Bereits vor der Corona-Pandemie gehörten seelische Störungen weltweit zu den häufigsten
Erkrankungen überhaupt, wobei Ängste und Depressionen wiederum den Hauptteil davon
ausmachten. Dies hatte nicht zuletzt die im Fachblatt Lancet publizierte Studie „Global Burden of Diseases, Injuries, and Risk Factors Study (GBD)“ aus dem Jahr 2019 gezeigt [20], [21]. Die zusätzlichen Auswirkungen der seit dem Frühjahr 2020 in mehreren Wellen verlaufenden
Corona-Pandemie lassen sich daher recht gut erfassen, denn man hat Vergleichsdaten
aus dem Jahr unmittelbar davor. Hierbei sind nicht nur die direkten Auswirkungen der
Krankheit COVID-19 (und der Angst, daran zu erkranken) zu berücksichtigen, sondern
auch die indirekten Effekte der Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens:
Körperlicher Abstand und soziale Einschränkungen, Schul- und Geschäftsschließungen,
Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und drohender oder tatsächlicher Verlust des Lebensunterhalts
oder gar der Existenzgrundlage. Die Weltbevölkerung erlebt seit fast 2 Jahren einen
kaum je dagewesenen völligen Kontrollverlust gegenüber einem kleinen Viruspartikel.
War noch im Frühjahr/Frühsommer 2021 ein Rückgang der Sorgen und Ängste zu verzeichnen,
so machte die neue ansteckendere Variante des Virus dem ein rasches Ende. Bekanntermaßen
führt Unsicherheit bei Menschen zu Stress, insbesondere dann, wenn sie Sicherheit
gewohnt sind. Dies kann bekanntermaßen die psychische Gesundheit von Menschen erheblich
beeinträchtigen und längerfristig zu „gelernter Hilflosigkeit“ führen, einer der wesentlichen psychologischen Ursachen von Angst, Stress und vor
allem Depressionen. Hinzu kommt das immer stärkere Gewahr- und Bewusstwerden der Folgen
des Klimawandels in breiten Schichten der Bevölkerung: Diese zweite Krise, viel größer
als Corona, ist in den Köpfen der Menschen angekommen. Was macht das Erleben zweier
Krisen mit uns? – Seit dem Beginn der Corona-Pandemie wird über deren Auswirkungen
in der medizinischen Fachliteratur berichtet. Hinzu kamen dieses Jahr Berichte und
Arbeiten zu Eco-Angst und zu den längerfristigen Auswirkungen des Durchlebens der mit beiden Krisen einhergehenden
negativen Gefühle. Was also weiß man darüber?
Corona, Depression, Trauer und Angst
Corona, Depression, Trauer und Angst
Nach der ersten Corona-Welle wurde im Sommer 2020 eine Zunahme von Depressionen und
Angststörungen bei jungen Frauen in Studien beschrieben, sowohl in Deutschland [17] als auch in Großbritannien [4]. Interessant ist, dass bereits damals die psychologischen Folgen der Pandemie deutlich
im Bewusstsein vor allem junger Menschen präsent war: Wie wäre es sonst zum Jugendwort
des Jahres 2020 – „lost“ (Englisch für „verloren“) gekommen [1]?[
1
] Tatsächlich hatten die beiden genannten Studien gezeigt, dass jüngere Menschen stärker
betroffen waren als ältere und Frauen stärker als Männer. Bereits im Mai 2021 publizierte
die britische Resolution Foundation ihren Bericht „Double Trouble“, als Auftakt zu ihrem neuen 3-jährigen Projekt mit dem bezeichnenden Titel „Young
People in an Insecure World“ ([
Abb. 1
]). Aufgrund der Corona-Pandemie ist die Beschäftigung vor allem junger Menschen eingebrochen.
Im Januar 2021 waren 19 % der 18- bis 24-Jährigen, die vor der Pandemie erwerbstätig
waren, nicht mehr erwerbstätig, verglichen mit 4 % der 25- bis 54-Jährigen, wie das
Ergebnis einer repräsentativen Umfrage an 6389 britischen Erwachsenen im Alter von
18 bis 65 Jahren zeigte. Junge Menschen hatten während der Pandemie 2 Probleme: Sie
erlebten die größten Beschäftigungseinbußen und den stärksten Anstieg der psychischen
Erkrankungen aller Altersgruppen [33]. In dem Bericht wird zunächst festgestellt, dass die psychische Gesundheit junger
Menschen schon vor der Corona-Pandemie ein großes Problem darstellte. Waren die 18-
bis 24-Jährigen im Jahr 2000 noch die am wenigsten durch häufige psychische Störungen
wie Angst und Depressionen gefährdete Altersgruppe, waren sie im Jahr 2019 mit 30
% bereits die am stärksten gefährdete Altersgruppe. Die COVID-19-Pandemie hat diese
Krise noch verschärft: Mehr als jeder dritte Mensch unter 45 Jahren gab an, im Januar
2021 an einer psychischen Störung zu leiden, wobei die höchste Inzidenz (40 %) bei
den 18- bis 21-Jährigen zu verzeichnen war.
