Schlüsselwörter LDL-C - Leitlinien - kardiovaskuläres Risiko - Dyslipidämie - nichtinterventionelle
Studie
Key words LDL-C - guidelines - cardiovascular risk - dyslipidemia - non-interventional study
Einleitung
Im Jahr 2020 waren 34,3 % aller Todesfälle in Deutschland durch Krankheiten des Kreislaufsystems
bedingt [1 ], in Europa verursachen kardiovaskuläre (CV) Erkrankungen jedes Jahr mehr als 4 Millionen
Todesfälle [2 ]. Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin (LDL-C) ist ein kausaler Risikofaktor für atherosklerotische
kardiovaskuläre Erkrankungen (ASCVD) [3 ]
[4 ]. Um das ASCVD-Risiko zu reduzieren, empfehlen internationale Leitlinien eine Senkung
des LDL-Cholesterins auf Zielwerte in Abhängigkeit vom individuellen CV Risiko eines
Patienten. Maßnahmen zur Senkung des LDL-Cholesterins und zur Verbesserung des Lipidprofils
beinhalten eine Veränderung des Lebensstils und eine medikamentöse Behandlung von
Fettstoffwechselstörungen mit lipidmodifizierenden Therapien (LMT) [5 ]. Doch obwohl eine Reihe von LMTs wie beispielsweise Statine, Cholesterinresorptionshemmer,
Gallsäurebinder, Fibrate oder Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin-Typ-9--Inhibitoren
(PCSK9) für die Behandlung von Fettstoffwechselstörungen und die Senkung des LDL-Cs
zur Verfügung stehen, werden die von den internationalen Leitlinien empfohlenen LDL-C-Behandlungsziele
häufig nicht erreicht. Registerstudien, wie die in 27 europäischen Ländern in der
Sekundärprävention durchgeführte EUROASPIRE-V-Studie [6 ] oder die in 18 europäischen Ländern durchgeführte DA-VINCI-Studie zur Anwendungsbeobachtung
von LMTs in der Primär- und Sekundärprävention von ASCVD [7 ], zeigen, dass in der täglichen Praxis die LDL-C-Zielwerterreichung – bereits gemessen
an den europäischen Leitlinien für Lipidmanagement von 2016 – suboptimal war. Die
Empfehlungen der European Society of Cardiology (ESC) und der European Atherosclerosis
Society (EAS) von 2019 liegen für Patienten mit sehr hohem CV Risiko bei < 55 mg/dl
(< 1,4 mmol/l) und damit niedriger als in den ESC/EAS-Leitlinien von 2016 [5 ]. Eine große Kohortenstudie untersuchte 2018 die Zielwerterreichung bei ASCVD-Patienten
mit sehr hohem CV Risiko in Deutschland. Dabei hatten ca. 80 % der Patienten unter
Statintherapie mit moderater oder hoher Intensität LDL-C-Werte ≥ 70 mg/dl [8 ]. In der DA-VINCI-Studie lag trotz der Empfehlung von lipidmodifizierenden Kombinationstherapien
zur LDL-C-Zielwerterreichung aus den vorangegangenen Leitlinien [9 ]
[10 ] der Einsatz von Kombinationen aus Statin und Ezetimib oder Statin und PCSK9-Hemmer
in Europa nur bei 9 % bzw. 1 % der Patienten [7 ].
SANTORINI ist die erste große europaweite Beobachtungsstudie seit der Einführung der
ESC/EAS-Leitlinie 2019, die das aktuelle Lipidmanagement von Patienten mit hohem und
sehr hohem CV Risiko und dessen Wirksamkeit hinsichtlich der Erreichung der LDL-C-Zielwerte
gemäß der europäischen Leitlinien untersucht [11 ]. Die vorliegende Analyse fokussiert auf die Patientencharakteristika und Behandlungsmuster
zum LDL-C-Management deutscher Patienten in der SANTORINI-Studie im Vergleich zur
gesamteuropäischen Population.
