Virushepatitis – ein (un-)lösbares Problem?
Chronische Virushepatitiden stellen nach wie vor ein globales gesundheitliches Problem
dar. Weltweit zählen insbesondere die chronische Hepatitis B (HBV)-Virusinfektion
und Hepatitis C (HCV)-Virusinfektion zu den Infektionserkrankungen, die kumulativ
für die meisten Todesfälle verantwortlich sind und einige Schätzungen vermuten einen
weiteren Anstieg der Todesfälle bis 2040 [1]. Beide Erkrankungen sind heutzutage gut behandelbar, für die HBV-Infektion existiert
ein gut wirksamer Impfstoff und eine HCV-Infektion ist in der Regel mit neuen direkt-antiviralen
Medikamenten dauerhaft heilbar [2]
[3]. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Jahre 2016 Eliminationsziele festgelegt,
um eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch Virushepatitiden zu adressieren.
Für Europa hat die Hepatitis B & C Public Policy Association, ein Verein mit dem Ziel
der Bekämpfung viraler Hepatitiden in der EU, bereits mehrfach Strategietreffen abgehalten,
um Herausforderungen auf dem Weg zur Elimination zu erkennen, zu analysieren und zu
bekämpfen sowie den internationalen Austausch von Ideen und Programmen zu fördern
[4]
[5]. Am 09.02.2022 hat die Deutsche Leberstiftung – in Kooperation mit der Hepatitis
B & C Public Policy Association ebenfalls ein Treffen durchgeführt, um auf nationaler
Ebene den Austausch der verschiedenen Akteure wie Patientenvereinigungen, Ärzt*innen,
Wissenschaftler*innen und Politiker*innen zu fördern.
Wo stehen wir?
Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern sind die HBV- und HCV-Prävalenzen in
Deutschlands Bevölkerung vergleichsweise gering. Im Hinblick auf HBV beträgt die Prävalenz
aktiver Infektionen in der Gesamtbevölkerung zurzeit 0,3–0,7 %, bei der HCV-Infektion
sind es 0,2–0,4 % [6]
[7]. Je nach betrachteter Bevölkerungsgruppe gibt es jedoch deutliche Unterschiede.
Bei Migrant*innen wird eine erhöhte HBsAg-Prävalenz von 2,3–3,6 % berichtet [6]. Inhaftierte weisen in zurückliegenden Studien eine HCV-Prävalenz von 14,3 % auf
[8]
[9]. Aktuelle Daten für Inhaftierte sind nicht verfügbar. Weiterhin geht aus vorläufigen
Analysen einer Prävalenzstudie in Berlin hervor, dass bei ca. 16 % der teilnehmenden
Wohnungslosen eine aktive HCV-Infektion vorliegt [10]. Eine weitere Risikogruppe stellen Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), dar.
So wurde zuletzt in einer Kohorte von HIV-infizierten MSM eine, im Vergleich zur Normalbevölkerung
deutlich erhöhte, HCV-Prävalenz von 3,3 % angegeben [11]. Das höchste Risiko für eine Infektion haben weiterhin Menschen mit injizierendem
Drogenkonsum (engl. Abk. PWID): Die DRUCK-Studie berichtet Prävalenzen zwischen 23–54 %
von aktiver HCV-Infektion und 5–33 % im Hinblick auf HBV [12]. Chronische HBV-Infektionen lagen bei 0,3–2,5 % der Untersuchten vor [13]. Für den Nachweis von HBV- und HCV-Infektionen gilt eine Meldepflicht für Labore,
für akute Virushepatitiden auch für Ärzt*innen [14]. Auch in Anbetracht der gemeldeten Infektionsrisiken bei HCV-Neudiagnosen im Jahr
2020 ist insbesondere der intravenöse Drogenkonsum mit über 60 % der größte identifizierbare
Risikofaktor für eine neu übertragene HCV [15].
