Wer heilt, hat recht! Diese These wird, seit ihr Verfasser Hippokrates diese vor fast
2500 Jahren formuliert hat, als Rechtfertigung für zahllose (sinnige und unsinnige)
medizinische Interventionen genutzt. Nun hatte Hippokrates damals selbstverständlich
noch nicht die Mittel, jede seiner Behandlungen einer Peer-reviewten, doppelt verblindeten
und randomisierten Kontrollstudie zu unterziehen. Deswegen musste er sich rein auf
seine persönlichen Beobachtungen stützen, um die Wirkung seiner Therapien zu beurteilen.
Im Jahr 2023 können Kliniker*innen dagegen aus einem deutlich größeren Wissensschatz
schöpfen, weshalb die evidenzbasierte Medizin deutlich in den Vordergrund gerückt
ist. Jeder, der im Gesundheitswesen gearbeitet hat, weiß aber auch, dass die aktuelle
Studienlage und die persönliche Erfahrung – vor allem im Einzelfall – mitunter völlig
unterschiedliche Schlussfolgerungen liefern können. Um diesen Spagat zu schaffen,
ist es wichtig zu wissen, was überhaupt eine wirksame Therapie ausmacht und was sie
von einer (vermeintlich) unwirksamen Therapie unterscheidet.
Spezifische vs. unspezifische Effekte
Spezifische vs. unspezifische Effekte
Eine wirksame Intervention besteht immer aus einem spezifischen Effekt und zusätzlichen
unspezifischen Therapieeffekten. Im Zusammenspiel ergeben diese am Ende das beobachtbare
Behandlungsergebnis.
Der spezifische Therapieeffekt ist das „tatsächlich Wirksame“ an einer Therapie. Er
ist somit der Effekt, der kausal auf die Anwendung der jeweiligen Intervention zurückzuführen
ist.
Der unspezifische Therapieeffekt beinhaltet all jene Faktoren, die zum Ergebnis der
Therapie beitragen, aber nicht explizit auf die Anwendung der jeweiligen Intervention
zurückzuführen sind. Die wichtigsten dieser Faktoren sind:
-
der natürliche Krankheitsverlauf: Viele Erkrankungen haben eine prognostisch hohe Wahrscheinlichkeit, von selbst auszuheilen
bzw. sich ohne Intervention stark zu verbessern [1], [2].
-
die Regression zur Mitte („regression to the mean“): Aus der Statistik ist bekannt, dass wenn ein gemessener Wert stark vom Durchschnitt
abweicht, also beispielsweise sehr hoch ist, der nächste Wert tendenziell wieder näher
am Durchschnitt ist. Da Menschen häufig einen Arzt oder Therapeuten aufsuchen, wenn
sie starke Schmerzen haben – und somit einen hohen Messwert –, ist es demzufolge wahrscheinlich,
dass der nächste Wert (respektive die Schmerzintensität in der nächsten Behandlung)
wieder deutlich geringer ausfällt, unabhängig davon, welche Behandlung vorgenommen
wird [1], [3].
-
begleitende Behandlungsmaßnahmen: Besonders Patient*innen mit lange persistierenden Beschwerden unterziehen sich oftmals
verschiedenen Behandlungen gleichzeitig. Hierdurch ist es nicht mehr möglich, den
Anteil, den eine einzelne Intervention am Gesamteffekt hatte, zu beurteilen [1], [4].
-
die Antworttendenz: Menschen neigen dazu, bei Befragungen, die „sozial erwünschte“ Antwort anstelle der
faktisch richtigen Antwort zu geben. Es ist somit möglich, dass die Patient*innen
(besonders bei einem guten Therapeuten-Patienten-Verhältnis) unwahre Aussagen über
die Besserung ihrer Probleme machen, um das Verhältnis zum Therapierenden zu verbessern
[1], [5].
-
individuelle Kontextfaktoren der Patient*innen: Die persönlichen Vorerfahrungen sowie die Wirkerwartungen (Placebo-Effekt) können
die scheinbare Wirksamkeit einzelner Interventionen zum Positiven oder Negativen beeinflussen.
Zudem spielen auch die jeweilige Beziehung zum Therapierenden und das Therapiesetting,
also die Einrichtung, aber auch der Zeitpunkt der Intervention eine Rolle [1], [6].
Sonderfall Placebo-Effekt
Sonderfall Placebo-Effekt
Der Begriff des Placebo-Effekts hat mittlerweile (u. a. durch die Homöopathie-Debatte
in den letzten Jahren) seinen Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. Trotz
der inflationären Nutzung dieses Begriffs gibt es nach heutigem Stand keine allgemeingültige
Definition. Meist wird der Begriff mit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung
gleichgesetzt. Der Patient erhält eine Behandlung, von der er glaubt, sie sei wirkungsvoll.
Auf Grundlage dieser positiven Wirkerwartung stellt sich eine Besserung der behandelten
Symptomatik ein. Dieser Effekt wird als Placebo-Effekt bezeichnet [1], [7].