Methodik
Studiendesign
Die SANTORINI-Studie (NCT04 271 280) ist eine multinationale, nichtinterventionelle,
prospektive Beobachtungsstudie [12 ], die zwischen März 2020 und Februar 2021 insgesamt 9602 Patienten mit Dyslipidämie
in der Primär- und Sekundärprävention in 14 europäischen Ländern einschloss. Für jeden
Patienten folgte im Anschluss ein Follow-up-Zeitraum von 12 Monaten. Die Dokumentation
der Patientendaten fand als Baseline bei Einschluss in die Studie statt und wird nach
12 Monaten Follow-up erneut erfolgen. Das Design der Studie wurde publiziert [11 ].
Bei Studieneinschluss wurden die Patientencharakteristika erhoben. Dazu gehören der
LDL-C-Wert sowie weitere Lipidparameter, das CV Risiko, Begleiterkrankungen, die relevante
medizinische Vorgeschichte des Patienten, detaillierte Informationen zur lipidsenkenden
Therapie der letzten 12 Monate sowie gesundheitsökonomische Parameter. Außerdem wurde
das CV Risiko eines jeden Studienteilnehmers zunächst durch den behandelnden Arzt
bestimmt und später auf Basis der dokumentierten Patientencharakteristika nach den
Kriterien der Risikobewertungssysteme „Secondary Manifestations of ARTerial disease“
(SMART) [13 ], Framingham [3 ] und „Systematic COronary Risk Estimation“ (SCORE) [14 ] berechnet. Da es sich um eine nichtinterventionelle Studie handelt, wurden nur Daten
im Rahmen der täglichen Praxisroutine dokumentiert.
Rekrutierung und Patienten
Die Studie schloss 9602 Patienten mit hohem und sehr hohem CV Risiko ein, welche eine
lipidsenkende Therapie zur Primär- oder Sekundärprophylaxe benötigen. Um in die Studie
aufgenommen zu werden, mussten die Patienten ≥ 18 Jahre alt sein und ihre informierte
Einwilligung geben. Weitere Einschlusskriterien waren die Verordnung einer LMT (Statine,
Ezetimib, Fibrate, PCSK9-Inhibitoren, Gallensäurebinder, Nikotinsäure oder andere)
bei Studieneinschluss oder in den letzten 12 Monaten davor; LDL-C-Messungen innerhalb
der letzten 14 Monate vor Studieneinschluss; und eine Lebenserwartung von mindestens
einem Jahr. Patienten wurden aus der Studie ausgeschlossen, wenn bei ihnen eine familiäre
Hypercholesterinämie mit CV Ereignissen in der Anamnese vorlag; wenn sie aktuell eine
Krebstherapie erhielten (ausgenommen Therapie von Plattenepithelzell-Karzinomen);
wenn sie positiv für das humane Immundefizienz-Virus (HIV) waren; wenn sie schwanger
waren oder stillten; und wenn sie in den letzten 6 Monaten vor Studieneinschluss an
einer interventionellen Studie teilgenommen hatten [11 ]. Darüber hinaus wurden keine expliziten Ausschlusskriterien definiert.
Die Patienten wurden nach ihrem CV Risiko (hoch/sehr hoch, nach Einschätzung des Arztes)
stratifiziert sowie danach, ob sie im Vorfeld bereits eine LMT erhalten hatten oder
neu diagnostiziert waren.
Ethik
Die Ethikkommissionen der jeweils zuständigen Institutionen haben das Studienprotokoll
der SANTORINI-Studie genehmigt.
Von allen Teilnehmern liegt eine schriftliche Patienteneinwilligung in die Studienteilnahme
vor. Die Studie wurde im Einvernehmen mit der Deklaration von Helsinki und den Leitlinien
der International Conference on Harmonization für Gute Klinische Praxis ausgeführt.
Ziel der Studie und Datenerhebung
Das primäre Ziel der SANTORINI-Studie ist die Dokumentation der Wirksamkeit aktueller
Strategien der Lipidtherapie zum Management der LDL-C-Spiegel von Patienten mit hohem
und sehr hohem CV Risiko in Europa in einem Real-World-Szenario [11 ]. Sekundäre Studienziele sind unter anderem die Beschreibung der Zusammenhänge zwischen
den eingesetzten lipidsenkenden Therapien und den Plasmaspiegeln weiterer Lipidparameter
(Non-High-Density-Lipoprotein-Cholesterin [Non-HDL-C], Gesamtcholesterin, Apolipoprotein
B, Triglyceride, Lipoprotein (a) und HDL-C) sowie des Entzündungsmarkers hsCRP. Dieser
Bericht aus der SANTORINI-Studie beschreibt die Patientencharakteristika und Behandlungsstrategien
in der täglichen Praxis der Lipidtherapie in Deutschland zum Management des LDL-C-Wertes
im Vergleich zur gesamteuropäischen Patientenpopulation bei Studieneinschluss.
