Warum ist eigentlich niemand früher draufgekommen, dass Lachgas gegen Depression helfen könnte? Wie man der Wikipedia entnehmen kann, wurde Lachgas
bereits im Jahr 1771 von dem englischen Pfarrer, Chemiker und Physiker Joseph Priestley
beschrieben und rein hergestellt. Ebenfalls ein Engländer, der Apotheker Humphry Davy,
begann dann 26 Jahre später damit, durch Selbstversuche die psychotropen, analgetischen
und anästhetischen Wirkungen des Lachgases zu untersuchen. Daher rührt auch der englische
Name „laughing gas“, der mit dem deutschen „Lachgas“ einfach übernommen wurde. Das
Gas wurde im vorletzten Jahrhundert in Europa und vor allem in den USA auf „Lachgasparties“
([
Abb. 1
]) oder zur Belustigung auf Jahrmärkten verwendet. – Wie konnte man eigentlich angesichts
dieser geschichtlichen Ereignisse nicht auf die Idee kommen, Lachgas gegen Schwermut, wie Depression früher auch genannt
wurde, therapeutisch einzusetzen?
Abb. 1 Dieses undatierte Bild einer privaten Lachgasparty trägt den Titel “Doctor and Mrs Syntax, with a party of friends, experimenting with laughing gas. Coloured aquatint by T. Rowlandson after W. Combe”, wurde leicht modifiziert und
entstammt der Sammlung Wellcome Images, einer Webseite des gemeinnützigen britischen Wellcome Trust (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Doctor_and_Mrs_Syntax,_with_a_party_of_friends,_experimentin_Wellcome_V0011224.jpg; abgerufen am 17.9.2023). Foto: ©Wikipedia.com/Wellcome Collection gallery.
Vielleicht war es ja Zufall, dass nicht ein Psychiater, sondern der Zahnarzt Horace
Wells am 10. Dezember 1844 auf einem Jahrmarkt im neuenglischen Hartfort die schmerzstillende
Wirkung von Lachgas bei einer zur Volksbelustigung dienenden Vorführung beobachtete.
Er war so beeindruckt, dass er sich selbst am folgenden Tag einen Zahn unter Lachgas-Narkose
ziehen ließ. Er und weitere Zahnärzte begannen danach mit der Verwendung von Lachgas
in ihren Praxen, und bis heute gehört Lachgas zur Standardausrüstung in der Zahnmedizin.
Längere Operationen hingegen waren zunächst nicht möglich, weil Lachgas für die Schmerzbekämpfung
so hoch dosiert werden muss, dass den Leuten buchstäblich die Luft ausgeht: Um mit
Lachgas Schmerzfreiheit zu erzielen, muss man so viel – etwa 70 % – der Atemluft beimischen,
dass es nach wenigen Minuten zu lebensbedrohlichem Sauerstoffmangel kommen kam. Erst
nachdem Edmund Andrews, Professor für Chirurgie in Chicago, im Jahr 1868 den Einsatz
von Lachgas in Kombination mit 20 % reinem Sauerstoff publiziert hatte und damit erfolgreich
in Lachgas-Narkose operierte, fand Lachgas Eingang in die chirurgische Praxis. Seit
1887 wird Lachgas bis heute auch in der Geburtshilfe zur Schmerzbekämpfung eingesetzt.
Das farb- und geruchlose Lachgas ist ein Oxid des Stickstoffs und hat den chemischen
Namen Distickstoffmonoxid, die Summenformel N2O und wird zuweilen auch als Stickoxydul bezeichnet. Es brennt nicht, kann aber andere
Stoffe wie z. B. Kohle verbrennen wie Sauerstoff. Aufgrund dieser Eigenschaft wurde
es zur Steigerung der Leistung von Motoren (z. B. von Flugzeugmotoren im Zweiten Weltkrieg)
und sogar als Raketentreibstoff (Oxydator) verwendet. Im chemisch-analytischen Verfahren
der Atomabsorptionsspektrometrie wird Lachgas eingesetzt, um hohe Temperaturen (bis
zu 2800 °C) zu erzeugen, damit Atome zum Glühen gebracht und das von ihnen ausgesendete
Licht analysiert werden kann. Andererseits wird Lachgas auch zur Kryoablation (Abtragung
durch „Vereisung“) von Herzmuskelgewebe wegen seiner raschen Verdampfung als Kühlmittel
eingesetzt. Das Gas löst sich in Wasser und in Fett. Ein weiterer Name von Lachgas
ist E 942, unter dem es als Lebensmittelzusatzstoff zur Verwendung als Treibgas –
beispielsweise für Schlagsahne aus der Sprühdose – zugelassen ist. Wenn Sie also einmal
gefragt werden, welcher Stoff zum Antrieb von Raketen, bei Autorennen, zum Erzeugen
von Kälte und Hitze, für die Narkose und für die Schlagsahne zum Essen verwendet wird
– all dies kann/macht Lachgas, ein wahrhaftiges Chamäleon.
