Der besondere Fall
In loser Folge möchte die Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie zukünftig
an dieser Stelle besondere Fälle aus dem Fachgebiet präsentieren. BGPN-Mitglieder
sind herzlich eingeladen, eigene kurz gefasste Fälle einzusenden (info@bgpn.de). Die
schriftliche Zustimmung des Patienten muss vorliegen oder die Fälle müssen so verändert
werden, dass ein Rückschluss auf die Identität unmöglich ist.
Berufsunfähig wegen Labor-Normalbefund?
Ein 38-jähriger Familienvater berichtet von einer seit mehreren Jahren bestehenden
übermäßigen Erschöpfung, Müdigkeit und Kraftlosigkeit, die dauerhaft bestehen und
sich nach geringster Belastung verschlimmern würden. Diese habe sich infolge einer
Ebstein-Barr-Virus-(EBV-)Infektion entwickelt, was labordiagnostisch festgestellt
worden sei; er leide an einem postviralen chronic Fatiguesyndrom. Die Symptomatik
bestünde ferner in Kopf-, Nacken- und Rückenschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen
und Konzentrationsmangel. Seiner Tätigkeit als Versicherungsberater sei er nicht mehr
gewachsen, weshalb er bei seinen verschiedenen Versicherungen Leistungen wegen Berufsunfähigkeit
beantragt habe. Der Betroffene ist seit über 12 Monaten krankgeschrieben und legt
verschiedene AU-Bescheinigungen mit den Diagnosen „fortbestehende Erschöpfung; Pfeiffersches
Drüsenfieber“ vor. Ein HNO-Facharztattest bescheinigt eine langanhaltende EBV-Infektion
mit der Folge eines chronic Fatiguesyndroms, ein urologisches Attest eine labordiagnostisch
nachgewiesene chronische Mononukleose, ein Untersuchungsbericht eines Instituts für
Immunologie ein postinfektiöses chronic Fatiguesyndrom.
Körperliche Untersuchung einschließlich neurologischem Status, HNO-Untersuchungsbefund,
Röntgen des Thorax, Echokardiografie, Belastungs-EKG, Kipptischuntersuchung, Spirometrie,
Bodyplethysmografie, cMRT, HWS-MRT und Abdomensonografie hatten unauffällige Befunde
ergeben. Auch der psychopathologische Befund war unauffällig und ohne objektivierbare
Hinweise auf kognitive oder konzentrative Defizite mit verschiedenen Anhaltspunkten
für Aggravation, die sich auch in einer ausführlichen neuropsychologischen Testung
ergaben. Die gezielte Anamnese ergab, dass der Patient nie wissentlich an einer Infektion
mit dem EBV erkrankt war. Das EBV verursacht die infektiöse Mononukleose (Pfeiffersches
Drüsenfieber). Der Patient erinnerte keine hierfür typische Erkrankung mit wegweisenden
Symptomen wie zervikaler Lymphadenopathie, und es waren nie EBV-IgM-Antikörper oder
eine charakteristische Leukozytose mit mononukleären Zellen nachgewiesen worden.
Basis für die Annahme einer EBV-bedingten Fatigue war ein 2 Jahre zurückliegender
Nachweis von EBV-IgG-Antikörpern. Hierbei handelte es sich aber um einen Normalbefund,
da die Durchseuchung der Bevölkerung mit EBV nahezu 100 % ist. Mit dem Ende des 40.
Lebensjahr haben 95 bis 98 % aller Menschen eine EBV-Infektion durchlebt, überwiegend
bereits in der Kindheit. Diese ist meistens, wie offensichtlich auch beim Patienten,
so symptomarm, dass sie nicht bemerkt oder weiter beachtet wird. IgG-Antikörper persistieren
im Anschluss meist lebenslang, weshalb nur IgM-Antikörper eine Akutinfektion anzeigen.
IgM-Antikörper sind typischerweise für 8-10 Wochen nachweisbar.
Das Besondere des geschilderten Falls ist die Verselbständigung einer aus einem Normalbefund
resultierenden unzutreffenden Diagnose, die von mehreren der behandelnden Ärzte unkritisch
aus der eigenanamnestischen Schilderung oder ärztlichen Zeugnissen übernommen und
zur Grundlage eigener AU-Bescheinigungen und Atteste gemacht wurde, zum Teil explizit
mit der Attestierung einer Berufsunfähigkeit. Die S3-Leitlinie Müdigkeit warnt vor
der vorschnellen Akzeptanz pathologischer Laborwerte als ausreichende Erklärung für
Fatiguesymptomatik.
Prof. Dr. Tom Bschor, Berlin
Der deutsche Kinderarzt Emil Pfeiffer (1846-1921), Erstbeschreiber des Pfeifferschen
Drüsenfiebers. (Quelle: Wikipedia; https://de.wikipedia.org/wiki/Emil_Pfeiffer_(Mediziner))
Prof. Dr. Tom Bschor
Redaktion: Dr. Anja M. Bauer
Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie e. V.
Schlosspark-Klinik, Abteilung für Psychiatrie
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