]. Nachfolgend werden die Entwicklung und die Überprüfung einer Modelltreueskala beschrieben,
welche diese Kriterien misst.
Methode
Modelltreueskalen haben sich in der psychiatrischen Rehabilitation vor allem im Bereich
der Arbeitsrehabilitation für Supported-Employment-Programme durchgesetzt und als
prädiktiv für den Programmerfolg herausgestellt [11]
[12]. Im Bereich des Wohnens sind bis anhin nur Instrumente in nordamerikanischen Studien
bei Menschen in Obdachlosigkeit entwickelt worden (z. B. [13]
[14]). Aufgrund der unterschiedlichen Sozialsysteme und der veränderten Anforderungen
bei Menschen in Obdachlosigkeit, wurde auf eine Adaption der nordamerikanischen Skalen
verzichtet und stattdessen unter Berücksichtigung der vorhandenen Instrumente eine
Entwicklung für die hiesigen Anforderungen vorgenommen.
Im Rahmen einer länderübergreifenden Kooperation wurde die Skala im Rahmen zweier
Forschungsprojekte entwickelt und getestet, die Wohnsettings in ihren Auswirkungen
vergleichen. Dabei handelt es sich zum einen um eine Beobachtungsstudie, die von den
v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel/Bielefeld durchgeführt wurde [15] und zum anderen um eine randomisierte kontrollierte sowie eine Beobachtungs-Interventions-Studie
an den psychiatrischen Universitätskliniken in Zürich und Bern [16]. Beide Projekte untersuchen, ob das unterstützte Wohnen in der eigenen Wohnung oder
in besonderen (stationären) Wohnformen zu unterschiedlichen Resultaten im Längsschnitt
über einen Zeitraum von 24 Monaten führt. Beide Projekte werden mit denselben Erhebungsinstrumenten
durchgeführt.
In einer multiprofessionellen Arbeitsgruppe wurde eine Modelltreueskala entwickelt.
Sie basiert in Teilen auf relevanten Items der Fidelity-Skalen von Einrichtungen für
Menschen in Obdachlosigkeit [13]
[14] sowie auf einer britischen Arbeit über Merkmale von unterstützten Wohnsettings [17]. Nach der Neuformulierung der Merkmale für die Verhältnisse im deutschsprachigen
Raum wurde die Skala unter Einbezug von Expertinnen und Experten mit Erfahrung sowie
mittels einer Delphibefragung von professionellen Expertinnen und Experten zunächst
einem Prätest und dann in einer Vollerhebung in persönlichen und telefonischen Interviews
mit Leitungspersonen in Einrichtungen des Wohnens für Menschen mit psychischen Erkrankungen
in Deutschland und in der Schweiz angewendet. Mittels eines Vergleichs von Unterstützungsdiensten
in der eigenen Wohnung (nachfolgend UEW) mit besonderen Wohnformen, die eher dem stationären
Wohnen zuzuordnen sind (nachfolgend BesWF), wurde die Skala auf diskriminative Validität
geprüft. Hierzu wurden die Werte der Items in einer Summe aufaddiert. Die Datenerhebung
erfolgte telefonisch. Es wurden Daten über 75 Settings in Deutschland und 12 Settings
in der Schweiz erhoben. Von den 87 Settings entfielen 33 auf den BesWF-Bereich und
54 auf den UEW-Bereich. Die Durchführung der Studien wurde von den zuständigen Ethikkommissionen
in der Schweiz (Swissethics, Nr. 2018–0238) und in Deutschland (Universität Münster,
Nr. 2017-149-f-S) genehmigt.
Ergebnisse
Die neu entwickelte Modelltreueskala umfasst 31 Aussagen (s. online unter:
http://osf.io/ztj6d/
). Die Aussagen werden auf einer 5-stufigen Likertskala als Rating beantwortet («trifft
voll zu – trifft eher zu – teils/teils – trifft eher nicht zu – trifft gar nicht zu»)
und sind endpunktbenannt. Die Endpunkte verbalisieren ein Optimum und ein Pessimum.
Beispielsweise lautet das Optimum (trifft zu) bei der Variable «Wahlfreiheit der Wohnform»:
Dies bedeutet: alle Nutzenden haben volle Wahlfreiheit bei der Auswahl der Wohnform. Für das Pessimum (trifft gar nicht zu) lautet die Benennung der Ausprägung: Dies bedeutet: keine Nutzenden haben volle Wahlfreiheit bei der Auswahl der Wohnform. Maximal könnten auf der Summenskala 155 Punkte erzielt werden. Die Skala ist unterteilt
in 4 theoretische Bereiche: Wohnbedingungen, Mitarbeitende/Team, Unterstützungsbedingungen,
Inklusionsorientierung.
UEW-Angebote wiesen in der nicht normalverteilten Summenskala (Shapiro-Wilk-Test w = 0,9644;
p = 0,017) insgesamt eine leicht bessere Modelltreue auf als BesWF-Angebote (Mittelwerte:
UEW – 128,8 vs. BesWF – 124,6: Mediane: UEW – 130 vs. BesWF – 125). Auf der Basis
des 95 %-Konfidenzintervalls sind diese Unterschiede im Wilcoxon-Rangsummen-Test signifikant
([
Tab. 1
]). Hinsichtlich der 4 oben genannten theoretischen Bereiche zeigte sich, dass UEW-Angebote
bei den Wohnbedingungen und der Inklusionsorientierung eine signifikant höhere Modelltreue
aufwiesen, nicht jedoch im Bereich Mitarbeitenden/Team sowie im Bereich der Unterstützungsbedingungen,
wo sich keine Unterschiede ergaben. Zu beachten ist dabei, dass es sich bei den genannten
Bereichen nicht um durch psychometrische Verfahren gebildete Subskalen handelt, sondern
um fachlich-theoretische Zusammenhänge.
