Dirk Richter
Simeon Zürcher
„Das postvirale Syndrom ist eine Mischung aus organischer und psychiatrischer Erkrankung,
und die definitive Bestätigung einer viralen Ätiologie wird die psychiatrischen Symptome
der Betroffenen nicht verringern.“ Zu diesem Schluss kam bereits ein Übersichtsartikel
über psychische Probleme nach einer Viruserkrankung aus dem Jahr 1987 [1]. Und auch nach der letzten großen Ebola-Epidemie wurde berichtet, dass ungefähr
ein Viertel aller Überlebenden dieser sehr tödlichen Infektion unter Angst- und Depressionssymptomen
sowie unter erheblichen kognitiven Problemen litten [2]. Allerdings wurde allgemein von einer Unterschätzung der psychischen Auswirkung
der Epidemie ausgegangen. Im Großen und Ganzen haben diese Befunde Gültigkeit für
die Long-COVID-Problematik.
Das Long-COVID-Syndrom (auch Post-COVID-/Post-Akut-Syndrom genannt) ist also keine
Besonderheit im Rahmen des weltweiten Infektionsgeschehens mit SARS-CoV-2. Postvirale
Probleme generell sowie psychische Probleme im Speziellen waren vorherzusehen. Umso
überraschender ist die initial geringe Aufmerksamkeit für diese Thematik, die auch
bei den Begründungen des Lockdowns im Jahr 2020 keine Rolle spielte [3]. Möglicherweise jedoch wird das Long-COVID-Syndrom eine der großen Herausforderungen
für die Gesundheitssysteme und Sozialversicherungen in den kommenden Jahren werden.
Epidemiologie psychischer Long-COVID-Probleme
Epidemiologie psychischer Long-COVID-Probleme
Das Long-COVID-Syndrom ist ein Krankheitsgeschehen, das nahezu sämtliche Organe des
menschlichen Körpers befallen kann. Neben dem respiratorischen System sind insbesondere
das Nervensystem, das kardiovaskuläre System und das gastrointestinale System betroffen
[4]. Bemerkenswert sind darüber hinaus die Auswirkungen auf das allgemeine Wohlbefinden
und die Lebensqualität, die extrem vermindert sein kann. Ein entscheidender Faktor
ist hier neben den Erkrankungen der bereits genannten Organsysteme die für Infektionserkrankungen
typische Erschöpfung und Müdigkeit, welche üblicherweise als Fatigue bezeichnet wird.
Auch die Fatigue, die oft zusammen mit körperlichen Problemen und psychischen Störungen
auftritt, ist von früheren Epidemien bereits bekannt gewesen [5].
Bezüglich der Epidemiologie postviraler psychischer Probleme stellen sich diverse
methodische Herausforderungen. Zunächst einmal muss geklärt sein, ab welchem Zeitpunkt
von Long-COVID gesprochen werden kann. Einem kürzlichen Vorschlag aus Großbritannien
folgend, halten wir eine Phasenfolge von akut (bis 4 Wochen), andauernd (4–12 Wochen) und Post-Erkrankung (mehr als 12 Wochen) für angemessen [6]. Weitgehend fehlend sind klare Standardisierungen bezüglich Assessment und Diagnostik
von Long-COVID. Diese würden sowohl für die Forschung als auch für die Dokumentation
in Behandlung und Rehabilitation von großer Bedeutung sein, wo gegenwärtig zum Teil
widersprüchliche Daten berichtet werden. Sodann besteht eine weitere Herausforderung
darin, die erheblichen Qualitätsunterschiede in den epidemiebezogenen Psychiatriepublikationen
zu minimieren. Epidemiologische Übersichten haben hier sowohl hinsichtlich früherer
Epidemien [7] als auch bei COVID-19 [8] massive Diskrepanzen berichtet.
Im Rahmen einer als Preprint veröffentlichten Metaanalyse haben wir die in [
Tab. 1
] dargestellten gepoolten Prävalenzen für postvirale psychische Probleme ermittelt
[9]. Milde psychische Probleme (z. B. Cut-offs PHQ-9 oder GAD-7 ≥ 5) wurden in der Post-Erkrankungsphase
von 39 % der infizierten Personen berichtet. Schwerere psychische Probleme (Cut-off ≥ 10)
wurde bei 19 % der infizierten Patientinnen und Patienten nach 12 und mehr Wochen
festgestellt. Die Resultate für einen Long-COVID-Verlauf nach einer Infektion mit
dem Coronavirus unterschieden sich nicht generell von früheren Epidemien. Speziell
über Long-COVID-Verläufe ist jedoch bekannt, dass es einen Zusammenhang mit der Schwere
der COVID-19-Erkrankung gibt (beispielsweise Hospitalisation und Intensivbehandlung)
und dass Frauen eher davon betroffen sind [10]
[11].
