physiopraxis 2022; 20(11/12): 68-69
DOI: 10.1055/a-1942-0007
Perspektiven

Echt mieses Karma – Maier-Kolumne

 

Es gibt diese Hausbesuche und Patient*innen, da würde man am liebsten den direkten Weg zurück zum Auto einschlagen. Da hilft nur eines: Ruhe bewahren. Kolumnistin Ulrike Maier bringtʼs auf den Punkt.


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Quelle: © S. Schaaf/Thieme

Es gibt Zeiten, da behandelt man gefühlt nur „Lumbalsyndrome“, und dann, wie von höheren Mächten gesteuert, häufen sich Kalkschultern. All diese Akkumulationen sind ein bisschen merkwürdig, manch einer vermutet sogar eine übergeordnete Gewalt dahinter. Egal aber, ob man an einen göttlichen Plan oder an eine Verschwörung der Ärzteinnung glaubt, es wirkt nicht wie eine Strafe.

Es gibt jedoch Akkumulationen anderer Art. Schicksalhafte. Das weiß ich, seit ich drei Hausbesuche von Kolleginnen vertretungsweise übernommen habe. Im Urlaub der anderen hat man meist die Dauerpatient*innen mit herausfordernden Diagnosen oder Verhaltensweisen. Und wenn es ganz blöd läuft, wie in meinem Fall, kehren diese Kolleginnen irgendwie nie wieder zu diesen Patient*innen zurück. Und dann kommt sie auch bei mir hoch, die große berufliche Sinnfrage: Was für einen Mist muss ich denn in meinen vorigen Leben angestellt haben, dass ich als Physiotherapeutin wiedergeboren wurde? Echt mieses Karma!

Wenn „Wie geht es Ihnen?“ zum Stimmungskiller wird.

Echter Stimmungskiller

Guten Morgen, Frau K.! Wie geht es Ihnen?“, frage ich, als sich die Wohnungstür meiner ersten Patientin öffnet. Frau K. humpelt durch den Flur, ist schon um die Ecke gebogen. Ich stehe immer noch am Türrahmen, sehe sie nicht mehr, höre sie dafür umso besser. „Was ist denn das für eine blöde Frage? Wie soll es mir gehen? Das regt mich schon so auf, wenn Sie hier hereinkommen und als Erstes so etwas fragen!“ Yeah, ein echter Door-Opener sieht anders aus. „Irgendwie“, antworte ich, „ist die Frage damit auch schon beantwortet.“ „Werden Sie nicht unverschämt!“, sagt die einstige Lehrerin. „Haben Sie in Ihrem Beruf nicht gelernt, ordentliche Fragen zu stellen?“ Doch, denke ich, wie alle meine Kolleginnen und Kollegen bin ich eine überqualifizierte Fortgebildete und habe sogar eine systemische Beratungsausbildung gemacht. Völlig erfolglos, wie ich merke.

Ich starte neu. Professionell. „Hat sich etwas verändert? Was sollte heute passieren, dass Sie nach der Behandlung denken, das war jetzt für mich nützlich?“ Für gewöhnlich reagieren Lehrerinnen daraufhin sehr konstruktiv. Aber man soll halt nicht in Schubladen denken. „Was soll sich denn verändert haben? Ich habe eine chronische Erkrankung!“ Zum ersten Mal seit Corona bin ich froh um die Maske. Mein Wunsch, einfach wieder zu gehen, ist mir nämlich direkt ins Gesicht geschrieben. „Ich freue mich nicht, dass Sie kommen!“, knallt sie mir jetzt hin. Und weil auch ich keine Freude empfinde, muss ich laut lachen. Ja, auch ich habe herausfordernde Verhaltensweisen und diverse Persönlichkeitsstörungen. „Sehr schön, Frau K., das ist doch eine gute Basis für eine konstruktive Behandlung. Gibt es noch etwas, das sie stört? Außer meiner Anwesenheit?“ Wider Erwarten knurrt sie nur, lacht kurz. Dann sagt sie: „Ich will das nicht, mit der Physiotherapie, aber ich muss das ja machen. Sonst geht es mir noch schlechter.“ Okay, denke ich, mehr kann man nicht erwarten. Die Spitze der Zustimmung ist erreicht. Ich lege los, arbeite an meinem Karma, sie macht mit. Mein Himmelskonto muss aufgefüllt werden.


