Auf den ersten Blick erwartete Stephanie Moers nichts Ungewöhnliches, als sie die
Therapie mit der neuen Patientin begann. Ein Schmerztherapeut einer Praxis für Schmerzdiagnostik
und Schmerztherapie hatte die Frau mit Beschwerden im Rücken und im oberen Schulterbereich
überwiesen. „Es klang nach typischen muskuloskelettalen Beschwerden“, sagt die Physiotherapeutin.
Die Patientin war nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt, stand voll im Berufsleben,
und äußerlich fiel an ihr überhaupt nichts auf. Aber schon während der ersten Sätze
der Anamnese merkte die Therapeutin, dass irgendetwas merkwürdig war: „Ich habe das
Gefühl, dass sich meine Muskeln selbstständig unter der Haut bewegen“, berichtete
die Patientin. „Meine Haut sitzt zu locker. Und mein Oberkörper ist zur Seite gewichen.“
Über Schmerzen erzählte sie nichts. Die Beschwerden bestünden seit zwei Monaten, einen
Auslöser hätte es nicht gegeben. Der Therapeutin fiel auf, wie nervös die Frau war:
Schon während der Anamnese stand sie auf und begann unaufgefordert, sich auszuziehen.
„Sie wollte mir unbedingt etwas zeigen“, sagt Stephanie Moers. Die Inspektion war
vollkommen unauffällig – kein Shift des Oberkörpers, keine Asymmetrien. Auch bei den
Bewegungsuntersuchungen fand sich nichts. Moers war ratlos. „Ich hatte keine Hypothese,
keinen Anhaltspunkt, an den ich meine Physiotherapie ansetzen konnte“, sagt sie. „Das
habe ich der Patientin mitgeteilt und ihr vorgeschlagen, dass wir Sachen ausprobieren
und experimentieren.“
Viel Therapie für nichts
Sie begann mit einer Weichteiltherapie, mit Massage und Lockerungen. Als diese keinen
Effekt hatten, wählte sie einen aktiven Ansatz mit Übungen für den Muskeltonus. Es
passierte nichts. Die Physiotherapeutin wechselte erneut den Therapieansatz und trainierte
die Körperwahrnehmung der Patientin, etwa mit progressiver Muskelentspannung nach
Jacobson. Die verzweifelte Frau ließ sich auf alles ein, lag auf der Liege, spürte
ihren Körper und ihren Atem, entspannte ihre Muskeln, spannte sie im Wechsel wieder
an – und es bewirkte überhaupt nichts. Ihre „komischen“ Muskeln „wanderten“ weiter
unter der Haut, und die Haut „konnte das nicht mehr fassen“. Einmal sagte sie, es
fühle sich an, als sei ihr Körper verrückt, ihr Oberkörper wäre zur Seite gewichen.
Nach vier von sechs geplanten Sitzungen brach Stephanie Moers die Therapie ab. Die
Patientin hatte einiges an Gewicht abgenommen und zuvor schon eine erfolglose Physiotherapie
hinter sich gebracht. Sie, ihr Ehemann und die Physiotherapeutin machten sich Sorgen.
„Hier passierte etwas Besonderes, das ich so nicht kannte“, sagt Stephanie Moers,
die viel Erfahrung in ihrem Beruf hat. Sie rief den Arzt an und schilderte ihm den
Verlauf. Die Beschwerden der Patientin hatten sich weder gebessert noch verschlechtert,
die Physiotherapie hatte einfach nichts bewirkt. Der Schmerztherapeut ordnete ein
neurologisches Konsil an, das ebenfalls nicht weiterführend war. Er untersuchte weiter,
stellte schließlich die Diagnose „Zönästhesie“.
Zönästhesie: groteske Leibgefühle
Zönästhesie: groteske Leibgefühle
Zönästhesie (auch Coenästhesie) bedeutet wörtlich aus dem Griechischen abgeleitet
nicht viel mehr als „allgemeine, gemeine Wahrnehmung, Empfindung“. Ein anderer Begriff
lautet „Leibempfindung“. Im Lehrbuch Psychiatrie von Gerd Huber werden Zönästhesien
als „qualitativ eigenartige Leibgefühle ohne das Kriterium des Gemachten“ beschrieben
[1]. Die Beschwerden sind demnach so mannigfaltig, eigenartig und bizarr, dass es Patient*innen
schwerfällt, sie zu beschreiben. Daraus folgen oft grotesk anmutende Vergleiche und
Bilder, etwa: „… als ob die Zunge einer Kuh über mein Gehirn klatscht. Das ist furchtbar
unangenehm“ [2].