Statistische Analyse
Die SANTORINI-Studie wurde als nichtinterventionelle Anwendungsbeobachtung rein deskriptiv
ausgewertet. Für die statistische Auswertung wurden, wie zuvor beschrieben [11 ], 3 Populationen definiert: die Population aller dokumentierten Patienten (APS),
die alle Patienten mit jeglicher Dokumentation im elektronischen Prüfbogen (eCRF)
beinhaltet, die Baseline-Analyse-Population (BAS), die alle Patienten mit adäquat
vervollständigten Baseline-Informationen beinhaltet, und die Population aller Patienten,
die das einjährige Follow-up abgeschlossen haben (full analysis set, FAS) [11 ]. Dieser Analyse liegt die BAS-Population zugrunde.
Baseline-Charakteristika werden als Mittelwert (Standardabweichung [SD]) oder Median
(Interquartilsabstand [IQR]) für kontinuierliche Variablen und als Prozentsatz für
kategorische Variablen angegeben. Die Nachberechnung des CV Risikos erfolgte basierend
auf den Patientendaten und unter Anwendung der CV Risikoklassifizierung nach den ESC/EAS-Leitlinien
von 2019. Für fehlende Werte wurde keine Imputation vorgenommen und zur Berechnung
relativer Häufigkeiten wurden fehlende Werte nicht berücksichtigt.
Ergebnisse
Patientencharakteristika zu Studienbeginn
Die SANTORINI-Studie schloss insgesamt 9602 Patienten in Europa ein, 2296 davon in
Deutschland. Für diesen Bericht lagen vollständige Einschlussdaten für 9044 Patienten
vor, 6958 in Europa (ohne Deutschland) und 2086 Patienten in Deutschland (Baseline-Analyse-Population;
[Abb. 1 ]).
Abb. 1 Flussdiagramm zum Einschluss der Patienten in SANTORINI. *Die Klassifizierung des CV Risikos erfolgte durch den behandelnden Studienarzt. CV: kardiovaskulär.
Das Durchschnittsalter der Patienten in Deutschland betrug 65,7 Jahre (Standardabweichung
[SD] 10,9), 28,0 % der Patienten waren weiblich. Bei 1509 Patienten (72,3 %) wurde
das kardiovaskuläre Risiko vom behandelnden Studienarzt als „sehr hoch“ eingestuft,
bei 577 Patienten (27,7 %) als „hoch“. Mehr als 80 % der Patienten in beiden Risikogruppen
hatten eine Hypertonie als Begleiterkrankung, bei mehr als 30 % der Patienten war
ein Diabetes mellitus diagnostiziert worden. [Tab. 1 ] zeigt eine Übersicht über die Patientencharakteristika zu Studienbeginn für die
Patienten in Deutschland und für die gesamteuropäische Studienpopulation ohne Deutschland
zum Vergleich.
Tab. 1
Patientencharakteristika in der SANTORINI-Studie: Deutschland vs. Europa ohne Deutschland.
Deutschland
Europa ohne Deutschland
Gesamt
Hohes CV Risiko[* ]
Sehr hohes CV Risiko[* ]
Gesamt
Hohes CV Risiko[* ]
Sehr hohes CV Risiko[* ]
N = 2086
N = 577
N = 1509
N = 6958
N = 2060
N = 4892
Weiblich, n (%)
585 (28,0)
210 (36,4)
375 (24,9)
1896 (27,3)
788 (38,3)
1106 (22,6)
Alter, Jahre (±SD)
65,7 (10,9)
64,3 (12,0)
66,2 (10,4)
65,2 (10,9)
63,2 (11,6)
66,0 (10,5)
BMI [kg/m2 ], Mittelwert (±SD)
28,5 (4,8)
28,5 (4,8)
28,5 (4,8)
28,3 (5,0)
28,4 (5,3)
28,2 (4,8)
ASCVD, n (%)
1803 (86,4)
363 (62,9)
1440 (95,4)
5151 (74,0)
731 (35,5)