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Nebulöse Nullrunde

Das reicht für heute, denke ich. Aber der Tag fängt erst an. Frau S. hat mir die Terrassentür offen gelassen. Ich trete ein und stehe im Nebel von Nikotin und anderen Substanzen. Sehen tue ich derweil niemanden. „Hallo?“, rufe ich, lieber kein „Wie geht’s?“ Ich bin ja lernfähig. „Kommen Sie nach hinten!“, krächzt es. Frau S. sitzt auf dem Klo, eine Kippe in der Hand, hustet und presst. Ich huste auch, weil Zigarettenrauch und Maske eine atemberaubende Kombi sind. „Können Sie mir die Pomuskeln massieren? Ich habe Verstopfung.“ Ich huste wieder: „Ich krieg keine Luft mehr!“ „Was soll ich denn da sagen? Ich rauche den ganzen Tag!“ Das sagt sie einfach so. „Regt die Verdauung an.“ „Das ist aber nicht nur Nikotin“, antworte ich, während ich ein Fenster öffne. „Das ist Medizin“, sagt sie, „und wenn Sie das Fenster nicht schließen, hol ich mir den Wolf!“ Ich weigere mich so zu behandeln, Karma hin, Karma her; sie verweigert eine Unterschrift, verspricht aber, das nächste Mal die verdauungsfördernden Maßnahmen nach meinem Besuch einzuleiten. Eine Nullrunde, auch für mein Karma.


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Aller guten Dinge sind drei

Patientin Nummer drei ist vom Fach. Leider ist das schon lange her und sie hantiert mit Fachbegriffen, die es nicht gibt oder nicht da, wo sie sie vermutet. Auch ihre Diagnosen schrubben knapp an der Wirklichkeit vorbei. Sie hebt den Arm zur Seite. „Wir müssen die Abstraktion beüben!“ Nach Patientin eins und zwei spüre ich eine gewisse Müdigkeit, trotzdem bemühe ich mich. „Sie meinen die Abduktion“, sage ich, da ruft sie: „Vergessen Sie nicht die Beine, da ist eine Kontraktur drin!“ Sie sitzt im Rollstuhl und zieht beide Beine gestreckt bis zur Nase. „Jetzt drücken Sie doch mal nach!“, ruft sie. „Wohin soll ich denn die Beine noch drücken?“, frage ich. „Durch das Gesicht durch? Sie sind hypermobil!“ Sie ist thematisch schon beim nächsten anatomischen Detail. „Die Außenadduktoren der Beine, die müssen gekräftigt werden.“ Während ich sie zum Aufstehen motivieren will, reißt sie die Arme nach oben. „Sie müssen die mal durchbewegen, wegen der Synovia!“ Ich versuche sie zu strukturieren, um selbst nicht völlig kirre zu werden. „Sie haben Lähmungserscheinungen in den Füßen, die Arme können Sie selbst bewegen.“ „Das ist doch Quatsch“, ruft sie. „Das hängt doch alles zusammen!“ Ich will schreien, mein gutes Karma schreckt zurück. „Was ICH habe“, sagt sie, und jetzt kommt der medizinische Meilenstein der neurologischen Ursachenfindung, „das sind Myogelosen im Rückenstrecker! Davon kommt die Beinschwäche! Wenn man das wegmassiert, kann ich wieder problemlos laufen!“ Auweia, denke ich, da habe aber nicht nur ich ein ganz schön mieses Karma abzuarbeiten – oder wie immer man Realitätsverweigerung nennen mag.


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Licht am Ende

„Salam aleikum“, Friede sei mit dir, begrüßt mich die schwerkranke Frau A. aus Somalia und lacht ihr schönes, herzliches Lachen. „Und Friede auf Erden“, antworte ich, weihnachtlich gestimmt. „So Gott will“, sagt sie und lacht wieder, trotz großer Schmerzen. Ja, denke ich, so kann man sich willkommen heißen auf diesem Planeten. Ich nehm das Karma von mir und dafür Frau A. in den Arm. Ab hier fängt der Tag an, gut zu werden.

Ulrike Maier


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
18. November 2022

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