Schlüsselwörter
COVID-19-Impfungen - Pandemie - Impfstoffentwicklung - rolling review
Keywords
COVID-19 vaccine - pandemic response - vaccine development - rolling review
Der Ausweg aus der COVID-19-Pandemie
Der Ausweg aus der COVID-19-Pandemie
Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie Ende 2019 in Wuhan, China, stürzte die Weltgemeinschaft
in die wohl schwerste medizinische, humanitäre, soziale und wirtschaftliche Krise
seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Im Dezember 2019 traten erstmals Fälle einer neuen Atemwegsinfektion unbekannter Ursache
in China auf. Bereits Anfang Januar 2020 wurde das ursächliche Virus aus einer bronchoalveolären
Lavage eines Patienten isoliert und genomisch als ein neues Beta-Coronavirus identifiziert.
Die Genomsequenz wurde am 10. Januar durch den Virologen Zhang Yongzhen an der Fudan
Universität der Weltgemeinschaft zur Verfügung gestellt. Dies stellte den Startschuss
für die Entwicklung von diagnostischen Tests und Impfstoffen dar. In der Folge breitete
sich das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „Severe Acute Respiratory Syndrome
Coronavirus Typ 2” (SARS-CoV-2) bezeichnete Virus weltweit aus. Am 30. Januar stufte
die WHO den Ausbruch zunächst als gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite
(PHEIC) ein; am 11. März erklärte die WHO den SARS-CoV-2-Ausbruch zur Pandemie. Erst
über 3 Jahre später wurde der internationale Gesundheitsnotstand am 5. Mai 2023 für
beendet erklärt. SARS-CoV-2 hat sich seither phylogenetisch aufgezweigt und zirkuliert
weiterhin weltweit mit hohen Infektionszahlen.
Der entscheidende Unterschied zur frühen Phase der COVID-19-Pandemie ist jedoch die
nun etablierte, breite Bevölkerungsimmunität, welche eine entscheidende Reduktion
der Krankheitsschwere zur Folge hat.
So lag die Fallsterblichkeit (CFR: Case-Fatality-Rate) bei Erwachsenen vor Beginn
der Impfkampagne in Deutschland bei ca. 4,6%; bei hohem Alter oder bestimmten Risikofaktoren
auch deutlich höher (>10%) [1]. Seit der breitflächigen Einführung der COVID-19-Impfungen ist die CFR auf durchschnittlich
ca. 0,1% gesunken, vergleichbar mit der saisonalen Influenza [2]. Allerdings kommt es kumulativ weiterhin zu deutlich mehr SARS-CoV-2-Infektionen
und saisonale Anstiege können im Zusammenspiel mit anderen Infektionswellen zu erhöhten
Belastungen des Gesundheitssystems führen. Die vergangenen Jahre haben zudem durch
starke Belastung des medizinischen Personals erhebliche Spuren im gesamten Gesundheitswesen
hinterlassen: Der vorbestehende Personalmangel hat sich akut weiter verschärft. Strukturelle
und finanzielle Schieflagen der Krankenhäuser haben sich massiv zugespitzt. Ohne grundlegende
Reformen ist von einem erheblichen Verlust an Versorgungsqualität und Leistungsfähigkeit
auszugehen.
Eindämmung der Infektionen
Vor der Einführung effektiver Impfstoffe und ohne eine relevante Bevölkerungsimmunität
konnte die COVID-19-bedingte Krankheitslast nahezu ausschließlich über die Reduktion
der Infektionen begrenzt werden. Das Infektionsgeschehen wurde primär durch Kontaktbeschränkungen
eingedämmt, um akute Überlastungen im Gesundheitswesen, insbesondere im (intensiv)stationären
Bereich, zu verhindern, wie dies zu Beginn der Pandemie z.B. in Norditalien, New York
oder Großbritannien eingetreten war. Die teilweise gravierenden Einschränkungen des
öffentlichen Lebens führten zu einer effektiven Reduktion der Virustransmission und
damit zu einer Entlastung des Gesundheitssystems [3]. Jedoch waren viele Maßnahmen auch mit erheblichen unerwünschten Kollateraleffekten
assoziiert, welche neben Bildung, Kultur und Wirtschaft fast alle Bereiche des gesellschaftlichen
Lebens betrafen. Insgesamt waren die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie enorm: Eine
Aufstellung des Bundesfinanzministeriums bezifferte allein die direkten pandemiebedingten
Mehrausgaben von 2020–2022 auf 439,7 Milliarden Euro [4]. Kontaktbeschränkungen und andere Maßnahmen waren somit zwar wirksam für die Abwendung
akuter Gefahren für das Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur des Landes,
jedoch sind sie aufgrund gravierender Kollateraleffekte und hoher Kosten nicht langfristig
tolerabel.
