Psychiatr Prax 2022; 49(06): 293-294
DOI: 10.1055/a-1738-6905
Debatte: Pro & Kontra

Offenlegung psychischer Krisenerfahrungen bei psychiatrischen Fachkräften – Pro

Disclosure of One’s Own Crisis Experiences by Psychiatric Professionals – Pro
Jann E. Schlimme
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Privatdozent für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover, Praxis für Psychotherapie, Psychiatrie und Psychosebegleitung
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Geheimnisse sind wichtig. Sie sind identitätsbildend. Dennoch bin ich überzeugt: Eine echte Humanisierung im Umgang mit seelischen Krisen, psychosozialen Problemen und anhaltenden psychosozialen Einschränkungen kann – auf allen Ebenen unserer Gesellschaft – nur erfolgen, wenn wir therapeutisch Tätigen offener mit unseren eigenen Verwundungen und Verletzlichkeiten umgehen. Diese These stellt Stephen Hinshaw in seinem Schlusswort der lesenswerten Sammlung von Erfahrungsberichten krisenerfahrener psychiatrisch und psychosozial Tätiger auf ([1], S. 359). In meinem Beitrag erläutere ich, warum ich diese These teile.

Im Verlauf meiner bald 25-jährigen psychiatrisch-psychotherapeutischen Tätigkeit habe ich gelernt, dass ich nur dann wirklich (mit-)menschlich mit meinen Patient*innen umgehen kann, wenn ich innerlich offen zu meinen eigenen Krisenerfahrungen bin. Dies betrifft insbesondere meine Psychose im 21. Lebensjahr. Weitere Krisenerfahrungen und Notlagen kommen dazu, eigene Psychiatrieerfahrung als Nutzer bzw. Betroffener jedoch nicht. Innerliche Offenheit zu den eigenen Krisenerfahrungen würde sicherlich jede psychodynamisch geprägte Psychotherapeut*in einfordern. Genau dem dient die Lehrtherapie bzw. Selbsterfahrung. In der These geht es aber um mehr. Denn es geht explizit darum, die eigenen Krisenerfahrungen gegenüber Dritten offenzulegen. Dies meint sowohl den privaten als auch den kollegialen und öffentlichen, zuweilen auch den therapeutischen Raum. Es gibt gute Argumente für ein selbst gesteuertes Offenlegen, aber auch nachvollziehbare Ängste vor der Dynamik, die dadurch ausgelöst werden können. Beginnen wir mit dem therapeutischen Raum, da hier sicherlich die größten Vorbehalte bestehen.

Offenlegung im therapeutischen Raum bedeutet nicht primär, dass wir therapeutisch Tätigen unsere eigenen Krisenerfahrungen und psychosozialen Problemen direkt mitteilen. Es bedeutet, dass wir unserem Gegenüber neugierig und interessiert zuhören und unsere Ideen, was jetzt hilfreich sein könnte, geduldig und gelassen ins Spiel bringen und einen Raum aufspannen, in dem der andere seine Ideen platzieren kann. Ebenso, wie wir uns das selbst gewünscht hätten und vielleicht sogar erfahren haben, ob nun von Profis, Angehörigen oder engen Freunden. Ich möchte dies die Haltung des „verletzten Heilers“ nennen [2]. Sie entspricht m. E. der Haltung einer guten Psychotherapeut*in, wie sie Michael Buchholz beschreibt [3]. Diese Haltung mag in bestimmten Ausnahmesituationen schwierig oder vielleicht sogar unmöglich sein. Aber vermutlich können wir „verletzte Heiler“ zumindest manche dieser Situationen dadurch entschärfen, indem wir der Angst und dem Misstrauen des anderen Raum geben, da wir diese zuerst spüren und sie im Sinne eines „Ich kenne das, wenn auch vielleicht nicht so intensiv wie Sie das gerade erleben …“ formulieren. Mindestens aber gibt es uns „verletzten Heilern“ einen gewissen Vertrautheitsvorschuss mit dem, was den anderen bewegt [4]. In allen engeren und weiteren Formen psychotherapeutischen Tuns ist diese Haltung des „verletzten Heilers“ eigentlich der angestrebte Goldstandard, auch wenn er eben nicht so genannt wird. Er lebt von der Offenheit zu eigenen Krisenerfahrungen, ohne dass diese Erfahrungen zwingend im therapeutischen Raum benannt werden müssen.

Offenlegung im privaten Raum soll hier nur kurz angerissen werden. Es sollte aus heutiger Perspektive selbstverständlich sein. Dabei fällt das Offenlegen natürlich leichter, wenn die Betreffenden nahestehen und hilfreich sind. Bei therapeutisch Tätigen mit tiefgreifender seelischer Krisenerfahrung ist m. E. anzunehmen, dass sie über solche Personen verfügen.

Ambivalenter ist das Offenlegen im kollegialen Raum, da dies die eigene therapeutische Kompetenz in Zweifel ziehen kann und Stigmatisierung unter Kollegen droht. Auch mir fällt das Offenlegen vor Kollegen schwer. Der Bericht einer durchgemachten psychotischen Episode provoziert m. E. insbesondere bei denjenigen, die ein sehr eng gefasstes biologisches Verständnis von Psychosen haben, eine Abqualifizierung der eigenen Person und der vertretenen Standpunkte. Allerdings kann man dabei auch Überraschungen erleben, beispielsweise wenn sich die andere Person durch den eigenen Bericht dazu durchringt, ihrerseits eigene Erfahrungen offenzulegen. Dies ist mir wiederholt passiert. Und wir empfanden es beide als entlastend. Allerdings kenne ich auch gegenteilige Reaktionen, die von Ungläubigkeit der berichteten Erfahrung bis hin zum künftigen Meiden und Abgrenzen reicht.