Diese und weitere Kontextfaktoren beeinflussen, in unterschiedlicher Gewichtung, jede
Intervention. Es ist hierdurch möglich, dass auch Methoden, die ohne jede spezifische
Wirkung sind, ein positives Behandlungsergebnis suggerieren, wenn die jeweilige Ausprägung
der unspezifischen Effekte sehr hoch ist.
Kognitive Verzerrungen
Zusätzlich zu den Kontextfaktoren, die auf Seiten der Patient*innen einen scheinbar
positiven Therapieeffekt herbeiführen können, gibt es auf Seiten der Behandelnden
kognitive Verzerrungen, die das Gefühl der Wirksamkeit beeinflussen:
-
Post hoc ergo propter hoc (lat. danach, also deswegen): „Die Symptomatik verbesserte sich unmittelbar nach der Behandlung. Somit muss die
Behandlung die Ursache für die Verbesserung sein.“ Wie im oberen Abschnitt bereits
erwähnt, kann der zeitliche Zusammenhang zwischen Intervention und vermeintlicher
Wirkung auch aufgrund von Kontextfaktoren auftreten und beweist nicht die tatsächliche
Wirkung besagter Intervention [8].
-
Argumentum ad verecundiam (lat. Beweis durch Ehrfurcht)„Die Intervention wird von einem bestimmten Experten oder einer Autoritätsperson (beispielsweise
Mediziner*in, prominente Persönlichkeit, Therapieleitung) als wirksam postuliert,
also muss sie auch wirksam sein.“ Auch vermeintliche Experten sind kognitiven Verzerrungen
und Kontextfaktoren ausgesetzt, weshalb auch eine Expertenmeinung kein Nachweis für
eine Wirksamkeit ist [9].
-
Argumentum ad populum (lat. Beweis durch das Volk): „Die Intervention wird von den meisten Therapierenden als wirksam erachtet, also
muss sie auch wirksam sein.“ In der Vergangenheit wurden bereits unzählige gängige
Maßnahmen aufgrund ihrer Wirkungslosigkeit verworfen, auch wenn diese von der Allgemeinheit
akzeptiert wurden. Die Verbreitung einer Intervention kann somit nicht als Beweis
einer Wirksamkeit gelten [10].
-
Vorschnelle Verallgemeinerung und Confirmation Bias (engl. Bestätigungsfehler): „Ich habe so oft gesehen, wie die Intervention bei Patient*innen gewirkt hat, dass
sie unmöglich wirkungslos sein kann.“ Die Stichprobe ist auch bei erfahrenen Therapeut*innen
zu klein und zu heterogen, um definitive Aussagen über Wirksamkeiten treffen zu können.
Des Weiteren tendieren Menschen dazu, Informationen, die die eigenen Erwartungen erfüllen,
höher zu bewerten als solche, die für die eigenen Erwartungen unpassend sind. Somit
bleiben die positiven Ergebnisse einer Maßnahme, die den jeweiligen Therapeut*innen
gefällt, diesen eher im Gedächtnis [11].
-
Persönliche Erfahrung: „Ich habe die Intervention selbst getestet und sie hat eine Wirkung gezeigt.“ Wie
bereits oben erwähnt, ist die persönliche Erfahrung anfällig für Verzerrungen und
somit kein Wirknachweis [1].
-
Wirkung bei Kindern oder Tieren: „Kleine Kinder oder Tiere können keine Wirkerwartung haben. Wenn die Intervention bei
ihnen wirkt, muss sie auch einen spezifischen Effekt haben.“ Auch wenn Kinder und
Tiere keine Wirkerwartung haben, können dennoch andere Kontextfaktoren auf sie wirken.
Zudem kann sich eine positive Wirkerwartung der Eltern/Besitzer positiv auf den Therapieeffekt
auswirken (Placebo by Proxy).
Diese Auflistung umfasst nur einen Bruchteil aller Streiche, die einem der eigene
Verstand in der Therapiesituation spielen kann. Als Behandelnder steht man also zunächst
doch wieder (wie Hippokrates vor über 2000 Jahren) vor dem Problem, nur das beobachtbare
Behandlungsergebnis überblicken zu können. Retrospektiv herauszuarbeiten, welcher
Faktor in welchem Ausmaß zu dem jeweiligen Ergebnis beigetragen hat, und nebenbei
noch die eigenen kognitiven Verzerrungen im Zaum zu halten, ist unmöglich.
Deswegen reicht es auch nicht aus, sich bei der Evaluation, ob eine Intervention
tatsächlich wirkungsvoll ist, nur auf die eigenen Erfahrungen zu verlassen.