Aktuelle Zahlen über die Gesamtzahl von infizierten Menschen in Deutschland liegen
zurzeit faktisch nicht vor. Vereinzelt gibt es Modellierungsstudien, jedoch fehlt
es an „Real-World“-Daten [16]. Die WHO hatte in ihren initialen Eliminationszielen eine relative Änderung aktueller
Infektionszahlen vorgeschlagen. Jedoch ist dies für Länder mit niedriger Prävalenz
nur erschwert zu erreichen, weshalb die Eliminationsziele in diesem Jahr auf absolute
Zahlen geändert werden könnten [17]. Im Jahre 2022 sollen so die Eliminationsziele angepasst werden. Bei allgemein niedrigen
Inzidenzen in der Gesamtpopulation hat Deutschland seine Ziele teilweise bereits erreicht.
Allerdings besteht mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein gravierendes Defizit, was
Hochrisikogruppen angeht: Ein Interimsziel bis 2025 ist die 80 %ige Senkung der HCV-Prävalenz
bei PWIDs. Insgesamt besteht hier jedoch ein Mangel an Daten sowie an zielgruppenspezifischen
Programmen zur Bekämpfung der Virushepatitis bei PWIDs, sodass nicht davon auszugehen
ist, dass das Ziel bislang auch nur ansatzweise erreicht wurde.
Probleme und Lösungen
Im Oktober 2021 wurde durch ein Screening auf HBV- und HCV-Infektionen eine wichtige
Ergänzung im Rahmen der „Gesundheitsuntersuchung“ (vormals „Check-up 35“) vorgenommen,
um bisher nicht detektierte Infektionen festzustellen. Aus ersten Daten von über 4.700
Teilnehmenden geht hervor, dass bei 0,4 % eine neue HBV-Infektion und bei 0,1 % eine
neue HCV-Infektion entdeckt wurde [18]. Zirka 40–50 % der Bevölkerung nehmen die Gesundheitsuntersuchung wahr, jedoch zeigen
Studien, dass insbesondere Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status tendenziell
weniger an einem allgemeinen „Check-up“ teilnehmen [19]. So ist zu erwarten, dass insbesondere Risikogruppen im neu eingeführten Screening
unterrepräsentiert sind. Das bedeutet einerseits, dass Maßnahmen notwendig sind, um
mehr Menschen auf die Gesundheitsuntersuchung aufmerksam zu machen. Andererseits müssen
auch die Hausärzt*innen motiviert werden, an die Gesundheitsuntersuchung zu denken
und diese zu initiieren. Die Hausärzt*innen stellen eine wichtige Ressource auf dem
Weg zur Hepatitis-Elimination dar und dürfen nach erfolgter Diagnose antivirale Behandlungen
durchführen. Allerdings gibt es immer wieder Ängste vor Regressen durch die Krankenkassen
bei insgesamt aktuell noch hohen Medikamentenkosten [20]. An dieser Stelle sei klar festgestellt, dass eine indikationsgerechte antivirale
Therapie keine Grundlage für einen Regress bietet.
Wie oben bereits erwähnt, existiert im Gegensatz zur HCV-Infektion eine wirksame Impfung
zur Prävention einer HBV-Infektion. Diese wird seit 1995 durch die ständige Impfkommission
(STIKO) für Säuglinge und Kleinkinder empfohlen, nicht zuletzt, da eine Infektion
in diesem Alter mit einer hohen Chronifizierungsrate assoziiert ist. Leider belief
sich die Inanspruchnahme der Impfung im Jahre 2019 zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchung
mit großen Schwankungen zwischen den Bundesländern zwischen 78,9 % und 94,5 % [21]. Eine Förderung von Impfkampagnen sowie Aufklärungsarbeit können hier die Impfbereitschaft
erhöhen.