Abb. 1 Titelblatt der britischen Studie zu Arbeitslosigkeit und psychischen Erkrankungen
[34]; Quelle: © Resolution Foundation, London
Der Bericht zeigt zudem den Zusammenhang von Beschäftigungsrückgang und deutlicher
Verschlechterung der psychischen Gesundheit junger Menschen: Mehr als ein Drittel
(36 %) der 18- bis 35-Jährigen, die während der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren
hatten, stuften ihre psychische Gesundheit als „schlecht“ ein. Bei denjenigen, die
keinen Arbeitsplatzwechsel erlebt hatten oder beurlaubt worden waren, lag der Wert
bei 28 %. Auch junge Arbeitnehmer mit unsicheren Arbeitsverträgen (Leiharbeit, Zeitarbeit)
berichteten im Januar 2021 deutlich häufiger über psychische Probleme als Arbeitnehmer
mit sicheren Arbeitsverträgen (37 % gegenüber 30 %) [34]. Da der Anteil junger Menschen mit unsicheren Arbeitsverträgen zwischen 2000 und
2019 um 66 % gestiegen ist, erscheint dieses Ergebnis besonders besorgniserregend.
Bereits nach der Finanzkrise der Jahre 2008/2009 war bei Menschen mit psychischen
Problemen die Wahrscheinlichkeit, 5 Jahre später arbeitslos zu sein, vergleichsweise
um 75 % höher. Die Autoren leiten daraus die Gefahr ab, dass die Verschlechterung
der psychischen Gesundheit junger Menschen die Pandemie überdauern und deren Zukunftsaussichten
verschlechtern könnte. Man weiß schon lange, dass ein qualitativ hochwertiger Arbeitsplatz
wesentlich dazu beiträgt, dass junge Menschen ein gesundes, unabhängiges Leben führen
und Widerstandsfähigkeit für Belastungen (Kinder!) entwickeln. Umgekehrt wirkt sich
Arbeitslosigkeit negativ auf die psychische Gesundheit aus und trägt zu Instabilität,
erlebter Sinnlosigkeit und geringem Selbstwertgefühl bei.
Weltweit am stärksten von der Corona-Pandemie betroffen sind die USA. Mehr als 45
Millionen Menschen haben sich dort mit SARS-CoV-2 infiziert und mehr als eine Dreiviertelmillion
Menschen sind an COVID-19 verstorbenen (Stand: 5.11.2021). Das Land ist daher mit
einem Ausmaß an Trauer konfrontiert, das in seiner räumlichen und zeitlichen Ausdehnung
seinesgleichen sucht: Etwa 72 % der Amerikaner kennen jemanden, der wegen COVID-19
im Krankenhaus lag oder daran gestorben ist. Laut einer Studie betrifft jeder Todesfall
im Durchschnitt 9 Personen. Das bedeutet, dass fast 7 Millionen US-Amerikaner direkt
vom Verlust eines geliebten Menschen betroffen sind [6]. Als Folge dürfte die Häufigkeit von anhaltender Trauer (die tiefgreifend ist und
das Funktionieren einer Person im Alltag beeinträchtigt) deutlich ansteigen [22]. Erste empirische Daten hierzu liegen aus China bereits vor und zeigen, dass die
anhaltende Trauer über einen verstorbenen Angehörigen 3- bis 5-fach häufiger ist,
wenn der Angehörige an COVID-19 gestorben ist [39]. In der Corona-Pandemie gibt es also mehr Trauerfälle und zugleich dauert die Trauer
länger. „Es ist schwer, sich auf eine neue Normalität einzustellen, wenn diese neue
Normalität sich dauernd ändert“, lautet der Untertitel eines Essays aus dem Magazin
Atlantic vom 2.11.2021 [30]. Die Autorin bezieht sich auf eine landesweite, repräsentative Umfrage an 3616 Amerikanern
im Alter von über 18 Jahren im Auftrag des National Public Radio (NPR), der Robert Wood Johnson Stiftung und der Harvard T. H. Chan School of Public Health (Interviews zwischen dem 2. August und dem 7. September 2021 in den Sprachen Englisch,
Spanisch, Mandarin, Kantonesisch, Koreanisch und Vietnamesisch). So berichten laut
der Umfrage 38 % der US-Haushalte, dass sie in den letzten Monaten ernsthafte finanzielle
Probleme hatten. Unter den Haushalten von Minderheiten (Latinos, Schwarze und amerikanische
Ureinwohner) hatten mehr als 50 % ernsthafte finanzielle Probleme, während dies nur
bei 29 % der Haushalte der weißen Bevölkerung der Fall war. Diese Ungleichheit spiegelt
sich auch in vielen anderen Umfrageergebnissen wider: Die Minderheiten tragen einen
unverhältnismäßig großen Anteil an den sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie
[28].
Wie auf der ganzen Welt, so tragen auch in den USA die Schüler eine erhebliche Last
der Pandemie: 36 % der Haushalte geben an, dass ihre Kinder erheblich in der Schule
zurückgefallen sind und weitere 33 % sagen, dass die Kinder etwas zurückgefallen sind.