Der entscheidende Ausweg aus einer pandemischen Notlage mit einem leicht übertragbaren
Erreger wie SARS-CoV-2 ist daher der rasche Aufbau einer schützenden Immunität.
Dies gelingt bei Infektionen mit hoher Krankheitslast nur über eine sichere und effektive
Impfung.
Entwicklung und Zulassung von hochwirksamen Vakzinen mit „Warp Speed“
Entwicklung und Zulassung von hochwirksamen Vakzinen mit „Warp Speed“
„Warp Speed“
Der Begriff „Warp Speed“ kommt aus dem Science-Fiction-Genre und bedeutet so viel
wie „Reisen mit Lichtgeschwindigkeit“. In den USA wurde die Initiative der Regierung
zur Beschleunigung der Entwicklung, Herstellung und zum Vertrieb von COVID-19-Impfstoffen
als „Operation Warp Speed“ bezeichnet.
Diese kritische Bedeutung von sicheren und effektiven Impfstoffen zur Bewältigung
der Pandemie wurde früh von Wissenschaft, Industrie, zuständigen regulatorischen Behörden
und Regierungen erkannt. Neben der Bereitstellung erheblicher finanzieller Ressourcen
wurden Rahmenbedingungen für beschleunigte Beratungs- und Zulassungsprozesse geschaffen.
Die Entwicklung von COVID-19-Impfstoffkandidaten konnte glücklicherweise auf jahrzehntelange
Vorarbeiten aus der Grundlagenforschung zurückgreifen. Technische Fortschritte in
der mRNA- und der viralen Vektortechnologie, vor allem jedoch Erkenntnisse aus der
Impfstoffforschung an verwandten Coronaviren, wie dem Middle East Respiratory Syndrome
Coronavirus (MERS-CoV), waren entscheidende Wegbereiter für die erfolgreiche Entwicklung
von COVID-19-Impfstoffen.
So war bekannt, dass das Spike-Glykoprotein das aussichtsreichste Impfantigen darstellt,
da neutralisierende Antikörper hier ansetzen und die Infektion von Zellen blockieren.
Die Arbeit von Jason McLellan et al. gab entscheidende Hinweise zum Design des Impfantigens
gegen Coronaviren: Sie entwickelten 2017 eine Methode, mit der sie das Spike-Glykoprotein
in seiner Präfusionskonformation stabilisieren konnten, wodurch sich eine deutlich
bessere Impfantwort auslösen ließ [5]. Bis auf die inaktivierten Ganzvirus-Impfstoffe verwendeten alle COVID-19-Impfstoffe
das Spike-Protein als Impfantigen und viele der erfolgreichsten COVID-19-Impfstoffe
setzen das Prinzip der Präfusionsstabilisierung ein. Grundlegende Arbeiten zur chemischen
Modifikation von mRNA-Molekülen und deren sicheren Einsatz in Medikamenten und Impfstoffen
wurden kürzlich mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet [6].
Nur 10 Monate nach Veröffentlichung der viralen Genomsequenz wurden am 9. November
2020 Wirksamkeitsdaten aus der klinischen Phase-III-Studie des mRNA-Impfstoffs BNT162b2
bekannt gegeben. Mit einer berichteten Effektivität von 95% übertrafen die Ergebnisse
alle Erwartungen [7]. Bereits 1 Monat später erteilte die amerikanische Zulassungsbehörde FDA eine Notfallzulassung
für BNT162b2 und am 21. Dezember 2020 erfolgte die bedingte Zulassung des Impfstoffs
in der EU. Kurz darauf berichteten weitere Hersteller positive Ergebnisse und es folgten
Zulassungen des mRNA-Impfstoffs mRNA1237 und der adenoviralen Vektorimpfstoffe AZD1222
und Ad26.COV2.S.
Die ersten COVID-19-Impfungen in Deutschland wurden am 26. Dezember 2020 verabreicht.