4416 (90,3)
Familiäre Hypercholesterinämie, n (%)
215 (10,3)
94 (16,3)
121 (8,0)
678 (9,7)
319 (15,5)
359 (7,3)
Hypertonie, n (%)
1743 (83,6)
467 (80,9)
1276 (84,6)
4629 (66,5)
1273 (61,8)
3353 (68,5)
Diabetes mellitus, n (%)
691 (33,1)
174 (30,2)
517 (34,3)
2347 (33,7)
708 (34,4)
1637 (33,5)
Diabetes mellitus mit Endorganschaden, n (%)
138 (6,6)
27 (4,7)
111 (7,4)
472 (6,8)
98 (4,8)
374 (7,7)
Arrhythmie
373 (17,9)
80 (13,9)
293 (19,4)
1043 (15,0)
248 (12,0)
795 (16,3)
Raucher, n (%)
344 (16,5)
101 (17,5)
243 (16,1)
1149 (16,5)
299 (14,5)
849 (17,4)
822 (39,4)
196 (34,0)
626 (41,5)
3034 (43,6)
753 (36,6)
2278 (46,6)
853 (40,9)
268 (46,5)
585 (38,8)
2691 (38,7)
988 (48,0)
1702 (34,8)
67 (3,2)
12 (2,1)
55 (3,6)
84 (1,2)
20 (1,0)
63 (1,3)
Blutdruck systolisch, Mittelwert (± SD)
134,6 (17,8)
135,1 (17,6)
134,4 (17,9)
133,7 (18,2)
134,6 (17,9)
133,3 (18,3)
Blutdruck diastolisch, Mittelwert (± SD)
79,2 (10,2)
79,1 (9,5)
79,3 (10,4)
77,5 (10,6)
78,6 (10,5)
77,0 (10,6)
Laborparameter
n = 1925
n = 523
n = 1402
n = 6531
n = 1906
n = 4619
LDL-C [mmol/l], Mittelwert (± SD)[# ]
2,58 (1,21)
2,93 (1,29)
2,45 (1,16)
2,36 (1,21)
2,62 (1,28)
2,25 (1,16)
n = 1789
n = 486
n = 1303
n = 6602
n = 1948
n = 4648
HDL-C [mmol/l], Mittelwert (± SD)[# ]
1,30 (0,43)
1,33 (0,39)
1,28 (0,45)
1,26 (0,39)
1,36 (0,42)
1,22 (0,37)
n = 1735
n = 467
n = 1268
n = 6590
n = 1945
n = 4639
Non-HDL-C [mmol/l], Mittelwert (± SD)[# ]
3,16 (1,38)
3,60 (1,47)
2,99 (1,30)
3,00 (1,34)
3.29 (1.41)
2,87 (1,29)
n = 1799
n = 481
n = 1318
n = 6629
n = 1957
n = 4666
TC [mmol/l], Mittelwert (± SD)[# ]
4,44 (1,41)
4,95 (1,45)
4,26 (1,35)
4,28 (1,40)
4,67 (1,45)
4,12 (1,34)
n = 1580
n = 431
n = 1149
n = 6182
n = 1802
n = 4374
Triglyzeride [g/l], Median (IQR)[§ ]
1,48 (1,04; 2,19)
1,58 (1,07; 2,32)
1,45 (1,02; 2,15)
1,39 (1,00; 1,99)
1,47 (1,00; 2,10)
1,36 (0,99; 1,92)
ASCVD: atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung; BMI: Body-Mass-Index; CV: kardiovaskulär;
HDL-C: High-Density-Lipoprotein-Cholesterin; IQR: Interquartilsabstand (1. und 3.
Quartile); LDL-C: Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin; SD: Standardabweichung; TC:
Gesamtcholesterin. In der Europa-Population (n = 6958) lagen zum Zeitpunkt der Snapshot-Analyse für 6
Patienten keine Daten zur Risikoeinschätzung durch den Studienarzt vor.
* Risikoklassifizierung nach Einschätzung des behandelnden Arztes.
# Zur Umrechnung in mg/dl mit dem Faktor 38,67 multiplizieren.
§ Zur Umrechnung in mg/dl mit dem Faktor 88,5 multiplizieren.
Während die Patientencharakteristika der deutschen und der gesamteuropäischen Studienteilnehmer
generell ähnlich waren, zeigen sich Unterschiede im Anteil an Patienten mit Hypertonus
(83,6 % in Deutschland versus 66,5 % in Europa ohne Deutschland) und in den Laborparametern
für Lipide zu Baseline. Hier liegen die Plasmaspiegel für LDL-C, non-HDL-C, Gesamtcholesterin
und Triglyzeride bei den Patienten aus Deutschland höher als im gesamteuropäischen
Vergleich ([Tab. 1 ]).