Insbesondere Risikogruppen wie Migrant*innen, Inhaftierte, MSM oder PWIDs sind bereits
einem hohen Maß sozialer Ungleichheit und Stigmatisierung ausgesetzt, welche durch
eine chronische Infektion mit einem Hepatitis-Virus weiter aggraviert werden kann
[22]. Ein zentrales Problem ist neben mangelnder Aufklärung der Risikogruppen ein oftmals
fehlender direkter Zugang zum Gesundheitssektor. Der Abbau von Barrieren ist daher
wichtig, beispielsweise, indem niedrigschwellige Test- und Behandlungsangebote geschaffen
werden. Weiterhin sind insbesondere Drogengebrauchende keine einheitliche Gruppe,
da es viele unter ihnen gibt, die trotz ihrer Suchterkrankung einen strukturierten
Tagesablauf, eine tägliche Arbeit und feste soziale Strukturen haben [23]. Nach aktuellen Schätzungen ist in Deutschland mehr als die Hälfte der Menschen
mit Opioid-Abhängigkeit in einer Substitutionsbehandlung [24]. Der regelmäßige Kontakt mit dem medizinischen System könnte besser genutzt werden,
um Substituierte regelmäßig zu testen, zu impfen sowie diagnostizierte Infektionen
zu behandeln. Viele der aktiv drogengebrauchenden Menschen besuchen regelmäßig niedrigschwellige
Einrichtungen der Drogenhilfe wie Kontaktläden oder Drogenkonsumräume. Hier könnte
mit niedrigschwelligen Testangeboten ein kosteneffizienter Ansatz geboten werden,
um auch Menschen, die einen unzureichenden Zugang zur Regelversorgung haben, zu erreichen.
Allerdings gibt es auch Menschen mit chronischer Hepatitis, die derartige Angebote
nicht wahrnehmen und als „schwer zu erreichen“ gelten. Insbesondere für diese Gruppe
gibt es sogenannte Mikro-Eliminations-Strategien, also gezielte örtliche und zeitliche
Interventionen in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, um mit wenig Ressourcen viele
Menschen zu erreichen, zu testen und zu behandeln [4]
[25]
[26]. Ein Beispiel einer Mikro-Eliminations-Strategie kann eine mobile Diagnostik- und
Therapieeinheit mit speziell geschultem Personal sein, die medizinische Dienste zu
den Menschen einer Risikogruppe bringt – von Beratung bis Therapie. Dies ist ein konkreter
Weg, um Barrieren abzubauen und die medizinische Versorgung von Risikogruppen zu verbessern
und wurde bereits in einigen europäischen Ländern erfolgreich eingesetzt [26]. An dieser Stelle sei noch betont, dass der Link zu einer Behandlung nach erfolgter
Diagnose einer Hepatitis nicht immer gelingt [27]
[28]. Diese Lücken in der Versorgungsstruktur wurden bereits häufig aufgezeigt und bestehen
nicht nur bei Risikogruppen, sondern auch in der Normalbevölkerung. Es existieren
bereits Modelle und Vorschläge, welche eine Art „One-Stop-Shop“ mittels Point-of-care-Diagnostik
und anschließender antiviraler Therapie möglich machen [29]. Jedoch sind diese Modelle weit davon entfernt, flächendeckend eingesetzt zu werden.
Hier bedarf es entsprechender finanzieller Förderung sowie politischen Willens.
Weiterhin stellen Inhaftierte eine Risikogruppe dar, v. a. da Drogenkonsum durch den
Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz und Beschaffungskriminalität zu häufiger
Inhaftierung führt und sich somit die Gruppen überschneiden. Die Haft kann jedoch
auch als Chance angesehen werden, um mit Beratungs- und Therapieangeboten vor Ort
eine Vielzahl an Betroffenen zu erreichen. Aktuell fallen Inhaftierte noch vielerorts
aus dem Versorgungsangebot heraus, da die Krankenversicherungen nicht zuständig sind.