Lediglich 31 % der Haushalte gaben an, dass die Kinder durch Corona keine Bildungseinbußen
erlitten haben. Ferner zeigte sich, dass nahezu ein Fünftel (19 %) der US-amerikanischen
Haushalte während der Pandemie ihre gesamten Ersparnisse verloren haben, was weitere
Probleme nach sich zog: Als das von den Centers for Disease Control and Prevention verhängte Räumungsverbot Ende August auslief, berichteten landesweit 27 % der Mieter
über ernsthafte Probleme bei der Bezahlung ihrer Miete in den letzten Monaten. Die
Umfrage untersuchte die 4 größten Städte der USA und ergab, dass die Mietkrise in
Houston mit Abstand am schlimmsten war: 53 % der Mieter in Houston berichteten über
Probleme bei der Mietzahlung, gefolgt von 41 % in Chicago, 35 % in Los Angeles und
32 % in New York [28]. Besonders bemerkenswert sind Daten zur psychischen Gesundheit: Die Hälfte der Befragten
gab an, dass jemand im Haushalt ernsthafte Probleme mit Depressionen, Angstzuständen,
dem Ein- und Durchschlafen oder Stress hat [29]. Zudem wurde ein deutlicher Anstieg des Interesses an Selbsthilfebüchern über Trauma
und Angst verzeichnet [11]. Menschen, die an COVID-19 erkrankte Angehörige pflegen, sind im Vergleich zu nicht
pflegenden Angehörigen sehr deutlich stärker von psychischen Störungen (mit 33,4 %
versus 3,7 % 9-fach erhöhte Suizidalität; p < 0,0001) [14] betroffen.
Die Beschreibung der Corona-bedingten Situation in den USA dürfte weltweit Gültigkeit
haben, wie eine am 8. Oktober 2021 online im Fachblatt Lancet publizierte Studie zeigt. In ihr wurden Daten aus einer Reihe von Studien zur Prävalenz
von Angststörungen und Depressionen aufgrund der Corona-Pandemie vom 1. Januar 2020
bis zum 29. Januar 2021 ausgewertet und mit den Daten des Jahres zuvor verglichen
[32], [40]. Zusätzliche unabhängige Variablen (die entweder täglich oder mindestens wöchentlich
erfasst wurden), waren das Infektionsgeschehen (Infektionsrate und Übersterblichkeit)
sowie Daten zur (eingeschränkten) Mobilität der Menschen (aus der Nutzung von Mobilfunk
und sozialen Medien). Von den zunächst 5683 Datenquellen blieben nach dem Screening-Prozess
46 für Depressionen und 27 für Angststörungen übrig, die sich auf 204 Länder und Territorien
der Welt bezogen. Weitere 11 (Depression) bzw. 7 (Angst) Studien wurden zur Ermittlung
der Baseline (2019) herangezogen. Der globale Anstieg bei den Depressionen um 53,2
Millionen Fälle entspricht 27,6 % ([
Tab. 1
]). Bei Frauen war der Anstieg der Prävalenz einer schweren depressiven Störung mit
35,5 Millionen zusätzlichen Fällen (entspricht 912,5 pro 100 000 Einwohner) bzw. 29,8
% höher als bei Männern mit 17,7 Millionen zusätzlichen Fällen (entspricht 453,6 pro
100 000 Einwohner) bzw. 24,0 % Anstieg. Als weiteres Maß für die Auswirkungen der
Corona-Pandemie auf seelische Erkrankungen wurden die Disability-Adjusted Life-Years
(DALYs) berechnet, also die durch Behinderung und Tod verlorenen Lebensjahre. Deren
Anzahl belief sich weltweit auf 10,7 Millionen Lebensjahre – 7,07 Millionen bei Frauen
und 3,62 Millionen bei Männern ([
Abb. 2
]).
Tab. 1
Globale Prävalenz von Depressionen und Angststörungen vor und während der Corona-Pandemie
in 204 Ländern und Territorien (nach Daten aus [32]); DALYs = Disability-Adjusted Life-Years.
|
Vor Corona
|
Während Corona
|
Differenz, d. h. neue Fälle
|
Anstieg in %
|
|
Depression
|
|
Globale Prävalenz
Fälle/100000 Einwohner
|
2470,5
|
3152,9
|
682,4
|
|
|
Globale Prävalenz
Fälle
|
193 Millionen
|
246 Millionen
|
53,2 Millionen
|
27,6
|
|
DALYs/100000
|
497,0
|
634,1
|
137,1
|
|
|
DALYs
|
38,7 Millionen
|
49,4 Millionen
|
10,7 Millionen
|
|
|
Angststörungen
|
|
Globale Prävalenz
Fälle/100000 Einwohner
|
3824,9
|
4802,4
|
977,5
|
|
|
Globale Prävalenz
Fälle
|
298 Millionen
|
374 Millionen
|
76,2 Millionen
|
25,6
|
|
DALYs/100000
|
454,8
|
570,9
|
116,1
|
|
|
DALYs
|
35,5 Millionen
|
44,5 Millionen
|
9 Millionen
|
|
Abb. 2 Depressionen (oben) und Angststörungen (unten) bei Frauen (links) und Männern (rechts)
während der Pandemie im Zeitraum vom 1.1.2020 bis 29.1.2021 (rote Kurven mit orange
schattierter Variabilität) im Vergleich zum Jahr 2019 vor der Pandemie (blau) in Abhängigkeit
vom Alter. Man sieht sehr deutlich das Überwiegen von Frauen und jüngeren Menschen
(nach Daten aus [32]).