Einschätzung des kardiovaskulären Risikos
Die Klassifikation des CV Risikos erfolgte zunächst durch den behandelnden Arzt. An
der Studie teilnehmende, behandelnde Ärzte in Deutschland waren in der Mehrheit (71,5 %)
Fachärzte für Kardiologie; 13,4 % und 12,9 % der Behandler waren Spezialisten für
Diabetologie und/oder Lipidologie. In mehr als 50 % der Fälle erfolgte die Risikobewertung
der Patienten auf Basis der ESC/EAS-Leitlinien von 2019 [5 ]; 39,3 % der Behandler klassifizierten das CV Risiko der Patienten basierend auf
ihrer klinischen Erfahrung (siehe [Abb. 2 ]). Im Vergleich mit den europäischen Ergebnissen (ohne Deutschland) wurden hier weniger
Entscheidungen basierend auf klinischer Erfahrung getroffen (32,6 %) – nationale Leitlinien
wurden im gesamteuropäischen Vergleich häufiger zur Risikoklassifikation herangezogen
(10,8 %) als in Deutschland (4,5 %). Für 1112 Patienten in Deutschland wurde die Risikoklassifizierung
nach Angaben des behandelnden Arztes auf Basis der aktuellen ESC/EAS-Leitlinien vorgenommen,
dabei wurde in 84,4 % der Fälle (939/1112 Patienten) das CV Risiko als „sehr hoch“
(Höchstrisikopatienten) eingestuft, in 15,6 % der Fälle (173/1112 Patienten) als „hoch“
(„Hochrisikopatienten“). Wurde die Risikoklassifikation für diese Patienten auf Basis
der ESC/EAS-Leitlinien und der erhobenen Patientendaten (dokumentierter ASCVD-Status,
Risikofaktoren wie aktueller/früherer Raucher, familiäre Hypercholesterinämie, Diabetes
mellitus oder Hypertonie als Begleiterkrankung) nachberechnet, so ergab sich in 94,5 %
der Fälle (1051/1112 Patienten) ein sehr hohes Risiko und in 4,1 % der Fälle (46/1112
Patienten) ein hohes Risiko. Bei 15 Patienten konnte das Risiko mit den verfügbaren
Angaben nicht nachberechnet werden. Das Risiko wurde damit in etwa 10 % der Fälle
unterschätzt ([Abb. 3 ]). Auch im gesamteuropäischen Vergleich fand eine Unterschätzung des auf Basis der
ESC/EAS-Leitlinien bestimmten kardiovaskulären Risikos in etwa 10 % der Fälle statt
([Abb. 3 ]).
Abb. 2 Basis für die Einschätzung des CV Risikos in der SANTORINI-Studie durch den Behandler. CV: kardiovaskulär; EAS: European Atherosclerosis Society; ESC: European Society of
Cardiology. Angaben zur Basis der CV Risikoklassifizierung wurden vom Studienarzt zu Studienbeginn
dokumentiert. Die CV Risikoklassifizierung erfolgte für n = 2086 Patienten aus Deutschland
und n = 6958 Patienten aus Europa.
Abb. 3 Risikoklassifikation durch den Behandler und durch Nachberechnung auf Basis der ESC/EAS-Leitlinien
(2019). ASCVD: atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung; EAS: European Atherosclerosis
Society; ESC: European Society of Cardiology. Die Analyse erfasst n = 1112 Patienten in Deutschland und n = 3594 Patienten in Europa,
für die die Risikoklassifizierung durch den Behandler auf Basis der ESC/EAS-Leitlinien
von 2019 erfolgte. Die Nachberechnung erfolgte anhand des ASCVD-Status und der dokumentierten
Risikofaktoren der Patienten auf Basis der EAS/ESC-Leitlinien von 2019.
Lipidsenkende Therapien bei Studieneinschluss
Zu Studienbeginn erhielten 20,6 % (429/2086) der Patienten in Deutschland keine LMT,
11 % der Patienten (229/2086) waren dabei in den 4 Wochen vor Studieneinschluss neu
diagnostiziert worden. 59,5 % (1241/2086) der Patienten erhielten eine Monotherapie,
die meisten (94,5 %) von ihnen mit einem Statin. Eine Kombinationstherapie erhielten
19,9 % (416/2086) der Patienten in Deutschland, die überwiegende Mehrheit (82,9 %)
von ihnen erhielt eine Kombination aus einem Statin und Ezetimib ([Abb. 4 ]). Bei den Höchstrisikopatienten lag der Anteil derer, die eine Kombinationstherapie
erhielten, höher als bei den Patienten mit hohem Risiko (22,9 % bei Patienten mit
sehr hohem versus 12,1 % bei Patienten mit hohem Risiko). Im gesamteuropäischen Vergleich
erhielten 25,2 % (1753/6958) der Patienten eine Kombinationstherapie; auch hier lag
der Anteil bei Patienten mit sehr hohem Risiko höher als bei Patienten mit hohem Risiko
(27,5 % bei sehr hohem versus 19,8 % bei hohem CV Risiko). Auch in Europa ohne Deutschland
wurde am häufigsten eine Kombinationstherapie aus einem Statin und Ezetimib eingesetzt
(15,8 %). 5,2 % (365/6958) der Patienten erhielten eine Kombination aus einem PCSK9-Inhibitor
und einem oralen Lipidsenker ([Abb. 4 ]). Sowohl in der Mono- als auch in der Kombinationstherapie wurde das Statin vorrangig
in moderater oder hoher Intensität eingesetzt ([Tab. 2 ]).