Randomisierte Kontrollstudien als Wirknachweis
Randomisierte Kontrollstudien als Wirknachweis
Um diese Evaluation vornehmen zu können, ist es notwendig, sich die Arbeit von Wissenschaftler*innen
zunutze machen. Als Goldstandard für die Bewertung bestimmter Therapie-Methoden gelten
randomisierte, placebokontrollierte Studien. Die Teilnehmenden bei einer solchen Studie
werden zufällig in zwei oder drei Gruppen aufgeteilt. Die erste Gruppe erhält die
Intervention, deren Wirkung überprüft werden soll.
Eine wirksame Intervention besteht aus einem spezifischen Effekt und zusätzlichen
unspezifischen Therapieeffekten.
Die zweite Gruppe erhält ein Placebo, also eine Scheinbehandlung, die nachweislich
keinen spezifischen Therapieeffekt hat. Oft gibt es noch eine dritte „Wait and see“-Gruppe,
die keine Intervention erhält.
Aufgrund der oben genannten unspezifischen Therapieeffekte wird sich auch bei unwirksamen
Methoden ein gewisser Behandlungserfolg einstellen. Deswegen muss das Ergebnis aller
Gruppen miteinander verglichen werden. Nur wenn das Behandlungsergebnis der ersten
Gruppe signifikant besser als das der zweiten bzw. zweiten und dritten ist, kann von
einer wirkungsvollen Intervention ausgegangen werden [12].
Der spezifische Therapieeffekt ist somit die Differenz zwischen dem Behandlungserfolg
einer wirksamen Therapie und dem einer Therapie, deren Erfolg nur auf der Summe der
Kontextfaktoren beruht.
Wissenschaft und Heilkunst (und Baseball)
Wissenschaft und Heilkunst (und Baseball)
Viele, auch bereits evidenzbasiert arbeitende Kliniker*innen stellen sich nun berechtigterweise
die Frage: „Darf ich jetzt nur noch Therapiemethoden anwenden, die eine eindeutig
wissenschaftlich belegte Wirksamkeit haben?“ Der Baseballcoach und Teilzeitphilosoph
Yogi Berra soll gesagt haben: „In der Theorie gibt es keinen Unterschied zwischen
Theorie und Praxis. In Praxis gibt es ihn“ [13]. Dieses (auf Baseballtraining bezogene) Zitat zeigt einen Ausweg aus diesem vermeintlichen
Dilemma: Die wissenschaftlich belegte Wirksamkeit ist eben „nur“ ein statistisches
Modell. Dieses Modell gibt eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit eines zu erwartenden
Effekts. Ob dieser im Einzelfall tatsächlich auftritt und wie stark er in dem Fall
ist, lässt sich bis heute mit keiner Methode eindeutig vorhersagen.
In diesem Fall kommt die Expertise der Therapierenden ins Spiel. Der- oder diejenige
entscheidet im Einzelfall, wie er oder sie den Patienten von einem spezifischen Therapieeffekt
profitieren lässt, und versucht gleichzeitig, die unspezifischen Effekte zu maximieren.
Fazit
Eine wirksame Therapie besteht aus zwei Grundpfeilern, die beide sehr klar abgrenzbare
Aufgaben erfüllen. Der wohl berühmteste – und wahrscheinlich auch berüchtigtste –
Forscher auf diesem Gebiet ist der emeritierte Professor Edzard Ernst. Er nennt diese
Symbiose die „zwei Beine [der Medizin]: Wissenschaft und Heilkunst“ [14].
Das erste Bein, die Wissenschaft, ist für den theoretischen Unterbau und für den Beleg
der Wirksamkeit zuständig. Durch die weitestgehend objektive Natur der Wissenschaft
ist es möglich, anhand großer Datenmengen einen Nachweis zu erbringen, ob eine Intervention
eine spezifische Wirkung hat. Was die Wissenschaft nicht kann, ist im Einzelfall eine
Vorhersage zu treffen, ob und in welchem Maße eine wirksame Maßnahme anschlägt und
welche Kontextfaktoren besonders zu beachten sind.
Das zweite Bein, die Heilkunst bzw. Yogi Berras Baseballtraining, versteht es, durch
Erfahrungswerte die individuell richtige, wissenschaftlich nachgewiesene Maßnahme
auszuwählen und anzuwenden. Teil der Heilkunst ist es zudem, durch Empathie und therapeutisches
Geschick die zu Behandelnden maximal von den Kontextfaktoren profitieren zu lassen.
Aufgrund ihres vollständig subjektiven Charakters ist es weder der Heilkunst und noch
nicht mal Hippokrates möglich, den Wirknachweis einer bestimmten Intervention zu stellen.
Für ein Fortschreiten der evidenzbasierten Medizin und somit einer besseren Patientenversorgung
ist es elementar, die Chancen, aber auch die Grenzen beider Grundpfeiler zu kennen.
Die in der Einleitung vorgestellte Plattitüde „Wer heilt, hat recht“ sollte somit
(nach Yogi-Berra-Art) umformuliert werden:
„Wer heilt, heilt (hat aber nicht immer recht)“
und
„Wer recht hat, hat recht (heilt aber nicht immer)“.
Julian Kiesele