Tab. 1
Kennwerte im Vergleich zwischen Unterstützungsangeboten in der eigenen Wohnung und
besonderen Wohnformen.
|
Unterstützungsangebote in der eigenen Wohnung
N = 54
|
besondere Wohnformen
N = 33
|
Wilcoxon-Rangsummen-Test[**] (95 %-Konfidenzintervall)
|
Gesamtskala (Mittelwert/Median)
|
128,8/130
|
124,6/125
|
– 4,99 (– 7,99 bis – 1,99)
|
Bereich Wohnbedingungen (Mittelwert/Median 6 Items)[*]
|
4,1/4,3
|
3,5/3,5
|
– 0,66 (– 0,99 bis – 0,50)
|
Bereich Mitarbeitende/Team (Mittelwert/Median 4 Items)[*]
|
3,5/3,5
|
3,7/3,5
|
0,25 (– 0,00003–0,49)
|
Bereich Unterstützungsbedingungen (Mittelwert/Median 15 Items)[*]
|
4,2/4,2
|
4,3/4,3
|
0,06 (– 0,06–0,19)
|
Bereich Inklusionsorientierung (Mittelwert/Median 6 Items)[*]
|
4,5/4,5
|
4,2/4,2
|
– 0,33 (– 0,49 bis – 0,00001)
|
* dividiert durch die Anzahl der Items
** Difference in location
Diskussion
Die hier entwickelte Skala beschreibt erstmalig für den deutschsprachigen Raum Kriterien
für eine Modelltreue für selbstbestimmtes Wohnen mit Unterstützung in Angeboten der
psychosozialen Versorgung außerhalb der Einrichtungen für Menschen in Obdachlosigkeit.
Aus methodischer Sicht haben Modelltreueskalen verschiedene Limitationen aufzuweisen.
Da die Analyseeinheit (‘unit of analysis’) nicht eine Person, sondern ein Angebot
psychiatrischer Dienstleistungen ist, fallen die Stichproben in der Regel recht klein
aus, was die statistischen Möglichkeiten erheblich einschränkt.
Zudem sind gerade Fidelity-Skalen nicht notwendigerweise intern konsistent [12], was üblicherweise mit einem Maß wie Cronbach’s Alpha demonstriert wird. Wenn, wie
auch im Falle dieser Skala, zahlreiche Dienste einzelnen Kriterien nicht entsprechen,
korrelieren die Items relativ schlecht. Während bei anderen Skalen dann in der Regel
über den Ausschluss dieser Items nachgedacht wird, stellt sich diese Frage bei Modelltreueskalen
eher nicht, da gerade diese Items aus fachlich-inhaltlicher Sicht von Bedeutung sind.
Eine weitere Limitation besteht darin, dass aus Ressourcengründen nur ein Interview
pro Einrichtung oder Dienst geführt werden konnte, was eine Überprüfung der Interraterreliabilität
nicht möglich machte.
Abweichend von anderen Modelltreueskalen in der psychiatrischen Rehabilitation wurden
die Items endpunktbenannt, während in anderen Skalen oftmals jede Ausprägung beschriftet
wird. Endpunktbenannte Fidelity-Skalen sind jedoch beispielsweise in der Überprüfung
der Modelltreue bei psychotherapeutischen Verfahren nicht unüblich (s. etwa [18]).
Die Resultate hinsichtlich der Unterschiede zwischen Unterstützung in der eigenen
Wohnung und besonderen Wohnformen fallen in etwa in der erwarteten Richtung aus. Selbstbestimmtes
Wohnen mit Unterstützung erlaubt mehr Wahlfreiheit und Inklusionsorientierung als
ein Leben im stationären Setting. Dagegen stehen die Stabilität und Umfänglichkeit
der Versorgung (etwa 24-Stunden-Erreichbarkeit) der stationären Einrichtungen, die
viele aufsuchende Dienste nicht in dem gleichen Maße sicherstellen können. Deutlich
wurde zudem, dass vor allem im Bereich Mitarbeitende/Team Verbesserungsbedarf unabhängig
vom Wohnsetting besteht. Dies betrifft etwa die Mitarbeit von Expertinnen und Experten
aus Erfahrung oder aber die Qualifikation von Mitarbeitenden hinsichtlich Gesprächsführung
und Deeskalation. Es bestätigte sich auch in diesen Daten, dass nicht die Wohnform
an sich den Unterschied macht, sondern bestimmte Qualitäten der Wohnunterstützung,
hier etwa die Wahlfreiheit.
Die Modelltreueskala Selbstbestimmtes Wohnen bedarf zweifelsohne weiterer Anwendungen
und Überprüfungen ihrer psychometrischen Eigenschaften. Die Skala, inklusive aller
Materialien, steht der interessierten Öffentlichkeit frei zur Verfügung und kann über
folgende Webseite heruntergeladen werden: http://osf.io/ztj6d/.