Abb. 4 Lipidmodifizierende Therapien in SANTORINI zu Studienbeginn. LMT: lipidmodifizierende Therapie; PCSK9: Proproteinkonvertase-Subtilisin/Kexin-Typ-9. Die Angaben zum CV Risiko basieren auf den Angaben der Studienärzte. Die Dokumentation
der lipidmodifizierenden Therapie erfolgte zu Baseline. In der Europa-Population (n = 6958)
lagen zum Zeitpunkt der Snapshot-Analyse für 6 Patienten keine Daten zur Risikoeinschätzung
durch den Studienarzt vor.
Tab. 2
Statin-Intensitäten in lipidmodifizierender Mono- und Kombinationstherapie mit Ezetimib
in der SANTORINI-Studie zu Baseline.
Deutschland
Europa ohne Deutschland
Gesamt
Hohes CV Risiko[* ]
Sehr hohes CV Risiko[* ]
Gesamt
Hohes CV Risiko[* ]
Sehr hohes CV Risiko[* ]
N = 2086
N = 577
N = 1509
N = 6958
N = 2060
N = 4892
Statin-Monotherapie, % (n)
56,2 (1173)
54,4 (314)
56,9 (859)
48,4 (3364)
54,5 (1122)
45,8 (2240)
Intensität unbekannt
1,2 (24)
1,9 (11)
0,9 (13)
1,3 (92)
1,5 (31)
1,3 (61)
Geringe Intensität
1,5 (32)
1,7 (10)
1,5 (22)
1,6 (110)
2,0 (41)
1,4 (69)
Moderate Intensität
30,4 (633)
33,1 (191)
29,3 (442)
23,6 (1644)
33,7 (695)
19,4 (948)
Hohe Intensität
23,2 (484)
17,7 (102)
25,3 (382)
21,8 (1518)
17,2 (355)
23,8 (1162)
Statin + Ezetimib, % (n)
16,5 (345)
10,4 (60)
18,9 (285)
15,8 (1101)
11,9 (246)
17,5 (855)
Intensität unbekannt
0,4 (9)
0,2 (1)
0,5 (8)
0,5 (37)
0,4 (8)
0,6 (29)
Geringe Intensität
0,3 (7)
0,2 (1)
0,4 (6)
0,4 (26)
0,3 (6)
0,4 (20)
Moderate Intensität
5,4 (113)
4,9 (28)
5,6 (85)
5,4 (378)
4,5 (93)
5,8 (285)
Hohe Intensität
10,4 (216)
5,2 (30)
12,3 (186)
9,5 (660)
6,8 (139)
10,7 (521)
CV: kardiovaskulär; PCSK9i: Proproteinkonvertase-Subtilisin/Kexin-Typ-9-Inhibitor. In der Europa-Population (n = 6958) lagen zum Zeitpunkt der Snapshot-Analyse für 6
Patienten keine Daten zur Risikoeinschätzung durch den Studienarzt vor.
* Risikoklassifizierung nach Einschätzung des behandelnden Arztes.
LDL-C-Zielwerterreichung zu Studienbeginn
Zu Studienbeginn hatten Patienten in Deutschland mit hohem CV Risiko im Mittel (±SD)
einen LDL-C-Wert von 113,3 ± 49,9 mg/dl (2,93 ± 1,29 mmol/l); Patienten mit sehr hohem
CV Risiko hatten einen mittleren LDL-C-Wert von 94,7 ± 44,9 mg/dl (2,45 ± 1,16 mmol/l).