Zönästhesien erkennen
Tipps für die Praxis
-
Schmerzqualität erfragen, ohne Antwortmöglichkeiten vorzugeben
-
bei bizarren Schilderungen Rücksprache halten und wegen des Verdachts auf Zönästhesie
um Vorstellung bei einer Psychiaterin oder einem Psychiater bitten
-
mit Patient*innen besprechen, dass es sich um einen organischen Schmerz handelt –
der zwar nicht klassisch wie bei einer Blinddarmentzündung ist, sondern eher mit Botenstoffproblemen
im Hirn zu tun hat, wie man es etwa beim Morbus Parkinson kennt
Zönästhesien gelten als Symptom einer Schizophrenie. Etwa 70 Prozent aller an Schizophrenie
erkrankten Menschen entwickeln in ihrem Leben diese Beschwerden. Was viele aber nicht
wissen: Zönästhesien können auch unabhängig von psychiatrischen Erkrankungen als eigene
Schmerzform auftreten.
Selten und oft verkannt
Oberarzt Dr. med. Michael Brinkers arbeitet als Psychiater in der Schmerzambulanz
der Klinik für Anästhesiologie der Universität Magdeburg. Er und sein Team untersuchten
retrospektiv alle Patient*innen, die in einem Zeitraum von fünf Jahren in ihrer Schmerzambulanz
aufgenommen worden waren, auf Zönästhesien. Von 844 ausgewerteten Fällen erfüllten
57, also 6,7 Prozent, die Kriterien dafür. Von diesen wiesen 27 keine sonstigen psychopathologischen
Auffälligkeiten auf [3].
„Wir waren überrascht, dass es so viele Patient*innen waren“, sagt der Arzt. Abgesehen
von Schizophrenie gelten Zönästhesien als seltene Phänomene. Das sind sie auch, aber
sie werden dafür häufig verkannt. Bei keiner bzw. keinem der Magdeburger Patient*innen
stand auf dem Konsil- oder Überweisungsschein „Zönästhesie“. Die Diagnosen lauteten
stattdessen zum Beispiel „somatoforme Schmerzstörung“, „orofaziales Syndrom“, „idiopathischer
Gesichtsschmerz“ oder auch „Glossodynie – Zungenbrennen“. Bei etlichen Patient*innen
traten die Empfindungen am Kopf und im Gesicht auf. Sie beschrieben dann etwa, dass
„beim Zungenkontakt die Zähne im Oberkiefer versinken“. Oder: „Die Schmerzen sind
so, als wenn das Zahnfleisch von links nach rechts abperlt.“
Beschwerden frei schildern lassen
Beschwerden frei schildern lassen
Um eine Zönästhesie zu erkennen, ist es laut Michael Brinkers wichtig, Patient*innen
ihre Beschwerden bei der Anamnese frei schildern zu lassen und nicht etwa vorgefertigte
Schmerzklassifikationen auf Fragebögen zu verwenden. „Patienten mit Zönästhesien benutzen
bizarre Beschreibungen und nicht die üblichen Kategorien wie brennend, einschießend
oder stumpf“, sagt er. Manche Kolleg*innen schätzten die Zönästhesien einfach als
besonders blumige Ausdrucksweise der Patient*innen ein. „Das sollte man nicht tun“,
sagt Michael Brinkers. „Zönästhesien sind echte Halluzinationen.“ Diese sind der Psychiatrie
bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Den Leidensdruck sollte niemand
unterschätzen. Denn prinzipiell können nicht behandelte Schmerzen im Suizid enden,
betont Brinkers.
Medikamente helfen, Physiotherapie nicht
Medikamente helfen, Physiotherapie nicht
Als Ursache von Zönästhesien vermutet man laut Michael Brinkers ein Transmitterungleichgewicht,
wahrscheinlich ist das Dopamin-System beteiligt. Die gute Nachricht: Eine medikamentöse
Therapie mit Neuroleptika hilft in der Regel gegen Zönästhesie. „Nach zwei bis vier
Wochen sind die Beschwerden normalerweise verschwunden“, sagt der Psychiater. Erfreulich
ging die Geschichte zum Glück auch für die Patientin von Stephanie Moers aus. Auch
bei ihrer Patientin war weder eine Schizophrenie noch eine andere psychiatrische Erkrankung
bekannt. Eine schwere körperliche Erkrankung stellte sich bisher ebenso wenig heraus.
Das Gewicht hatte sie wahrscheinlich durch ihre Nervosität verloren. Der Schmerztherapeut
behandelte mit Duloxetin. In einer E-Mail berichtete er, dass es der Frau seither
anhaltend gut gehe.
Stephanie Moers sieht in ihrer Praxis vor allem Menschen mit orthopädischen Beschwerden,
die Zönästhesie war etwas Besonderes. Was sie aus dem Fall lernt: „Wenn einem etwas
seltsam vorkommt, stets Rücksprache halten. Und: Physiotherapie ist nicht immer das
beste Mittel.“
Silja Schwencke