Die Psychiatriereformer*innen der 1970er-Jahre, innerhalb und außerhalb der Kliniken,
hatten die Vision einer umfassenden Behandlung und Versorgung psychisch kranker Menschen
in der Nähe ihrer Wohngemeinde und in enger Verbindung mit der somatischen Gesundheitsversorgung.
Zur Umsetzung dieser Vision ist seitdem vieles geschehen. Bundes- und Landesprogramme,
Sozialgesetzgebung und Krankenhausplanung haben die Verhältnisse in den letzten 50
Jahren grundlegend verändert und die Vision in vielen Bereichen zur Realität werden
lassen. Dennoch sind weitere, aktualisierte Konzepte notwendig, um die Versorgung
systematisch zu verbessern und die einzelnen Bausteine besser aufeinander zu beziehen.
Ein Beispiel hierfür ist das Funktionale Basismodel von Steinhart und Wienberg [1], das eine konsequente Ambulantisierung der Hilfen und eine Überwindung von tradierten
strukturellen Grenzen einfordert. Die Zeit dafür scheint reif und die gesetzlichen
Rahmenbedingungen verändern sich in ermutigender Weise.
Wesentliche Impulse für eine mögliche Neuorientierung gehen von der Neuordnung der
sozialen Rehabilitation, gebündelt im Bundesteilhabegesetz (BTHG), basierend u. a.
auf der UN-Behindertenrechtskonvention, aus. Die konsequente Orientierung an der Teilhabe
als zentralem Ziel von Behandlung und Rehabilitation gibt den Behandlungs- und Betreuungskonzepten
eine neue, streng gemeindepsychiatrische Ausrichtung. Ich komme später darauf zurück.
Auch verschiedene Initiativen der Gesundheitsgesetzgebung (SGB V) haben zu einer starken
Veränderung der Behandlungsangebote gegenüber den 1970ern geführt.
Neben den psychiatrischen Fachkliniken haben sich in ähnlicher Zahl psychiatrische
Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern entwickelt (alternativ dazu Satellitenstationen
von Fachkrankenhäusern), um einerseits die Gemeindenähe, andererseits die Verbindung
zur somatischen Krankenversorgung zu sichern.
Die diagnosespezifische Behandlung hat sich, aufbauend auf entsprechenden wissenschaftlichen
Leitlinien, in Form von Fachabteilungen flächendeckend durchgesetzt.
Auch die tagesklinische, oft spezialisierte, Behandlungsform hat sich, nach frühen
ersten Versuchen in den 1960ern, über die Jahre hinweg weitgehend etabliert. So betreiben
wir in unserer Reutlinger Klinik im Tagesklinik- und Ambulanzzentrum derzeit sechs
spezialisierte Tageskliniken mit zugehörigen Institutsambulanzen.
Die psychiatrischen Institutsambulanzen sind ebenfalls flächendeckend tätig und bilden
eine unverzichtbare Säule der ambulanten Versorgung. Leider ist deren Leistungsumfang
bundesweit sehr unterschiedlich ausgestaltet und bleibt oft weit hinter den gesetzlichen
Möglichkeiten zurück. In vielen Ländern ist zudem eine enge Begrenzung durch pauschalierte
Finanzierungsformen bittere Realität.
Ambulante Psychotherapie hat sich erfreulicherweise in breitem Umfang etabliert, leider
ist sie aber für die schwer und chronisch Kranken praktisch nicht verfügbar. Auch
ambulante Pflege, Soziotherapie und ambulante Ergotherapie konnten entwickelt und
ausgebaut werden, wenn auch nicht im gewünschten Umfang.
Es sind also bereits viele positive Entwicklungen in der Behandlung schwer psychisch
kranker Menschen festzustellen, eine Reihe von Defiziten besteht jedoch weiterhin.
Die Frage ist nun, welche Rolle die neue und seit 2018 gesetzlich verankerte Behandlungsform
der stationsäquivalenten Behandlung (StäB) im gesamten Behandlungs- und Versorgungsangebot
spielt und wieso sie als wesentlicher Baustein in der Vision einer gemeindeintegrierten,
patientenzentrierten Versorgung zu betrachten ist?