Beschleunigte Impfstoffentwicklung
Die herkömmliche Impfstoffentwicklung und -produktion ist ein zeit- und kostenintensiver
Prozess, der nicht selten in der präklinischen oder frühen klinischen Phase abgebrochen
wird. Die Dauer von der präklinischen Entwicklung bis zur Zulassung beträgt typischerweise
15 Jahre oder länger [8]. Entwicklung, Zulassung und Rollout hochwirksamer COVID-19-Impfstoffe gelangen somit
in unter einem Zehntel der üblichen Zeit – ohne relevante Einschränkungen beim Umfang
oder der Qualität der Prüfung. Dieser einmalige Erfolg der modernen Medizin wurde
durch verschiedene Faktoren ermöglicht ([Abb. 1]).
Abb. 1 Herkömmliche vs. beschleunigte Impfstoffentwicklung. Die traditionelle Impfstoffentwicklung
ist ein langwieriger und kostspieliger Prozess. Für die COVID-19-Impfstoffe wurden
regulatorische Verfahren beschleunigt und Prüfphasen überlappend durchgeführt, wodurch
die Prüfverfahren auf ⅒ der sonst üblichen Zeit verkürzt werden konnten.
Zugriff auf existierende Daten
Existierende Daten aus Grundlagen- und angewandter Forschung zu verwandten Coronaviren
und neuen Impfstoffplattformen, wie der mRNA-Technologie, ebneten den Weg für extrem
kurze präklinische Entwicklungs- und Prüfphasen, welche sonst Jahre in Anspruch nehmen.
So begannen bereits im Mai 2020 die klinischen Studien.
Überlappende Studienphasen
In der Regel werden die verschiedenen Prüfphasen nacheinander durchgeführt, mit zwischengeschalteten
Analysen und Kosten-Nutzen-Evaluationen vor Beginn der jeweils nächsten Phase. Dies
dient vorrangig der finanziellen Risikominimierung, verzögert das Fortschreiten der
Studienphasen aber häufig um Jahre. Bei den COVID-19-Impfstoffen wurden klinische
Prüfphasen früher begonnen, kombiniert und überlappend durchgeführt ([Abb. 1]).
Rolling-Review-Verfahren
Den Zulassungsverfahren für die COVID-19-Impfstoffe wurde die höchste Priorität eingeräumt
und übliche Prozesse wurden angepasst. In herkömmlichen Zulassungsverfahren werden
nach dem Abschluss der Phase-III-Studie Ergebnisse gebündelt zur Prüfung an die zuständigen
Behörden übermittelt. Die behördliche Prüfung kann oft 1–2 Jahre in Anspruch nehmen.
Das in der Pandemie etablierte Rolling-Review-Verfahren ermöglichte den Impfstoffherstellern
bereits während der noch laufenden Studien Daten zur Prüfung einzureichen. Der Zulassungsprozess
konnte so früher beginnen und wurde insgesamt erheblich verkürzt.
Investitionen aller Beteiligten
Überlappende Studienphasen wurden durch eine hohe finanzielle Risikobereitschaft der
beteiligten Firmen und Investitionen öffentlicher Mittelgeber ermöglicht. Weltweit
wurden zahlreiche Public Private Partnerships (PPP) etabliert, wie bspw. das „Operation
Warp Speed“ in den USA, das hohe staatliche Fördersummen zur Kofinanzierung von Impfstoffentwicklung
und -produktion bereitstellte.
Hohe Inzidenzen und große Studienpopulationen
Bei selteneren Infektionskrankheiten können Wirksamkeitsstudien für Impfstoffe mitunter
Jahre dauern. Hohe Probandenzahlen und die pandemiebedingt hohen Inzidenzen begünstigten
die zügige Auswertung der Studien.
Aufbau von Produktionskapazitäten
Die Hersteller gingen, zum Teil unterstützt durch staatliche Subventionen oder schon
geschlossene Lieferverträge, ins Risiko und bauten Produktionskapazitäten für ihre
Impfstoffe auf, damit die Produktion schon vor der Zulassung beginnen konnte. Viele
Länder schlossen bereits vor dem Ende der klinischen Studien Lieferverträge mit Impfstoffherstellern
ab.
Erste Impfstoffe wurden schon im Dezember 2020 ausgeliefert.
Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, wie die Entwicklung von lebensrettenden Impfstoffen
beschleunigt werden kann. Die „Coalition for Epidemic Preparedness Innovations“ (CEPI),
eine weltweite Allianz aus WHO, EU-Kommission, Regierungen, Forschungseinrichtungen,
Impfstoffherstellern, Stiftungen und privaten Förderern, formulierte kürzlich einen
ambitionierten Plan für die Zulassung neuer Impfstoffe in 100 Tagen [9]. So könnten Impfungen noch schneller zur Verfügung stehen, um das Ausmaß und die
Auswirkungen im Falle einer neuen Pandemie schneller und wirkungsvoller zu begrenzen.