Die Zahl der Angststörungen stieg global um 76,2 Millionen Fälle oder 25,6 % (Tab. 1). Bei Frauen betrug dieser Anstieg 51,8 Millionen Fälle (1332,1 pro 100 000 Frauen)
bzw. 27,9 %. Bei Männern betrug der Anstieg 24,4 Millionen zusätzliche Fälle (entspricht
625,0 pro 100 000 Männer) bzw. 21,7 %. Umgerechnet in DALYS waren dies 9 Millionen
Lebensjahre. Insgesamt hat die Corona-Pandemie damit in den 13 Monaten ab dem 1.1.2020
knapp 20 Millionen durch Behinderung und Tod verlorene Lebensjahre mehr verursacht.
Es fand sich zudem ein Zusammenhang zwischen dem Anstieg der beiden ohnehin sehr häufigen
psychischen Störungen und 2 der 5 zusätzlich gemessenen unabhängigen Variablen zur
Pandemie: Mobilität und Infektionsrate. Während der Corona-Pandemie war die Mobilität
(durch Lockdown-Maßnahmen) eingeschränkt, was mit (b = 0,9) signifikanten (p = 0,029)
Zunahmen der Prävalenz von depressiven Störungen (Major Depression) und von Angststörungen
(B = 0,9; p = 0,022) einher ging. Die Infektionsrate zeigte diesen Effekt in noch
deutlich stärkerem Maße und ging mit einer deutlich erhöhten Prävalenz von Depressionen
(b = 18,1; p = 0,0005) und von Angststörungen (b = 13,8; p < 0,0001) einher. Die Übersterblichkeit
zeigte bei Kontrolle der beiden genannten Variablen hingegen keinen Effekt.
„In dieser Studie haben wir einen erheblichen Anstieg der Prävalenz und Belastung
durch schwere depressive Störungen und Angststörungen als Folge der COVID-19-Pandemie
festgestellt. Unseres Wissens ist dies die erste Studie, die Erhebungsdaten zur psychischen
Gesundheit der Bevölkerung und die sich daraus ergebenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
auf die Prävalenz dieser beiden Störungen [weltweit] nach Ort, Alter und Geschlecht
im Jahr 2020 systematisch untersuchte“, kommentieren die Autoren ihre Ergebnisse [32]. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass der Anstieg beider psychischen Störungen von
der Schwere der Pandemie (Infektionsgeschehen) und in geringerem Ausmaß von den Lockdown-Maßnahmen
(Mobilitätseinschränkungen) abhing.
Halten wir fest: Depressionen und Angststörungen haben durch die Corona-Pandemie um
etwa ein Viertel zugenommen. Das mag sich wenig anhören, bedenkt man jedoch, dass
beide Störungsbilder zu den häufigsten Krankheiten überhaupt gehören, dann wird das
Ausmaß der Beeinträchtigung auf der Ebene von Gesellschaft bzw. Bevölkerung deutlich:
Denn wenn eine Krankheit, die sehr häufig ist, um ein Viertel zunimmt, dann geht es
um sehr viele kranke Menschen. Die berechneten weltweit etwa 20 Millionen durch COVID-19
zusätzlich verlorenen (behinderungsadjustierten) Lebensjahre sind wahrhaftig nicht
Nichts.[
2
]
Klima- und Eco-Angst
Neben der Corona-Pandemie hat derzeit der Klima-Wandel große Auswirkungen auf das
Befinden der Menschen weltweit. Schon immer hatten die Menschen Angst vor der Zukunft.
Fürchtete man früher jedoch eher mögliche Kriege, Naturkatastrophen oder Hungersnöte – es gab das alles oft genug, um ein kollektives
Bewusstsein davon zu schaffen und zu erhalten –, so fokussiert sich diese Angst heute
auf eine drohende Wirklichkeit, die zudem in ihren Vorboten schon erlebbar wird: den
Klimawandel [12]. Der stellt ja zunächst einmal tatsächlich eine große Bedrohung für das Weiterbestehen
der Menschheit dar. Unsere körperliche Gesundheit ist durch Atemwegserkrankungen aufgrund
von Luftverschmutzung und durch – teilweise neue – Infektionskrankheiten durch vermehrten
Kontakt mit der von uns zurückgedrängten Tierwelt gefährdet. Hinzu kommt die Zunahme
von Naturkatastrophen als Auswirkungen des Klimawandels, die unsere Gesundheit unmittelbar
bedrohen: Der Tod durch Hitzewellen, Wirbelstürme, Überflutungen, Dürreperioden und
Waldbrände ist, nicht zuletzt medial, allgegenwärtig. Daher führt der Klimawandel
indirekt auch zu psychischen Auswirkungen, wie beispielsweise zu einem Anstieg von
Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischem Stress, um nur 3 sehr bekannte
Beispiele zu nennen [9]. Langfristig sind zudem die Bedrohung der Wasser- und Lebensmittelversorgung und
-sicherheit und die Beeinträchtigungen der fötalen und kindlichen Entwicklung durch
all diese Effekte zu nennen ([
Abb. 3
]).[
3
]
Abb. 3 Cover der von der NGO ecoAmerica und der APA gemeinsam herausgegebenen Berichte zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die seelische
Gesundheit der Menschen [7], [9]). Mit 51, 70 bzw. 88 Seiten wurden die Berichte nicht nur immer umfangreicher, auch
ihr Detailreichtum nahm deutlich zu. Quelle: ©EcoAmerica, San Francisco
Eine Studie zu den langfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie oder der Klima-Angst
kann es erst in einigen Jahrzehnten geben, weswegen sich ein Blick auf die Ergebnisse
anderer Studien lohnt. Eine sehr große und zugleich methodisch sehr aufwändige Studie
zu den langfristigen gesundheitlichen und sozioökonomischen Folgen des in Kindheit
und Jugend erlebten zweiten Weltkriegs wurde im Jahr 2014 publiziert [26]. Mit seinen allein in Europa 39 Millionen Toten war dieser Krieg das prägendste
Ereignis des letzten Jahrhunderts, das für Millionen von Menschen Hunger, Kälte, Vertreibung,
Enteignung sowie schwere körperliche und seelische Traumatisierung bedeutete. Daten
zu 21266 Personen aus 13 Ländern (Dänemark, Schweden, Österreich, Frankreich, Deutschland,
Schweiz, Belgien, Holland, Spanien, Italien, Griechenland, Tschechien und Polen) wurden
hierzu in den Jahren 2004 bis 2009 in 3 Wellen erhoben.[
4
] Von den Teilnehmern verbrachten 9855 Personen während des Krieges Zeit in einem
Land, in dem Krieg herrschte, wohingegen 11411 der untersuchten Personen diese Zeit
in einem Land verbrachten, in dem kein Krieg herrschte. Hierdurch, sowie durch genaue
Erhebung der Erlebnisse der Menschen wurde es möglich, den Folgen des Erlebens von
Krieg recht genau nachzugehen. So waren beispielsweise die Nahrungsmittelknappheit
und der Hunger während des Krieges in den Kriegsländern viel gravierender als in den
Ländern, die nicht am Krieg beteiligt waren.
Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass Kriegserlebnisse die Wahrscheinlichkeit erhöhen,
an Diabetes, Depressionen und Herzkrankheiten zu leiden. Wer in jungen Jahren den
Krieg erlebt hat, als Zivilist oder gar bei Kampfhandlungen, hat als Erwachsener einen
deutlich schlechteren Gesundheitszustand. Kriegserlebnisse sind zudem mit geringerer
Bildung und Lebenszufriedenheit assoziiert sowie bei Frauen mit einer verminderten
Wahrscheinlichkeit, verheiratet zu sein (bei Männern ist diese Wahrscheinlichkeit
erhöht). Diese Auswirkungen des Krieges sind verursacht durch Hunger, Enteignung,
Verfolgung und die Abwesenheit bzw. den Verlust von Vätern. Das Ausmaß der Auswirkungen
des Zweiten Weltkriegs erwies sich als abhängig von der sozialen Schicht: Die schwersten
Auswirkungen betrafen die Mittelschicht, gefolgt von der Unterschicht. Studien zu
den (kurz- bis mittelfristigen) psychischen Auswirkungen des Klimawandels gibt es
erst seit wenigen Jahren [37]. Mittlerweile wird jedoch immer deutlicher, dass die Klimakrise vor allem bei jungen
Menschen neue psychische Leiden wie Klima-Angst verursachen bzw. bestehende psychische Erkrankungen verschlimmern kann.
Zu den Symptomen der Klima-Angst gehören Panikattacken, Schlaflosigkeit und zwanghaftes
Denken an die verschiedensten Bedrohungen durch den Klimawandel. Gefühle der Klimabeklemmung
verstärken andere alltägliche Stressfaktoren und wirken sich negativ auf die allgemeine
psychische Gesundheit aus, was sich nicht nur in einer Zunahme von Angststörungen
und Depressionen ausdrückt, sondern beispielsweise auch zu stressbedingten Problemen
wie Substanzkonsum (Alkohol, Cannabis und andere größtenteils illegale ZNS-aktive
Substanden). Daten zur Prävalenz dieser Störungen, von Klimabeklemmung über Angst
und Depression (einschließlich Suizidalität) bis zur Sucht, waren jedoch bislang noch
schwer zu finden. Jüngst wurden hierzu jedoch die Ergebnisse einer Umfrage an 10 000
Personen im Alter von 16 bis 25 Jahren aus 10 Ländern (Australien, Brasilien, Frankreich,
Finnland, Indien, Nigeria, den Philippinen, Portugal, Großbritannien und den USA)
vorab publiziert [23], [29], die aus meiner Sicht Grund zu großer Besorgnis sein sollten: Das Aufwachsen in
der sich immer deutlicher abzeichnenden Realität der Klimakrise beeinträchtigt die
seelische Gesundheit junger Menschen: Volle 75 % der befragten jungen Menschen haben
Angst vor der Zukunft, 59 % davon sind „sehr“ oder „äußerst“ besorgt. Über 50 % fühlen
sich traurig, ängstlich, wütend, machtlos, hilflos oder gar schuldig, und 45 % geben
an, dass sich die Sorge um das Klima negativ auf ihren Alltag auswirkt. Nach Angaben
der Autoren stellt diese Studie die bisher größte Untersuchung zur Klima-Angst dar.