Die in der ESC/EAS-Leitlinie definierten LDL-C-Zielwerte von < 55 mg/dl (< 1,4 mmol/l)
für Patienten mit sehr hohem CV Risiko [5 ], basierend auf der Risikoeinschätzung durch den behandelnden Arzt, wurden in der
deutschen Kohorte von 80,9 % der Patienten nicht erreicht; bei Patienten mit hohem
CV Risiko wurden die LDL-C-Zielwerte von < 70 mg/dl (< 1,8 mmol/l) [5 ] von 72,8 % der Patienten nicht erreicht ([Abb. 5 ]). Im europäischen Vergleich lag der LDL-C-Mittelwert (± SD) für Patienten mit hohem
CV Risiko bei Studieneinschluss bei 101,3 ± 49,5 mg/dl (2,62 ± 1,28 mmol/l); für Patienten
mit sehr hohem CV Risiko bei 87,0 ± 44,7 mg/dl (2,25 ± 1,16 mmol/l). 66,8 % der Hoch-
und 73,8 % der Höchstrisikopatienten erreichten damit die LDL-C-Zielwerte der ESC/EAS-Leitlinie
nicht ([Abb. 5 ]).
Abb. 5 LDL-C-Zielwerterreichung gemäß den ESC/EAS-Leitlinien von 2019 in SANTORINI zu Baseline. CV: kardiovaskulär; EAS: European Atherosclerosis Society; ESC: European Society of
Cardiology; LDL-C: low-density -Lipoprotein-Cholesterol. Die Analyse erfasst n = 2086 Patienten in Deutschland und n = 6958 Patienten in Europa.
Die Angaben zum CV Risiko basieren auf den Angaben der Studienärzte. Die Risikoklassifizierung
durch den Behandler konnte auf Basis der ESC/EAS-Leitlinien zum Management der Dyslipidämie,
auf klinischer Expertise, auf nationalen, regionalen, lokalen oder institutionellen
Leitlinien oder sonstigen Grundlagen erfolgen. Angaben zur LDL-C-Zielwerterreichung
beziehen sich auf die Zielwerte, die in den ESC/EAS-Leitlinien 2019 zum Management
der Dyslipidämie angegeben sind (Patienten mit sehr hohem CV Risiko: LDL-C-Zielwert
< 55 mg/dl [< 1,4 mmol/l]; Patienten mit hohem CV Risiko: LDL-C-Zielwert < 70 mg/dl
[< 1,8 mmol/l]). In der Europa-Population (n = 6958) lagen zum Zeitpunkt der Analyse
für 6 Patienten keine Daten zur Risikoeinschätzung durch den Studienarzt vor.
Betrachtet man die Zielwerterreichung in Abhängigkeit von der eingesetzten LMT, so
erreichten in Deutschland insgesamt 26,9 % der Patienten mit Kombinationstherapien
ihre LDL-C-Zielwerte, mit einer Monotherapie waren es nur 12,7 %. Für Europa lag die
Zielwerterreichung mit einer Kombinationstherapie bei 33,5 %, mit einer Monotherapie
bei 23,6 %.
Diskussion
Diese Analyse aus der SANTORINI-Studie zeigt, dass das CV Risiko von Dyslipidämie-Patienten
in der Praxis in Deutschland häufig unterschätzt wird, selbst wenn die Risikoeinschätzung
auf Basis der ESC/EAS-Leitlinien geschieht. Auch im Vergleich mit den anderen europäischen
Ländern in der SANTORINI-Studie bestätigt sich dieses Ergebnis. Obwohl nur 12,1 %
der Patienten mit sehr hohem Risiko in Deutschland den LDL-C-Zielwert von < 55 mg/dl
(< 1,4 mmol/l) erreichen, wurde bei nur 22,9 % dieser Patienten eine lipidmodifizierende
Kombinationstherapie eingesetzt. Im gesamteuropäischen Vergleich sind Zielwerterreichung
(20,6 % der Patienten) und der Einsatz von Kombinationstherapie (bei 27,5 % der Patienten)
bei Patienten mit sehr hohem kardiovaskulärem Risiko zwar etwas besser, der Großteil
der Patienten bleibt aber auch hier untertherapiert. In der Gruppe der Patienten mit
hohem CV Risiko ist die Zielwerterreichung zwar höher (Deutschland 17,9 %, Europa
25,7 %), der Einsatz von Kombinationstherapien dagegen geringer. Auffallend ist, dass
Deutschland sowohl in der Zielwerterreichung als auch beim Einsatz von Kombinationstherapien
unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Dabei zeigt diese Analyse, dass mehr als
doppelt so viele Patienten in Deutschland mit einer Kombinationstherapie ihr Therapieziel
erreichen als mit einer Monotherapie. Auf europäischer Ebene erreichten immerhin 40 %
mehr Patienten ihr Therapieziel mit einer Kombinationstherapie im Vergleich zu einer
Monotherapie. In der deutschen Kohorte der SANTORINI-Studie wurde zu Baseline bevorzugt
eine Statin-Monotherapie eingesetzt, auch hier war das Statin aber nur bei 41,3 %
dieser Patienten in hoher Intensität verordnet.