Tab. 1
Gepoolte Prävalenzraten postviraler psychischer Probleme; Quelle: [9].
|
milde Symptomatik (Prozent, 95 %-Konfidenzintervall)
|
moderate bis schwere Symptomatik (Prozent, 95 %-Konfidenzintervall)
|
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akut
|
46,3 (39,0–53,8)
|
22,3 (17,3–27,8)
|
|
andauernd
|
35,5 (18,7–54,3)
|
17,3 (10,7–25,1)
|
|
Post-Erkrankung
|
38,8 (33,6–44,1)
|
18,8 (23,4–25,0)
|
Mögliche Ursachen psychischer Long-COVID-Probleme
Mögliche Ursachen psychischer Long-COVID-Probleme
Angesichts der Vielfältigkeit und der teils geringen Spezifität der Symptome, die
sich auf ein allgemeines Unwohlsein und eine verminderte Lebensqualität beziehen,
steht die Ursachenforschung noch am Anfang. Aktuell sehen wir die folgenden ursächlichen
Konstellationen. (1) Auf der biologischen Ebene sind inflammatorische Prozesse als
Reaktion auf die Infektion bekannt für neuropsychiatrische Konsequenzen. Ein solcher
Zusammenhang ist verschiedentlich für depressive Störungen und kognitive Funktionseinbußen
berichtet worden [12]. (2) Psychische und biologische Prozesse werden zusammen mit sozialen Erfahrungen
gemeinhin für ein sog. Post-Intensivbehandlungs-Syndrom (Post-ICU-Care-Syndrome) verantwortlich gemacht. Dies beschreibt, unabhängig von der Pathophysiologie, die
Auswirkungen nach einem lebensbedrohlichen Ereignis wie der Intensivbehandlung, die
womöglich noch mit einer maschinellen Beatmung einhergeht. Angst, Depression, posttraumatisches
Erleben, aber auch Delir und Demenz, können mit einem solchen Syndrom verbunden sein
[13]. Die erhebliche Prävalenz covidbedingter Intensivbehandlungen trägt vermutlich sehr
zu dieser Belastung bei. (3) Psychische Probleme können sich vermutlich jedoch auch
ohne die zuvor genannten Konstellationen im Rahmen einer Long-COVID-Erkrankung entwickeln.
Sie sind einer großen amerikanisch-britischen Studie zufolge weniger deutlich an Biomarker
gebunden als etwa neurologische Krankheitsbilder [14]. Es ist leicht vorstellbar, dass die Erfahrung permanenter Atemprobleme, Erschöpfung,
Müdigkeit und kognitiver Einschränkungen zu depressiven oder ängstlichen Reaktionen
mit der Frage führen kann, ob das frühere Leben jemals wieder zurückkehrt. (4) Nicht
unwahrscheinlich sind darüber hinaus verschiedene Kombinationen der zuvor genannten
Konstellationen.
Psychiatrischer Rehabilitationsbedarf bei Long-COVID
Psychiatrischer Rehabilitationsbedarf bei Long-COVID
Die in der Literatur berichteten Daten über die Prävalenz und die andauernden Einschränkungen
durch covidbedingte körperliche und psychische Probleme legen nahe, dass mit einer
erheblichen Beeinträchtigung und vermutlich auch mit sozialrechtlich relevanter Behinderung
gerechnet werden muss. Für Großbritannien wird etwa davon ausgegangen, dass 30 % der
covidbedingten Krankheitslast (burden of disease) nicht durch Mortalität, sondern durch Behinderung verursacht wird [15]. In der Konsequenz bedeutet dies sowohl einen aufwendigen somatischen wie auch einen
entsprechenden psychiatrischen resp. neuropsychiatrischer Rehabilitationsbedarf. Dieser
bezieht sich gemäß einer schwedischen Studie insbesondere auf Problemlagen der Müdigkeit
und Konzentrationsfähigkeit [16].
Angesichts der zu erwartenden Kosten für Krankheitsausfall, Rehabilitation und vermutlich
Berentung ist mit einer massiven Diskussion um die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten
der psychischen Folgen des Long-COVID zu rechnen. Schon jetzt zeichnet sich dies analog
zur Diskussion um das Chronic Fatigue Syndrome (CFS) im angelsächsischen Raum ab [17]. Aber auch die Psychiatrie im D-A-CH-Raum wird sich damit auseinandersetzen müssen,
unter anderem aufgrund gutachterlicher Fragestellungen [18]. Es bleibt zu hoffen, dass die hohe Krankheitslast den Anstoß dazu gibt, hierzulande
die notwendigen Forschungsanstrengungen zu finanzieren, die es braucht, um viele dieser
Fragen zu Long-COVID zu klären.