Eine medizinische Versorgung in Haft ist gegeben. Allerdings sind HCV-Therapien nicht
flächendeckend verfügbar. Es gibt einige Haftanstalten, die längst alle ihre Patient*innen
behandeln und andere Zentren, die wegen unzureichender Ressourcen keine Behandlungsangebote
anbieten können. An dieser Stelle wäre es wichtig, dass in der Vollzugsmedizin eine
bundeseinheitliche Vorgehensweise erarbeitet wird, um im gesamtgesellschaftlichen
Interesse eine HCV-Elimination zu erreichen. Es braucht den politischen Willen, um
Maßnahmen zur Gewinnung und Förderung von personellen Ressourcen im Vollzug zu stärken,
gerade auch um einen diskriminierungsfreien Vollzug zu gewährleisten [30]
[31].
Zudem ist festzuhalten, dass, selbst nach Ausheilung, das Risiko für eine Reinfektion
bei einer HCV-Infektion besteht, insbesondere bei MSM [32]. Im Hinblick auf MSM zeigte sich zuletzt eine Abnahme der HCV-Prävalenz. Allerdings
wurde bereits mehrfach festgestellt, dass diese Gruppe nach erfolgreicher HCV-Behandlung
ein hohes Risiko für eine HCV-Reinfektion aufweist [11]
[33]. Das Risiko für eine Reinfektion in dieser Gruppe überstieg selbst das in der Gruppe
der PWIDs. Insbesondere Menschen mit hoher Viruslast zeigen detektierbare Konzentrationen
von HCV-RNA nasal sowie rektal auf, was ein Risiko für eine erneute HCV-Transmission
bei Hochrisiko-Sexpraktiken sowie dem Teilen von „Schnupfbesteck“ birgt [34]
[35]. Es resultiert demnach aus dem hohen Reinfektionsrisiko ein besonderer Bedarf an
präventiven Maßnahmen sowie Aufklärungsmaßnahmen. Insgesamt ist nicht nur bei MSM,
sondern bei allen Menschen mit durchgemachter HCV-Infektion auf eine adäquate Aufklärung
und Nachsorge der Menschen zu achten, um einen langfristen und nachhaltigen Therapieerfolg
zu erzielen. Zudem müssen flächendeckende Strukturen auf- und ausgebaut werden, die
dazu beitragen Infektionsrisiken abzubauen, wie z. B. Ausweitung von Opioid-Substitutionsbehandlungen
und Zugang zu sterilen Konsumutensilien für Menschen, die Drogen gebrauchen, auch
in Haftanstalten.
Fazit
Die Mittel für eine effektive Bekämpfung von Hepatitiden sind etabliert. Es fehlt
jedoch an Ressourcen und Daten, um eine nachhaltige Elimination von HBV und HCV zu
gewährleisten. Im Rahmen des Strategietreffens wurden somit folgende Punkte festgehalten:
-
Die Erkennung und Elimination der Hepatitis-Virusinfektionen muss eine öffentliche
Gesundheitspriorität sein und sollte adäquat finanziert werden.
-
Daten hinsichtlich der genauen Infektionszahlen sind nur begrenzt vorhanden, eine
Aktualisierung epidemiologischer Daten ist zwingend erforderlich.
-
Soziale Ungleichheit und Stigmatisierung müssen bekämpft werden.
-
Aufklärung und Behandlung vulnerabler Gruppen müssen verbessert werden.
-
Mikro-Eliminations-Strategien sind ein kosteneffizienter und effektiver Weg zur Erkennung
und Elimination von Virushepatitis in Hochrisikogruppen.
-
Barrieren für einen Zugang zur Diagnostik, Prävention und Therapie für Menschen mit
intravenösem Drogenkonsum müssen reduziert werden.
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Die Hinzunahme des Screenings auf eine Virushepatitis in die allgemeine Gesundheitsuntersuchung
(„Check-up 35“) ist eine wichtige Ressource auf dem Weg zur Elimination. Diese Gesundheitsuntersuchung
muss allen offenstehen.
-
Eine adäquate Nachsorge ist wichtig, um Behandlungserfolge sicherzustellen.
Die Vorträge und weitere Informationen zum Strategietreffen unter: https://www.deutsche-leberstiftung.de/veranstaltungen/veranstaltungen-der-deutschen-leberstiftung/strategietreffen-2022/