Die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen für StäB sind im PsychVVG
§ 115d [2] sowie in der Bundesrahmenvereinbarung der Selbstverwaltungspartner [3] niedergelegt. In den letzten beiden Jahren erschien eine Reihe von Veröffentlichungen
zur Umsetzung von StäB, viele davon auch in dieser Zeitschrift. Zwei Fachbücher zu
StäB sind erschienen [4]
[5] und führen in die Hintergründe und in die Herausforderungen der Umsetzung dieser
in Deutschland ungewohnten innovativen Behandlungsform ein. Bezüglich der vorliegenden
Behandlungserfahrungen und ersten statistischen Auswertungen sei auf diese Quellen
verwiesen.
Die aktuell rund 50 StäB durchführenden Klinken sind gut vernetzt in der AG-StäB der
DGPPN. Das vom Innovationsfonds geförderte Forschungsprojekt AKtiV [6]
[7] wird erste fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse liefern. Auf die unsägliche
Positionierung des GKV-Spitzenverbandes zu STäB im Bericht der Selbstverwaltungspartner
an das Bundesministerium für Gesundheit vom Dezember 2021 [8] soll hier nicht eingegangen werden, es wurde vielfältig darauf reagiert [9]
[10].
Für die Patient*innen und die Therapeut*innen sind die wesentlichen Vorteile von StäB,
gerade im gemeindepsychiatrischen Kontext, jedoch offenkundig: Die intensive Akutbehandlung
verlagert sich von der Institution Krankenhaus direkt hinein in die Gemeinde. Grundsätzlich
ist jedes Bett der Bewohner*innen einer Stadt oder eines Landkreises ein potenzielles
„Krankenhausbett“. Der Einblick in die häusliche Lebenssituation, die Möglichkeit,
die Behandlungsziele an den Zielen der Teilhabe auszurichten und diese wieder herzustellen
bzw. zu stabilisieren, die Möglichkeit der Einbindung der direkten Bezugspersonen
in das Behandlungsgeschehen und die Vermeidung der Desintegration im sozialen Umfeld
durch längere Klinikaufenthalte sprechen für sich. Hinzu kommt, dass manche Patient*innen
nur über StäB eine intensive, der stationären Behandlung gleichwertige, Behandlung
in Anspruch nehmen (können). Dies gilt für alle, die aus eigener Erfahrung heraus
eine stationäre Behandlung meiden, dieser aufgrund der (zu) großen Nähe zu anderen
Personen nicht gewachsen sind oder für die aufgrund ihrer Symptomatik eine stationäre
Behandlung ausgeschlossen ist. Zu denken ist hier an schwere Zwangs- und Angsterkrankungen
sowie manche psychotische Erlebensformen. Auch die Bindung ans häusliche Umfeld durch
minderjährige Kinder, zu pflegende Angehörige oder zu versorgende Haustiere ist ein
häufiger Grund gegen eine stationäre Aufnahme.
Während der StäB-Dauer kann die Intensität der Behandlung und die Art der Behandlungsinhalte
hoch individuell gestaltet werden, mit der Einschränkung des Mindestmaßes eines täglichen
aufsuchenden Kontaktes. Leider gilt dies nicht für die Zeit nach Entlassung. Der Bruch
in der Behandlungsintensität bei Entlassung entspricht eben auch („stationsäquivalent“)
dem nach einer stationären Behandlung – und ist ebenso kritikwürdig.
Die Lücke zur tagesklinischen Behandlung, insbesondere aber zur ambulanten Behandlung
in der PIA, ist nach wie vor gewaltig. In Baden-Württemberg werden in der PIA aktuell
nur rund 3–4 Stunden Behandlungskontakt pro Quartal über eine Pauschalvergütung finanziert.
In manchen Bundesländern ist durch die Art der PIA-Finanzierung eine Möglichkeit der
intensiven PIA-Behandlung geschaffen worden, die an eine stationäre oder stationsäquivalente
Akutbehandlung gut anknüpfen könnte – wenn sie denn entsprechend auskömmlich wäre.
Eine aufsuchende bedarfsgerechte PIA-Behandlung im multiprofessionellen Team könnte
die notwendige Brücke bis hin zur Akutbehandlung in StäB (und wieder zurück) schlagen.
Geöffnet werden müsste die PIA-Behandlung dann aber auch für Menschen außerhalb der
klassischen PIA-Kriterien, die oft ebenfalls eine solche Übergangsbehandlung bis zurück
zur Intensität der fachärztlichen Versorgung benötigen.