Entsprechend der ESC/EAS-Leitlinienempfehlung von 2019 soll zunächst ein Statin bis
zur höchsten vom Patienten tolerierten Dosis verordnet werden, um den LDL-C-Zielwert
gemäß CV Risikograd des Patienten zu erreichen. Wird dieser nicht erreicht, so empfehlen
die Leitlinien eine Kombinationstherapie aus einem Statin in der höchsten tolerierten
Dosierung und einer oder mehrerer weiterer LMT [5 ]. In der DA-VINCI-Studie von 2019 lag der Einsatz von Kombinationstherapien noch
bei 9,0 % für Statin + Ezetimib und bei 1,2 % für Kombinationen mit PCSK9-Hemmern
[7 ]. Seit dem Ende der DA-VINCI-Studie haben sich die Therapieoptionen für LMTs verändert,
beispielsweise ist Ezetimib als Monotherapie und in Kombination mit Statinen nun als
Generikum erhältlich, und neue LMTs wie Bempedoinsäure und die Fixkombination aus
Bempedoinsäure mit Ezetimib sind verfügbar. In SANTORINI wurde in der deutschen Kohorte
zu Baseline bei 16,5 % der Patienten Statin + Ezetimib und bei 2,2 % der Patienten
eine Kombination mit einem PCSK9-Hemmer angewendet, auch für die europäische Kohorte
ist ein Anstieg beim Einsatz von Kombinationstherapien im Vergleich zur DA-VINCI-Studie
zu beobachten. Dennoch bleiben die LDL-C-Zielwerterreichung und der Einsatz optimierter
lipidmodifizierender Therapien bei einem Großteil der Patienten suboptimal.
Zu den Limitationen der Studie gehört die Möglichkeit eines Selektions-Bias im Rahmen
der Beobachtungsstudie. Die Daten beruhen auf den Angaben der behandelnden Ärzte.
Die Studie untersucht zwar das Lipidmanagement in einem Real-World-Szenario, die Studie
repräsentiert aber vor allem Patienten, die an Lipidexperten überwiesen worden waren
– mehr als 70 % der SANTORINI-Studienärzte in Deutschland sind Fachärzte der Kardiologie.
Die Behandlung der CV Risikofaktoren durch die Fachärzte war in früheren Erhebungen
besser als durch Allgemeinmediziner [15 ], daher ist die tatsächliche LDL-C-Zielwerterreichung in Deutschland möglicherweise
schlechter als die in der SANTORINI-Population beobachtete. Die Erstattung von lipidmodifizierenden
Therapien und deren Kombinationen variiert zwischen den europäischen Ländern – Vergleiche
zwischen Deutschland und den übrigen europäischen Ländern in der SANTORINI-Studie
sind daher als rein deskriptiv zu betrachten.
Zusammengefasst zeigt die Studie, dass die ESC/EAS Leitlinien von 2019 in Deutschland
nur bei einer Minderheit der Patienten umgesetzt werden. Die Studie identifiziert
wichtige Möglichkeiten, durch Verbesserung der LDL-C senkenden Behandlung die Prävention
von CV Erkrankungen in Deutschland zu verbessern.
Die ESC/EAS-Leitlinien von 2019 zum LDL-C-Management werden in Deutschland nur bei
einer Minderheit der Patienten umgesetzt.
Das kardiovaskuläre Risiko von Hypercholesterinämie-Patienten wird in der Praxis häufig
unterschätzt.
Obwohl die LDL-C-Zielwerte gemäß den Leitlinien in der Mehrheit der Patienten nicht
erreicht wurden, erhielten zu Studienbeginn weniger als 20 % der Patienten eine lipidsenkende
Kombinationstherapie.
Die SANTORINI-Studie identifiziert Möglichkeiten zur Optimierung des LDL-C-Managements
und zur Verbesserung der kardiovaskulären Prävention.
Finanzierung
Diese Studie wurde finanziert von der Daiichi Sankyo Europe GmbH, München, Deutschland,
die das Studiendesign, die Sammlung der Daten und die Datenanalyse definierte. Sechs
Auftragsforschungsunternehmen führten die Studie in 14 europäischen Ländern im Auftrag
von Daiichi Sankyo Europe durch.
Studienregistrierung
ClinicalTrials.gov unter der Identifizierungsnummer NCT04271280