Logistik, Information und Akzeptanz
Logistik, Information und Akzeptanz
Schon vor der Zulassung waren Regierungen weltweit mit der Herausforderung konfrontiert,
ausreichende Mengen an Impfstoff zu beschaffen. Zunächst herrschte aufgrund limitierter
weltweiter Produktionskapazitäten und angesichts des enormen Bedarfs ein großer Impfstoffmangel.
Bei den mRNA-Impfstoffen kam mit den besonderen Anforderungen an die Kühlkette mit
Lagerungstemperaturen von -90° bis -60°C eine weitere logistische Herausforderung
für die Distribution der Impfung hinzu.
Zügige Impfkampagnen wurden in einigen Ländern, wie bspw. in Israel, mit sehr hoher
Effizienz und Geschwindigkeit durchgeführt. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen
Alter und CFR wurde in Deutschland und den meisten anderen Ländern die Impfstoffvergabe
nach Alter, Expositionsrisiko und Vorerkrankungen priorisiert [10].
Allerdings lief die Umsetzung der Impfkampagne in Deutschland nicht überall reibungslos.
Da die Verteilung der Impfstoffe, der Aufbau und Betrieb von Impfzentren und die Terminvergabe
in der Verantwortung der Bundesländer lag, gab es mitunter erhebliche organisatorische
Unterschiede. So wurde die Terminvergabe in einigen Bundesländern über eine postalische
Kontaktaufnahme, in anderen über dezentrale Webseiten oder Terminhotlines durchgeführt.
Die uneinheitliche Organisation und in Teilen umständliche Terminvergabe führten zu
Unsicherheit und einem in einigen Bundesländern deutlich verzögerten Anlaufen der
Impfkampagne. Andere Länder fanden durch eine zentrale Terminvergabe und intuitiv
bedienbaren zentralen Online-Portalen wie „Vite Ma Dose“ in Frankreich oder den „NHS
Immunisation Management Service“ in Großbritannien bessere, niederschwellige und vor
allem einheitliche Lösungen. Ein bundeseinheitliches Vorgehen mit einem zentralen
Portal für aktuelle Informationen und Terminvergaben hätte womöglich die Impfkampagne
in Deutschland deutlich beschleunigen und für erhöhte Transparenz und Vertrauen sorgen
können.
Neben organisatorischen Abläufen spielen Vertrauen und Akzeptanz eine zentrale Rolle
für den Erfolg von Impfkampagnen.
Skepsis gegenüber Impfungen
Die WHO hatte bereits 2019 vor einer weltweit zunehmenden Zurückhaltung und Skepsis
gegenüber Impfungen gewarnt und dies als eine der führenden Gesundheitsgefahren benannt
[11]. Die hochdynamische Nachrichten- und Datenlage sowie eine zum Teil kakophone öffentliche
Diskussion zu COVID-19 und den Impfungen trugen mutmaßlich zu einer erhöhten Verunsicherung
in einigen Teilen der Bevölkerung bei. Der Expertenrat der Bundesregierung zu COVID-19
stellte in seiner 5. Stellungnahme fest: „Ein Mangel an Übereinstimmung verfügbarer
Informationen, ihrer Bewertungen und den resultierenden Empfehlungen trägt zur Verunsicherung
der Bevölkerung bei, bietet Angriffsfläche für Falsch- und Desinformation, untergräbt
das Vertrauen in staatliches Handeln und gefährdet den Erfolg wichtiger Maßnahmen
zum Schutz der Gesundheit.“ [12].
In der Tat wurden weltweit Informationslücken gezielt ausgenutzt, um Fehl- und Desinformation
zu verbreiten.
Die teils gravierenden direkten und indirekten Folgen unzureichender Risikokommunikation
und systematischer Desinformation waren deutlich spürbar und wirken bis heute nach
[13]. Zusammenhänge von Impfquoten und Sterblichkeit wurden vielfältig dokumentiert.