Aus den angeführten Studien von Clayton und Mitarbeitern ergibt sich passend zu diesen
Daten, dass sich der Anteil der jungen US-Amerikaner, die sich vom Klimawandel massiv
beeinträchtigt fühlen, von 2017 bis 2021 verdoppelt hat [8], [9]. Man spricht in der internationalen medizinischen Fachliteratur mittlerweile weithin
auch von „Eco-Angst“.[
5
]
Ein französisch-US-amerikanisches Wissenschaftlerteam analysierte 131 Artikel aus
6 der 10 auflagenstärksten amerikanischen Zeitungen, die zwischen 2018 und 2021 veröffentlicht
wurden und die Einstellungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern zur Klimakrise zum
Thema hatten. Im Hinblick auf Kinder und Jugendliche wurden 4 Diskursmuster gefunden:
„(a) wütende junge Aktivisten; (b) Kinder, die als Erwachsene behandelt werden; (c)
unschuldige Opfer; und/oder (d) ultimative Retter“. Die Reaktionen von Eltern bzw.
Erwachsenen darauf erfolgte ebenfalls nach 4 Mustern: „(a) Erleben von Eco-Angst durch
Eltern-Dasein; (b) Beschwichtigung der Eco-Angst der Kinder; (c) Kritik an jugendlichem
Aktivismus; und/oder (d) die Aktionen gegen den Klimawandel als eine Quelle der Sinnstiftung
im Leben junger Menschen begreifen“. Sie folgern aus ihren Erkenntnissen, dass Erwachsene
über ihre Vorurteile oder gar feindliche Haltung gegenüber jungen Menschen von ihren
eigenen mangelhaften Bemühungen im Hinblick auf den Klimawandel ablenken oder ihre
eigene Angst vor dem Klimawandel abwehren. Es handele sich in jedem Fall um „unreife
Wege der Erwachsenen, auf die Sorgen der Jugendlichen zu reagieren. […] Es gäbe durchaus
„gesündere und produktivere Reaktionen von Eltern, Ärzten, Pädagogen und Beamten des
öffentlichen Gesundheitswesens bei der Suche nach wahrheitsgemäßen und zugleich unterstützenden
Antworten auf die legitimen ökologischen Bedrohungen, die die kommenden Generationen
unverhältnismäßig stark betreffen werden“.
Halten wir fest: Der Klimawandel und die als unzureichend eingeschätzten Reaktionen
der politisch Verantwortlichen sind bei vielen jungen Menschen weltweit mit Angst
und Stress verbunden. Psychologische Stressoren werden zwar oft als „weich“ und „wenig
bedeutsam“ eingeschätzt, sie sind es nachweislich jedoch nicht. Solcher Stress bedroht
Wohlbefinden und (damit) Gesundheit.
Jugendliche sind u. a. deswegen stärker als Erwachsene von Klima-Angst betroffen,
weil sie sich noch in ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung befinden, ihre
Neuroplastizität daher noch vergleichsweise hoch ist und sie damit auch schneller
lernen. Mindestens ebenso bedeutsam ist, dass chronischer Stress in der Jugend zu
dauerhaften Veränderungen der Gehirnstruktur und dem Auftreten unterschiedlichster
Formen von Psychopathologie im späteren Leben führen kann [35], [36], [39]. Neueste experimentelle Befunde deuten darauf hin, dass Stress in der Adoleszenz
vor allem bei weiblichen Tieren einerseits zu raschem Lernen, andererseits jedoch
zu verminderter Flexibilität für weiteres Lernen führen kann [25]. Studien beim Menschen deuten in die gleiche Richtung [46]. Der Stress durch das Bewusstwerden einer künftigen schweren Krise in einer entscheidenden
Entwicklungsphase in Verbindung mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, im Laufe des
Lebens wiederholt Stressoren im Zusammenhang mit dieser Krise, dem Klimawandel, zu
begegnen, könnte also durchaus die Häufigkeit psychischer Erkrankungen im Laufe des
Lebens der heute jungen Menschen erhöhen [31]. Allerdings wurden bisher nur wenige Versuche unternommen, die kurz- und langfristigen
Auswirkungen des Klimawandels auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen zu untersuchen.
Hierzu müssen gültige und zuverlässige Instrumente zur Messung der Klima-Angst entwickelt
und eingeführt werden, prospektive Längsschnittstudien aufgelegt und Maßnahmen erforscht
werden, um den negativen Folgen entgegen zu wirken und die psychische Gesundheit der
nächsten Generation zu verbessern. All dies braucht Zeit.
Die Große Resignation
„Resignation“ ist das englische Wort für „Kündigung“, und „The Great Resignation“
bezeichnet zunächst einmal die seit dem Frühjahr 2021 größte Kündigungswelle von Arbeitnehmern
seit der Weltwirtschaftskrise („Great Depression“) vor knapp 100 Jahren. Man spricht auch von „The Big Quit“. Hielten in den USA noch
während der ersten beiden Wellen der Corona-Pandemie im Jahr 2020 die meisten Arbeitnehmer
verzweifelt an ihrem Arbeitsplatz fest, weil sie Angst hatten, ihr Unternehmen könnte
das nächste sein, das Insolvenz anmeldet oder COVID-bedingte Entlassungen durchführt,
haben im April 2021 4 Millionen US-Amerikaner ihren Job gekündigt, im Juli waren es
noch mehr und im August noch mehr (4,3 Millionen). In den USA kündigten während der
5 Monate von April bis August mehr als 20 Millionen Arbeitnehmer [43]. Im Freizeit-, Hotel- und Gaststättengewerbe kündigten im August 2021 volle 7 %,
also jeder Vierzehnte, den Job – wohlgemerkt: in einem Monat [44]! Befeuert wurden die Kündigungen im Service-Bereich durch weitere gesellschaftliche
Veränderungen wie beispielsweise eine Zunahme von unfreundlichem, grobem, wütendem
oder gar aggressivem Verhalten von Kunden. Nicht nur bei uns wurde ein studentischer
Kassierer an einer Tankstelle wegen eines Disputs über das Tragen einer Maske erschossen
– in New York und im US-Bundesstaat Georgia ereilte jeweils den Kassierer eines Supermarktes
das gleiche Schicksal [27]. Wahrscheinlich aufgrund der besonders beengten Verhältnisse in Flugzeugen spüren
Flugbegleiter das gestiegene Aggressionsniveau ebenfalls in besonderem Maße: In weniger
als den ersten 6 Monaten des Jahres 2021 wurden der US-amerikanischen Luftfahrtbehörde
mehr Zwischenfälle mit widerspenstigen Passagieren gemeldet als in irgendeinem vollen
Jahr seit Beginn dieser Aufzeichnungen im Jahr 1995 [27].
