Dr. Stephanie Spieth
Frau Dr. Spieth, viele Frühgeborene haben aufgrund ihrer teilweise extremen Unreife
gesundheitliche Komplikationen. Was begegnet Ihnen als Kinderradiologin am häufigsten?
Die unreifen Organsysteme sind besonders anfällig für viele Erkrankungen. In der Kinderradiologie
sehen wir vor allem pulmonale, abdominale und zentralnervöse Komplikationen. Typische
Lungenerkrankungen sind anfangs das Atemnotsyndrom und später die bronchopulmonale
Dysplasie, eine chronische Lungenerkrankung. Abdominal ist die nekrotisierende Enterokolitis,
eine schwere Entzündung der Darmwand, besonders gefürchtet. Intrakraniell sind Sauerstoffmangel
und Blutungen für die häufigsten Komplikationen verantwortlich. Hierzu zählen Schädigungen
der weißen Gehirnsubstanz wie die periventrikuläre Leukomalazie, intraventrikuläre
Blutungen oder periventrikuläre hämorrhagische Infarzierungen. Die Blutungen können
zu Liquorzirkulationsstörungen und konsekutiv zu einem Hydrozephalus führen. Im weiteren
Verlauf kann es bei den beschriebenen Erkrankungen zu einer Beeinträchtigung der neurologischen
Entwicklung kommen.
Wie kann da die Radiologie jeweils weiterhelfen?
Mittels Bildgebung kann die Diagnose frühzeitig gestellt, die Ausprägung beurteilt
und der Interventionsbedarf eingeschätzt werden. Hierfür kommen bei den Frühgeborenen
vor allem der Ultraschall bei Schädel- und Abdomenuntersuchungen sowie das Röntgen
bei Thorax- und Abdomenuntersuchungen zum Einsatz, seltener die MRT im Schädelbereich.
Die Untersuchung so kleiner Patientinnen und Patienten ist eine große Herausforderung.
Auf welche Punkte müssen Sie als Kinderradiologin besonders achten?
Eine besonders strenge Indikationsstellung ist für uns sehr wichtig, das bedeutet,
es muss eine kritische Situation vorliegen, die einer weiteren Abklärung bedarf. Denn
jede Untersuchung bedeutet Stress für das Frühgeborene und stellt ein gewisses Risiko
dar, etwa durch Umlagerung mit Dislokationen oder Wärmeverlust. Dem kann unter anderem
durch die Untersuchung im Inkubator entgegengewirkt werden. Bisher erfolgen der Ultraschall
und die Röntgenuntersuchung am Bett, in Zukunft wird das auch mit der MRT möglich
sein. Bis dahin werden Transportinkubatoren und mancherorts auch MR-Inkubatoren zum
konstanten Halten der Temperatur eingesetzt.
Braucht es für die Untersuchung von Frühgeborenen besondere Kenntnisse?
Auf jeden Fall, sowohl auf Seite der Medizinisch-Technischen Radiologieassistentinnen
und -asisstenten als auch ärztlicherseits, damit die Untersuchung kindgerecht durchgeführt
und korrekt interpretiert werden kann. Technisch steht hier bei der Röntgenuntersuchung
vor allem der Strahlenschutz im Vordergrund, bei der MRT-Untersuchung ist die geringe
Patientengröße eine Herausforderung. So ist ein Frühgeborenes der 24. Schwangerschaftswoche
nur etwa 30 cm lang. Zudem haben wir es bei den Frühgeborenen nicht nur mit anderen
anatomischen beziehungsweise physiologischen Verhältnissen, sondern auch mit Frühchen-spezifischen
Krankheitsbildern zu tun.
Warum ist der Strahlenschutz bei Röntgenuntersuchungen so wichtig?
Aufgrund der besonders hohen Strahlenempfindlichkeit von kleinen Kindern im Vergleich
zu Erwachsenen, unter anderem durch Unterschiede in Anatomie und Physiologie, muss
die Anwendung ionisierender Strahlung sehr bedacht erfolgen. Zudem ist oft umso häufiger
eine Bildgebung erforderlich, je geringer das vorliegende Gestationsalter ist.
Gibt es auch bei Ultraschall und MRT Sicherheitsaspekte, die Sie beachten?
Hier stellt eher, falls notwendig, der innerklinische Transport mit den bereits genannten
Risiken der Stressinduktion durch unter anderem Umlagern oder Wärmeverlust sowie die
notwendige Überwachung ein Problem dar. Für die MRT-Untersuchung gelten ansonsten
die gleichen Sicherheitsvorkehrungen wie für größere Kinder und Erwachsene auch.
Können Eltern bei den Untersuchungen dabei sein? Und von wem erfahren sie das Ergebnis
der Untersuchung?
Prinzipiell können die Eltern bei den Untersuchungen mit dabei sein, wobei das eher
bei den Untersuchungen am Bett der Fall ist. Die MRT-Untersuchung erfolgt in der Regel
in Begleitung der neonatologischen Kollegen, die den Eltern meist auch den Befund
übermitteln. Besonders wichtig ist deshalb die enge Zusammenarbeit der Kinderradiologen
mit den pädiatrischen Intensivmedizinern, auch im Vorfeld der Untersuchung. Hier steht
die gemeinsame Aufklärung der Eltern im Vordergrund, um ihnen die Notwendigkeit der
Untersuchung zu vermitteln und ihnen die Angst davor zu nehmen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Dr. Spieth!
Was ist Kinderradiologie?
Die Kinder- und Jugendradiologie (offizielle Bezeichnung durch die Bundesärztekammer seit 2019) beschäftigt sich mit
der speziellen Bildgebung beim Neugeborenen, Säugling, Kleinkind, Schulkind und Jugendlichen.
Kinderradiologinnen und Kinderradiologen sind Radiologinnen und Radiologen, die in
einer (in Deutschland aktuell zweijährigen) fachärztlichen Schwerpunktweiterbildung
speziell in der Kinderradiologie geschult sind. Sie legen großen Wert darauf, die
Untersuchungen von Kindern schonend und mit geringstmöglicher Strahlendosis durchzuführen.
Bevorzugte Methoden kinderradiologischer Bildgebung sind daher die ohne Röntgenstrahlen
arbeitenden Verfahren wie die Sonografie (Ultraschalluntersuchung) und die Magnetresonanztomografie
(MRT).
Die GPR als wissenschaftliche Vereinigung der deutschsprachigen Kinderradiologen (Deutschland,
Österreich und Schweiz) wurde 1963 gegründet. Aktuell zählt sie über 380 Mitglieder.
Im Fokus steht die wissenschaftliche Vernetzung, die Nachwuchsförderung, die Vertretung
des Fachs im Wissenschaftsbetrieb und in der Berufspolitik.