So wiesen Landkreise in den USA mit einer niedrigeren Impfquote eine erhöhte Mortalität
auf [14]. Korrelationsanalysen aus Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass Bundesländer
mit hoher Impfquote 2021 eine niedrige Übersterblichkeit aufwiesen (z.B. Bremen 1,44%),
während Länder mit niedrigen Impfquoten eine deutlich höhere errechnete Übersterblichkeit
verzeichneten (z.B. Sachsen 14,67%) [15]. Zwar spielen bei der Übersterblichkeit auch viele andere Faktoren eine Rolle, jedoch
ist der statistische Zusammenhang gut belegt und deckt sich mit internationalen Daten
zur hohen Schutzwirkung der Impfungen. Die Ablehnung der Impfung ist zudem häufig
mit einem Verlust an Vertrauen in staatliche Institutionen assoziiert, wie die Erfurter
COSMO-Studie deutlich zeigte [16].
Transparente Kommunikation und fundierte Empfehlungen
Transparente Kommunikation und fundierte Empfehlungen
Um Vertrauen und Akzeptanz von Gesundheitsmaßnahmen zu schaffen, bedarf es zielgruppenspezifischer
Information und einer effektiven, kompetenten Risikokommunikation. Diese basiert auf
3 wesentlichen Bausteinen [12]:
-
Generierung des besten verfügbaren Wissens
-
Übersetzung der relevanten Daten in nutzerorientierte und handlungsrelevante Informationsformate
-
Verbreitung der Information
Die Generierung von sog. „Real-World-Evidence“ durch klinische Studien oder Analysen
von Versorgungsdaten ist daher von herausragender Bedeutung als Datengrundlage für
eine gute Information und eine transparente Kommunikation von Nutzen und Risiken einer
Maßnahme, wie der COVID-19-Impfung.
Diese Daten sind ebenfalls essenziell, um Impfempfehlungen an neue Gegebenheiten anzupassen
oder Impfkampagnen effektiver zu steuern.
Analysen von Versorgungsdaten
Detaillierte Analysen von Versorgungsdaten von Hunderttausenden oder gar Millionen
Personen wurden in Ländern mit einer zentralen Erfassung elektronischer Patientendaten
und einer etablierten digitalen Infrastruktur, wie in Israel, Dänemark oder Großbritannien,
sehr erfolgreich durchgeführt. So waren große Datensätze zur Impfeffektivität einer
3. COVID-19-Impfung aus Israel, die nicht in den Zulassungsstudien untersucht worden
war, eine wichtige Entscheidungsbasis für Booster-Empfehlungen in Deutschland [17]. Während die deutschen und internationalen Pharmakovigilanzsysteme präzise die Sicherheit
der COVID-19-Impfstoffe überwachten und auch sehr seltene Komplikationen frühzeitig
detektierten, wurden in Deutschland nur sehr grobe Daten zur Impfeffektivität und
zur Verfolgung der Impfkampagne erhoben.
Hochwertige Daten sind die Grundlage für transparente Kommunikation und fundierte
Empfehlungen.
Situation in Deutschland
In Deutschland wurden überwiegend kleine klinische Studien zu Einzelaspekten der Impfung
durchgeführt, was folgende Gründe hatte [18].
Das deutsche Gesundheitssystem ist größtenteils nicht digitalisiert und nicht zentralisiert,
vielmehr vorwiegend fragmentiert mit einer scharfen Trennung zwischen ambulantem und
stationärem Sektor.
Es fehlen zentrale Datenspeicherungen, die für eine zeitnahe wissenschaftliche Auswertung
zugänglich sind.
Bisher wurden in Deutschland Impfdaten primär aus Krankenkassenabrechnungen erfasst,
die einen Meldeverzug von bis zu 9 Monaten haben. Auch beim „Digitalen Impfquotenmonitoring“
(DIM) des Robert-Koch-Instituts mangelte es an hochaufgelösten Daten.
Auch die regulatorischen Rahmenbedingungen verzögern die Durchführung einiger klinischer
Studien. Hierbei sind erneut die föderalen Strukturen herausfordernd. Bei Beobachtungsstudien
müssen die zuständigen Ethikkommissionen jedes Studienzentrums beraten, wobei teilweise
in derselben Stadt mehrere Ethikkommissionen für unterschiedliche Studienzentren zuständig
sind. Dieser redundante Prozess kann bei großen Studien schnell mehrere Monate in
Anspruch nehmen und die Erhebung von ausbruchsrelevanten Daten massiv verzögern oder
verhindern. Andere regulatorische Voraussetzungen stellen ebenfalls hohe Hürden dar:
Bei Studien zur Wirkung zugelassener Medikamente werden studienbedingte Untersuchungen,
die außerhalb der klinischen Routine erfolgen, als Interventionen im Sinne des Arzneimittelgesetzes
(AMG) eingestuft. Dadurch fallen diese Studien unter die Regelungen einer klinischen
Prüfung (AMG-Studie). Regulatorische Vorgaben für interventionelle Studien, die in
der Regel der Prüfung neuer Medikamente auf Sicherheit und Wirksamkeit dienen, sind
zu Recht sehr viel höher und erfordern einen deutlich größeren zeitlichen und personellen
Aufwand als nicht interventionelle Studien. Als Intervention im Sinne des AMG gelten
jedoch auch geringfügige Maßnahmen, wie eine Blutabnahme zur Antikörperbestimmung
nach einer Impfung – selbst wenn die Impfung ausschließlich im Rahmen der Routineversorgung
erfolgt.