Muss man sich Sorgen machen? – Zunächst einmal kann man sich einen Teil des Trends
ganz einfach aus dem Aufschub von Kündigungen in unsicheren Zeiten (das Festhalten
am Job im Jahr 2020) erklären. Nach der Beendigung von Maßnahmen im Lockdown – insbesondere
Home-Office – haben viele Arbeitnehmer zudem über ihre Arbeit, Familienzeit, über
den Sinn von Berufspendlertum im Besonderen und den des Lebens im Allgemeinen nachgedacht,
wie schon im Mai 2021 im US-Wirtschaftsmagazin für Unternehmer Bloomberg Businessweek zu lesen war. Viele Arbeitnehmer wollten einfach nicht mehr in die Firmen zurück,
wie ihre Chefs es von ihnen forderten, schon gar nicht die ganze Woche lang von 9
Uhr morgens bis 5 Uhr abends [10] „Umfragen zeigen, dass fast 40 % der Angestellten lieber ihren Job aufgeben würden,
als auf Home-Office zu verzichten, und selbst begehrte Unternehmen wie Apple bemühen
sich, Massenkündigungen aufgrund von Maßnahmen zur Rückkehr ins Büro zu vermeiden“,
konnte man dazu einige Wochen später in dem ebenfalls sehr renommierten US-Wirtschaftsmagazin
Forbes nachlesen [13]. „Während die Pandemie in den USA zurückgeht, verlassen die Menschen ihre Arbeitsplätze
auf der Suche nach mehr Geld, mehr Flexibilität und mehr Glück. Viele überdenken,
was Arbeit für sie bedeutet, wie sehr sie wertgeschätzt werden und wie sie ihre Zeit
verbringen möchten“, kommentierte das National Public Radio am 24. Juni 2021 [24]. Nicht nur in den USA kam es zum Big Quit, sondern auch anderswo kündigten Millionen
von Menschen ihren Job [41]. In den 38 Ländern der OECD sind nach der Corona-Pandemie 20 Millionen weniger Menschen
in Arbeit als davor, davon 14 Millionen, die nicht arbeiten und auch keine Arbeit
suchen. Darunter sind 3 Millionen junge Menschen, die nicht mehr arbeiten bzw. sich
nicht mehr in Ausbildung oder Weiterbildung befinden. So dramatisch dies erscheint,
so gibt es auch einen Silberstreifen am Horizont der Hoffnung. Noch nie gab es weltweit
eine so große Anzahl von Menschen – und damit auch junger Menschen – wie heute. Diese verstehen sich längst nicht mehr als Zuschauer der Dinge,
die da kommen, sondern als die Akteure des Wandels. Es sind – darüber sollten wir uns klar werden – auch unsere künftigen
Führungskräfte unter ihnen. Diese werden unsere gewohnte Weltordnung nicht mehr einfach
akzeptieren, sondern versuchen, sie zum Besseren zu ändern.
Aus meiner Sicht sollten sich die heutigen Führungskräfte ernsthaft Gedanken darüber
machen, wie man die Erfahrungen, die viele Menschen während der Corona-Pandemie machen
mussten, nutzen kann, um gerade nicht wieder zum alten Zustand vor Corona zurückzukehren, sondern zu einem insgesamt besseren
Arbeiten und Leben. Wie ich an anderer Stelle bereits ausgeführt habe, ist es doch
gut, wenn der Arbeitnehmer an einem oder 2 Tagen in der Woche zuhause arbeitet. Die
Produktivität muss keinesfalls sinken, der Arbeitsplatz ist attraktiver, weil man
sich die Zeit ganz anders einteilen kann und – ganz nebenbei – würde der Berufsverkehr
um 20 oder sogar um 40 % sinken: Dies würde die Wahrscheinlichkeit von Verkehrsstaus
mindern und zu deutlich weniger Stickoxiden, Feinstaub und CO2 in der Luft beitragen [37].