Damit kommen wir zur Offenlegung im öffentlichen Raum. Meine Pro-Position in dieser Diskussion ist ja genau das. Ich habe dies bereits an anderen Stellen getan ([5], S. 10; [2]), aber auch in Trialogen und anderen öffentlichen Gesprächen den Umstand eigener Psychoseerfahrung benannt. Wobei ich üblicherweise nicht ins Detail gehe. In den letzten Jahren habe ich auch unter dem Eindruck der o. g. These den Mut gefasst, offener zu sein [4]. Psychiatrieerfahrene sind ja tatsächlich, ob in der Selbsthilfe oder als EX-IN-Kräfte im Gesundheits- und Eingliederungshilfewesen, die Prototypen des „verletzten Heilers“. Die Einmischung und Beteiligung Erfahrener in den Hilfestrukturen auf allen Ebenen von der Politik über die Praxis bis zur Forschung hat hier einen fruchtbaren Boden bereitet, prachtvolle Blüten hervorgebracht und viele Samenkörner gelegt. Ihre öffentlichen Geschichten sollten auch uns verletzten Heiler*innen Mut machen, uns zu öffnen, damit die Saat umfassend aufgeht.

Was könnte im Fachdiskurs und in der Öffentlichkeit durch dieses vermehrte Offenlegen ausgelöst werden? Es könnte ein psychosozialeres, freilich nicht abiologisches Verständnis auch schwerwiegender seelischer Krisen- und Notlagen stark machen. Ein Verständnis, welches die Interaktion von psychischer Verfassung und sozialer Umfeld- und Kulturstruktur dezidierter in den Blick nimmt und sein Vorbild im Behinderungsbegriff der UN-Behindertenrechtskonvention hat. Es könnte ein Empowerment der seelisch Beladenen mit sich bringen, welches konsequent Hilfe zur Selbsthilfe betreibt. Es könnte eine ganz neue Qualität der Hilfe und Hilfestrukturen entstehen, eine trialogische Wende.

Verschiedene Umfragen unter psychiatrisch Tätigen illustrieren die Bedeutung dieser Überlegungen. So ist die Gruppe psychiatrisch Tätiger mit seelischer Krisenerfahrung regelhaft hoch und schwankt zwischen 30 und 60 %, wobei die Rate bei psychotherapeutisch Qualifizierten höher zu liegen scheint. Zugleich ist die Offenlegung dieser Krisenerfahrung abseits des privaten Rahmens gering [6]. Die Erfahrung liegt vor, aber sie wird im Diskurs nicht wirksam – weder im Fachdiskurs, noch im öffentlichen Diskurs. Es wird Zeit, dass sich dies ändert.


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Autorinnen/Autoren

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Jann E. Schlimme

Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Hinshaw SP. Hrsg. Breaking the Silence. Oxford: Oxford University Press; 2008
  • 2 Schlimme JE. Der verletzte Heiler. Professionell tätige Therapeut:innen und eigene seelische Krisenerfahrung. Sozialpsychiatrische Informationen 2021; 51: 47-51
  • 3 Buchholz MB. Zur Lage der professionellen Psychotherapie. Forum Psychoanalyse 2017; 33:  289-310 DOI: 10.1007/s00451-017-0260-4.
  • 4 Schlimme JE. Über die „verletzten Heiler“. Krisen- und Genesungserfahrungen von Therapeuten. In: Gödde G, Püschel E, Schneider S. Hrsg. Psychodynamisch denken lernen. Grundlinien psychodynamischer Psychotherapie für Ausbildung und Praxis. Heidelberg: Springer; im Druck
  • 5 Schlimme JE, Brückner B. Die abklingende Psychose. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2017
  • 6 Yasgur BS, Stigma C. Should Psychiatrists Disclose Their Own Mental Illness. Psychiatry Advisor. 11 January 2019

Korrespondenzadresse

Priv.-Doz. Dr. med. Dr. phil. Jann E. Schlimme M.A.
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Privatdozent für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover, Praxis für Psychotherapie, Psychiatrie und Psychosebegleitung
Kapweg 3
13405 Berlin
Deutschland   

Publication History

Article published online:
05 September 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Hinshaw SP. Hrsg. Breaking the Silence. Oxford: Oxford University Press; 2008
  • 2 Schlimme JE. Der verletzte Heiler. Professionell tätige Therapeut:innen und eigene seelische Krisenerfahrung. Sozialpsychiatrische Informationen 2021; 51: 47-51
  • 3 Buchholz MB. Zur Lage der professionellen Psychotherapie. Forum Psychoanalyse 2017; 33:  289-310 DOI: 10.1007/s00451-017-0260-4.
  • 4 Schlimme JE. Über die „verletzten Heiler“. Krisen- und Genesungserfahrungen von Therapeuten. In: Gödde G, Püschel E, Schneider S. Hrsg. Psychodynamisch denken lernen. Grundlinien psychodynamischer Psychotherapie für Ausbildung und Praxis. Heidelberg: Springer; im Druck
  • 5 Schlimme JE, Brückner B. Die abklingende Psychose. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2017
  • 6 Yasgur BS, Stigma C. Should Psychiatrists Disclose Their Own Mental Illness. Psychiatry Advisor. 11 January 2019

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