Nervenheilkunde 2022; 41(03): 119-121
DOI: 10.1055/a-1690-0259
Zu diesem Heft

Religiosität in der Psychiatrie

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Thomas Kammer
 
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Prof. Dr. med. Thomas Kammer, Sektion für Neurostimulation, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III Universitätsklinikum UlmQuelle: © privat

Transzendente und spirituelle Erfahrungen werden von Menschen gemacht seit es sie gibt und kommen in allen Kulturen vor. In der Archäologie gelten Begräbnisse, Grabbeigaben sowie Anzeichen von Schmuck oder Symbolen als Kriterium für Menschsein. Die Deutungshoheit über diese Erfahrungswelten haben über Jahrhunderte die Priester und Ältesten der jeweils gesellschaftlich etablierten Religion für sich beansprucht, und in diesem Rahmen den menschlichen Geist insgesamt gleich mit interpretiert, einschließlich der Phänomene, die wir heute einer psychischen Krankheit zuordnen, woraus sich dann therapeutische Konzepte ableiten.

Seit der Aufklärung entwickelte sich in Europa die moderne Psychiatrie als Teil der Medizin, die wiederum seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Vorreitern wie Helmholtz, Brügge, Virchow, Koch und anderen als Teil der Naturwissenschaft begriffen wurde – mit bekanntermaßen überwältigendem Erfolg. Vor diesem Hintergrund beschreibt Emil Kraepelin in der Einleitung zu seinem Lehrbuch der Psychiatrie um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert treffend die zurückliegende Übergangsphase wie folgt: „Zwar hatte der auf die Autorität der Bibel sich stützende Besessenheitsglaube bereits seine Macht verloren, wenn er auch heute noch hier und da im Verborgenen zu blühen scheint. Dagegen erstand der jungen psychiatrischen Wissenschaft (…) ein gefährlicher Feind in gewissen moraltheologischen Auffassungen des Irreseins. Nach diesen Anschauungen sollte die Geistesstörung wesentlich eine Folge der Sünde sein, welche durch eigene Verschuldung Gewalt über den Menschen gewinne und am Ende Leib und Seele verderbe. Gegen diese (…) Anschauungen kämpften mit den Waffen der naturwissenschaftlichen Forschung die ‚Somatiker‘, (…) welche das Irresein für den Ausdruck körperlicher Störungen erklärten.“[1]

In der Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie spielen Religiosität und Spiritualität keine Rolle. Allerdings gehören Religiosität und Spiritualität in irgendeiner Form bei den meisten Patienten zu ihrer Identität und es kann zu Wechselwirkungen mit ihrer psychischen Störung kommen. Auch die spirituelle Grundhaltung einer Therapeutin oder eines Therapeuten kann deren therapeutische Tätigkeit beeinflussen. So hat die DGPPN 2016 ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie fordert, dass in die Ausbildung explizit ein Grundwissen in Religions- und Weltanschauungsfragen integriert werden muss, sowie eine Schulung bezüglich Haltung und Fähigkeiten [2]. Dabei betont das Papier, dass Behandler auf respektvolle Weise religiös neutral bleiben sollen. Genauso wird gefordert, dass Religiosität und Spiritualität sowohl in der Anamnese erfasst als auch im Behandlungsplan berücksichtigt werden sollten. In diesem Heft möchten wir das komplexe Zusammenspiel von Psychiatrie und Religiosität mit sehr unterschiedlichen Beiträgen beleuchten.

Markus Steffens und Anne-Katharina Neddens zeigen in ihrem Beitrag anhand der aktuellen, umfassenden Literatur auf, dass Religiosität sowohl ein Risikofaktor im Zusammenhang mit einer psychischen Störung sein kann als auch als Ressource und Schutz fungieren kann.

Einen anderen Zugang wählen Georg Juckel, Frank-Gerald Pajonk und Paraskevi Mavrogiorgou. In ihren Artikel schildern sie die im Neuen Testament überlieferten Heilungsberichte von „Besessenen“ durch Jesus. Sie schlagen vor, sich aus den Texten bezüglich einer therapeutischen Handlung, und sich aus der Einbeziehung von Glaubensinhalten in das therapeutische Geschehen, inspirieren zu lassen. Ergänzend zu den psychiatrischen Aspekten stellen die Ulmer Klinikseelsorger Richard Münst und Martin Enz ihre Arbeit in der Psychiatrie vor.

Manfred Spitzer beschäftigt sich am Ende des Hefts mit dem Spannungsfeld von Naturwissenschaft und Glaube. Aus der Genetik und den Neurowissenschaften gibt es eine Vielzahl von Befunden, die zur Frage nach der Evolution von Spiritualität und Religiosität Anlass geben. In der Zusammenschau ergibt sich, nicht zuletzt im Rückgriff auf Albert Einstein, dass naturwissenschaftliches Denken und Religiosität nur scheinbarer unvereinbar sind und dass das eine durch das andere jeweils bereichert werden kann.

Im Editorial am Anfang des Heftes geht es um die Zeiterscheinungen „Corona-Leugner“ und „Impfgegner“ aus psychologischer und psychopathologischer Sicht – zwischen Ängsten, Filterblasen, Verschwörungstheorien, überwertigen Ideen und echtem Wahn. Angesichts von deren Bedeutung und vor dem Hintergrund ähnlicher Phänomene in der Vergangenheit sollte der Psychiater sich nicht davor scheuen, hier Stellung zu beziehen.

Keinen direkten Bezug zum Thema des Schwerpunktheftes hat mein eigener CME-Beitrag zur funktionellen Neuroanatomie der Depression. Der aktuelle Kenntnisstand zu Schaltkreisen und Netzwerken wird in Bezug gesetzt zu den therapeutischen Möglichkeiten von transkranieller Magnetstimulation und tiefer Hirnstimulation. Schließlich behandelt Stefan Evers in seinem Artikel eine spezielle Art von Kopfschmerzen: den neu aufgetretenen täglichen Kopfschmerz.

Ich wünsche allen Lesern eine bereichernde Lektüre.

Thomas Kammer, Ulm


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  • Literatur

  • 1 Kraepelin E. Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 7. Aufl. Leipzig: Johann Ambrosius Barth; 1904. Photomechanischer Nachdruck, London: Forgotten Books & c Ltd; 2015
  • 2 Utsch M, Anderssen-Reuster U, Frick E. et al Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie. Positionspapier der DGPPN. Spiritual Care 2017; 06: 141-146

Publication History

Article published online:
03 March 2022

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Kraepelin E. Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 7. Aufl. Leipzig: Johann Ambrosius Barth; 1904. Photomechanischer Nachdruck, London: Forgotten Books & c Ltd; 2015
  • 2 Utsch M, Anderssen-Reuster U, Frick E. et al Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie. Positionspapier der DGPPN. Spiritual Care 2017; 06: 141-146

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Prof. Dr. med. Thomas Kammer, Sektion für Neurostimulation, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III Universitätsklinikum UlmQuelle: © privat