Globaler Big Quit: Resilienz statt Resignation
Globaler Big Quit: Resilienz statt Resignation
Genauere Analysen zeigten, dass die Kündigungen zum großen Teil auf Angehörige der
Generation Z (geboren nach der Jahrtausendwende) und der Millennials (auch Generation
Y genannt, geboren 1980 bis 1999) zurückgehen, die ihren Job im Lockdown und Home-Office
begonnen haben und daher von Anfang an wahrscheinlich anders sozialisiert sind. Einen
solchen Beginn des Arbeitslebens mit gleichsam eingebauter täglicher Infragestellung
der eigenen „Work-Life Balance“ gab es bei keiner Generation zuvor. „Während die Pandemie
in den USA zurückgeht, verlassen die Menschen ihre Arbeitsplätze auf der Suche nach
mehr Geld, mehr Flexibilität und mehr Glück. Viele überdenken, was Arbeit für sie
bedeutet, wie sehr sie wertgeschätzt werden und wie sie ihre Zeit verbringen möchten“,
schreibt die Zeitung US-News Ende August 2021 [35]. Verbindet man Kündigungen gemeinhin eher mit Verlierern und Müßiggängern, so scheint
im Falle der gegenwärtigen Great Resignation das Gegenteil der Fall zu sein: Die Kündigungen sind „Ausdruck von Optimismus: Wir
können es besser“, wie es der Autor Derek Thompson in einem Mitte Oktober im Magazin
The Atlantik publizierten Beitrag beschreibt. Interessanterweise hat die Kündigungswelle für die
Arbeitnehmer positive Konsequenzen: Sie verdienen mehr ([
Abb. 4
]). Seit der Weltwirtschaftskrise sind die Löhne im Niedriglohnsektor in den USA nicht
mehr so stark gestiegen wie in den letzten Monaten [42].
Abb. 4 Median des Lohnzuwachses (3-Monats-Moving Average) im Niedriglohnsektor in den USA
vom März 1997 bis September 2021. Dargestellt sind die Lohnzuwächse derer, die gekündigt
und eine neue Stelle angetreten hatten (Job switcher; türkise Kurve) im Vergleich
zu denjenigen (Job stayer; blaue Kurve), die ihren Job nicht gewechselt hatten (Wage
Growth Tracker der Federal Reserve Bank of Atlanta, 2021). Hellgraue Balken zeigen
Zeiträume an, während derer eine wirtschaftliche Rezession bestand (nach Daten aus
[42]).
Dies hatte in den einzelnen Ländern unterschiedliche Auswirkungen. In Zentraleuropa
– Tschechien, Polen, der Slowakei und Ungarn – herrscht mittlerweile nahezu Vollbeschäftigung
bei deutlich steigenden Löhnen. Diese Arbeitskräfte in Niedriglohnbereichen (Fleischverarbeitung,
Gaststätten- und Hotelgewerbe), die vor allem im Verlauf der Pandemie in ihre Heimatländer
zurückgekehrt waren, fehlen nun nicht zuletzt auch in Deutschland, sodass nicht nur
die Anhebung des Niedriglohns[
6
], sondern auch die Verdopplung der Immigration hierzulande unausweichlich werden.[
7
] Dramatisch ist die Situation in Großbritannien, wo Corona-bedingte Reisebeschränkungen
und natürlich vor allem der Brexit zum Fehlen von hunderttausenden Arbeitnehmern –
darunter allein 90 000 Lastwagenfahrern – geführt haben [41]. Dies schwächt dort nicht nur die (schon vor Corona schwächelnde) Wirtschaft, sondern
führte – in einem der höchstentwickelten Länder der Welt! – bereits zu Engpässen in
der Grundversorgung mit dem Nötigsten und den weithin berichteten langen Schlangen
vor Tankstellen und Supermärkten.[
8
] Aus „Resignation“ im Sinne des globalen Big Quit muss nicht unbedingt weiterer wirtschaftlicher Niedergang folgen. Vielmehr könnte
auch eine mehr resiliente und vernünftigere Zukunft daraus werden, wenn man den jungen
Menschen nur etwas Zeit gibt und in sie investiert, anstatt sie zu gängeln oder gar
schon abzuschreiben. In der Ausgabe vom 7. Oktober 2021 seiner Betrachtungen zu Europa
formuliert der Brite Paul Taylor (ptaylor@politico.eu) in der US-Tageszeitung Politico diese optimistische Sicht der Dinge so:
„Aber unter dem Strich ist dies [aber auch] eine gute Entwicklung für die Arbeitgeber.
Um Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten, stehen die Unternehmen in stärkerer Konkurrenz,
müssen attraktivere Löhne und Arbeitsbedingungen anbieten und mehr Rücksicht auf die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie nehmen. Zudem müssen sie bessere Ausbildungs-
und Karrieremöglichkeiten anbieten. Der derzeitige Arbeitskräftemangel ist daher kein
Problem, sondern stellt eine Chance dar, eine gerechtere Wirtschaft wieder aufzubauen,
die Einkommen in der gesamten Wertschöpfungskette zu verbessern und die Produktivität
zu steigern. Anstatt zu versuchen, den Arbeitsmarkt der Zeit vor Corona wiederherzustellen,
sollten die westlichen Gesellschaften die Chance ergreifen, einen neuen Gesellschaftsvertrag
zu schließen“ [42].
Fachleute aus dem Bereich der psychischen Gesundheit und politische Entscheidungsträger
sollten sich diese Haltung zu den uns bedrohenden Krisen und der mit ihnen verbundenen
Depression und Angst zu eigen machen. Wenn es um im weiteren Sinne ökologisch bedingte
psychische Krankheiten geht, braucht man kurzfristig Medikamente aber langfristig
die richtigen politischen Entscheidungen. Dies trifft auf die Corona-Pandemie und
den Klimawandel in ganz besonderer Weise zu.