Die gesetzlichen Möglichkeiten zur stufenlosen, bedarfsgerechten, patientenorientierten
ambulant-aufsuchenden Behandlung psychisch kranker Menschen sind also grundsätzlich
gegeben. Die Umsetzung scheitert derzeit mancherorts an der Fantasielosigkeit der
Einrichtungsträger, hier und da an der Trägheit der Planungsbehörden auf Landesebene,
insbesondere und am häufigsten aber an der Verweigerungshaltung der Krankenkassen.
Quasi als Gegenstück dazu eröffnet das BTHG grundsätzlich alle Möglichkeiten auch
der intensiven sozialrehabilitativen Begleitung und Betreuung im eigenen häuslichen
Umfeld. Die gewohnte Verknüpfung von hohem Betreuungsbedarf mit Wohnen im Heim oder
einer stationären WG kann im Einzelfall sinnvoll sein, ist aber nicht mehr zwingend.
Viele bisher stationär geführten Angebote können überführt werden in ambulante Betreuungsformen.
Die Betreuungsintensität kann – und soll – rasch anpassbar sein an den aktuellen individuellen
Bedarf der Klient*innen. Durch die Konzentration auf die Fachleistungsstunden im Rahmen
der Assistenzleistungen, unabhängig von der Wohnform im traditionellen ambulanten
oder stationären Setting, können kleinere Veränderungen im Versorgungsbedarf z. B.
durch kurzfristige Verschlechterungen des Zustandsbildes im Kontext der sozialen Rehabilitation
abgefangen werden. Wo eine ergänzende, intensive Pflege notwendig ist, kann diese
durch den ambulanten Pflegedienst erbracht werden. So können künftig Krisen im gewohnten
Umfeld, mit den vertrauten Bezugspersonen, abgefangen werden. Falls dies nicht reicht,
sollte künftig über flexibel einsetzbare PIA-Tätigkeit die Behandlung ergänzend intensiviert
werden, ggf. bis hin zur Akutbehandlung einer schweren Krise in der Tagesklinik oder
durch StäB. In gleicher Form kann die Behandlungs- und Betreuungsintensität im Anschluss
wieder langsam reduziert werden. Im Idealfall wäre während der ganzen Zeit die betreuende
Bezugsperson aus der Wohnbetreuung kontinuierlich in das Behandlungsgeschehen einbezogen,
ggf. auch als beauftragter Leistungserbringer, wie dies in StäB rechtlich bereits
vorgesehen ist. In solchen eng vernetzten Strukturen und in der sinnvollen, aufeinander
abgestimmten Nutzung von Ressourcen aus den beiden Vergütungssystemen könnte eine
weitgehend nahtlose, bedarfsgerechte, patientenzentrierte Begleitung, Betreuung und
Behandlung realisiert werden.
Die Bausteine liegen weitgehend vor, die Umsetzung muss im BTHG-Kontext in den nächsten
Jahren klug bedacht und ggf. vor Ort erstritten werden. Gleiches gilt für die Erweiterung
und Neuausrichtung der PIA. Eine mittelfristige Umsetzung der Vision einer umfassenden
Begleitung, Betreuung und Versorgung im eigenen häuslichen Umfeld, unabhängig vom
Ausmaß des aktuellen Unterstützungs- und Behandlungsbedarfs ist aber realistisch.
In Reutlingen arbeiten wir auf dieses Ziel intensiv hin. In zwei gemeinsam geleiteten
gemeinnützigen GmbHs halten wir alle Bestandteile der SGB V Behandlung (PP.rt) und
alle Bestandteile der gemeindepsychiatrischen sozialrehabilitativen Angebote (GP.rt)
vor. Hier wollen wir die skizzierten Ideen modellhaft umsetzen. Für Reutlingen und
viele andere gemeindepsychiatrisch gut entwickelte Regionen gilt, dass bei entsprechender
Bereitschaft bei den Kostenträgern und den beteiligten Institutionen, ein weiterer
Quantensprung in der Qualität psychiatrischer Versorgung 50 Jahre nach Erscheinen
der Psychiatrie-Enquete möglich ist. Der stationsäquivalenten Behandlung wird in diesem
Szenario eine wesentliche Rolle zukommen.