Im Mai 2021 wurde diese Hürde durch die „Erste Verordnung zur Änderung der ‘Medizinischer
Bedarf Versorgungssicherstellungsverordnung’“ (MedBVSV) vorübergehend für die COVID-19-Forschung
ausgesetzt.
Dies ermöglichte u.a. die Durchführung von Immunogenitätsstudien zu COVID-19-Impfungen
als Anwendungsbeobachtungen, wodurch bspw. kurzfristig Daten zur heterologen Impfung
erhoben werden konnten [19]
[20]. Dieses Impfregime wurde von der Ständigen Impfkommission (STIKO) aufgrund eines
unerwarteten Sicherheitssignals bei dem Vektorimpfstoff AZD1222 empfohlen, doch erst
begleitende Anwendungsbeobachtungen lieferten klinische Evidenz für die Sicherheit
und Immunogenität dieser Strategie [20]. Mit dem Auslaufen der MedBVSV zum 31. Dezember 2023 greifen die Regularien des
AMG fortan wieder für alle Studien. Daher bedarf es dringend langfristiger Regelungen,
die eine zügige und pragmatische Erhebung von Real-World-Daten zu Impfungen und anderen
zugelassenen Medikamenten ermöglichen.
Es fehlen nationale Studienplattformen, die kurzfristig in der Lage sind, große multizentrische
klinische Studien zu unterstützen oder durchzuführen und einen freien Austausch von
Daten zu gewährleisten.
Hochwertige Daten sind die Voraussetzung für eine präzise Einschätzung der Infektionslage
sowie die Bewertung von Nutzen und Risiko von Impfungen und anderen Interventionen
und bilden somit die Grundlage für fundierte Aufklärung und Handlungsempfehlungen.
Für die schnelle Generierung hochwertiger Daten müssen in Deutschland langfristig
verbesserte Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Fazit
Die COVID-19-Pandemie hat die Gesellschaft stark gefordert und auf prägnante Weise
Stärken und Schwächen der Krisenresilienz des Landes offengelegt. Die erfolgreiche
Rückkehr zur weitgehenden gesellschaftlichen Normalität gelang nur durch den raschen
Aufbau einer schützenden Bevölkerungsimmunität. Diese wurde durch die herausragend
schnelle Entwicklung und den breiten Einsatz wirksamer Impfstoffe ermöglicht. Neben
diesen sehr positiven Erkenntnissen gibt es einige Handlungsfelder, bei welchen dringender
Verbesserungs- und Reformbedarf besteht, um zukünftig besser auf Pandemien und gesundheitliche
Krisensituationen reagieren zu können.
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Die Digitalisierung des Gesundheitswesens und der Aufbau einer effektiven, sektorenübergreifenden
Dateninfrastruktur müssen mit höchster Intensität vorangetrieben werden.
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Das deutsche Gesundheitssystem ist dringend reformbedürftig, ansonsten droht bereits
kurzfristig ein massiver Verlust an Qualität und Leistungsfähigkeit.
-
Die Akzeptanz von Gesundheitsmaßnahmen hängt wesentlich von guter Information und
Kommunikation ab. Daher müssen bessere Strukturen und Strategien für eine verständliche
und einheitliche Gesundheits- und Risikokommunikation aufgebaut werden.
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Bedingungen für klinisch-translationale Forschung in Deutschland müssen deutlich verbessert
werden. Dazu gehört insbesondere der Abbau von Bürokratie, Redundanzen und regulatorischen
Auflagen für klinische Studien sowie eine bessere strukturelle Vernetzung und eine
nachhaltige Finanzierung der klinischen Forschung.
-
Hochwertige Grundlagenforschung erhöht die Resilienz der Gesellschaft gegen neue Ausbrüche,
sie muss daher langfristig gestärkt werden.