Als sei dies alles noch nicht genug, ist Lachgas auch noch in der Drogenszene als
Rauschdroge im Gebrauch. Der Rausch selbst ist relativ gefahrlos und mit 30 Sekunden
bis 3 Minuten auch nur von kurzer Dauer. Sogar der Erwerb von Lachgas ist gefahrlos:
Man kann es in fast jedem Supermarkt in Form von Kartuschen für Schlagsahne-Spender
einkaufen. Wahrscheinlich deswegen wird Lachgas mittlerweile von Schülern nach Alkohol
und neben Cannabis am häufigsten als Rauschdroge konsumiert. Die niederländische Regierung
hat daher seit dem 1. Januar 2023 Lachgas als Rauschmittel eingestuft und verboten
[5]. Dies erscheint durchaus berechtigt, nahm doch der Konsum und damit auch die Anzahl
der medizinischen Notfälle durch Lachgas in den letzten Jahren deutlich zu ([
Abb. 2
]) [6]. Nach einer Mitteilung der BBC beispielsweise kam es allein in Großbritannien in
den Jahren 2006–2012 zu 17 Todesfällen aufgrund von Lachgas-Abusus [1]. Einem kürzlich erschienen Bericht des britischen 24-Stunden-Nachrichtenkanals Sky News vom 5. September 2023 zufolge entstanden beim diesjährigen Notting Hill Carnival im gleichnamigen Londoner Stadtteil (am 27. und 28. August 2023) etwa 13 Tonnen Lachgas-Kartuschen-Müll.
Die Londoner Ambulanzen hatten während des Events im Jahr 2022 mit 213 Anrufen wegen
lachgasbedingter Notfälle deutlich mehr zu tun als ein Jahr zuvor (65 Anrufe) [2]. Der Trend nach oben sieht damit jenseits des Ärmelkanals ähnlich aus wie diesseits.
Daher ist in Großbritannien zum Ende des Jahres ein gesetzliches Verbot von Lachgas
geplant, ähnlich dem bereits in den Niederlanden bestehenden Verbot. Obwohl Lachgas
im Tierexperiment und in Studien am Menschen einen belohnenden Effekt hat, wird dessen
Suchtpotenzial in der Literatur als gering eingestuft [19].
Abb. 2 Anzahl der lachgasbezogenen Meldungen in Frankreich pro Jahr beim französischen Sucht-Vigilanz-Netzwerk
(addictovigilance network) für die Jahre 2012–2021 (nach Daten aus [6]).
Nicht unerwähnt bleiben sollte noch, dass Lachgas nach Kohlendioxid (CO2) und Methan (CH4) das drittwichtigste Treibhausgas ist [17], dessen Beitrag zur globalen Erwärmung durch den Treibhauseffekt vor allem aufgrund
seiner Langlebigkeit in der Atmosphäre bei knapp 10 % liegt. Hinzu kommt noch sein
Effekt auf Ozon: Weil das Stickoxid Lachgas in der Stratosphäre weiter oxidiert wird
und hierbei verschiedene Stickoxide (NOx) entstehen, die dort mit Ozon reagieren und dieses damit abbauen, hat Lachgas mittlerweile
alle Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) zusammengenommen im Hinblick auf den negativen
Effekt auf das „Ozonloch“ überholt, wie im Fachblatt Science schon vor Jahren nachzulesen war [13].
Zurück zur Depressionsbehandlung in der Medizin. Wenn man in der Datenbank PubMed unter den Stichworten „nitrous oxide“ und „depression“ nach Publikationen sucht (Stand:
Mitte September 2023), erhält man 34 „hits“, die jedoch auch von Knochenmarksdepression
bei Zahnärzten, die viel Lachgas in ihrer Praxis verwenden, von der Unterdrückung
(„depression“) kortikaler somatosensorischer evozierter Potenziale (ssEP) durch Lachgas
oder von Atemdepression bei Ratten unter Lachgas berichten. Lediglich 13 Arbeiten
handeln von Lachgas und psychiatrischer Depression. Wie sich beim genaueren Durchsehen
der Literatur herausstellte, drehten sich die älteren der ab 1955 erschienenen Arbeiten
durchweg um Lachgas und Atem-, Myokard- und Knochenmarksdepression sowie 30 Jahre
später (ab 1985) zusätzlich noch um die Unterdrückung von Potenzialen oder Reflexen.
Erst weitere 30 Jahre später – im Jahr 2015 – erschienen gleich 3 Arbeiten über Lachgas
zur Therapie der Depression. Seither wurden weitere 11 Arbeiten zu den Suchbegriffen
publiziert, von denen sich 10 tatsächlich auf die psychiatrische Erkrankung beziehen.
Nur noch eine (publiziert in diesem Jahr) handelt von der Unterdrückung („depression“)
eines Phänomens durch Lachgas, nämlich von NMDA-Rezeptoren durch Lachgas, also nicht
von klinischer Depression.
Oder vielleicht doch? – Trotz der unübersehbaren semantischen Verknüpfung – Gegensätze
wie „heiß–kalt“, „jung–alt“, „klein–groß“ und auch „lachen–weinen“ gehören zu den
stärksten Assoziationen, die uns „automatisch“ einfallen [15] – bedurfte es einer zusätzlichen rationalen Motivation, damit der Gedanke „Lachgas
gegen Depression“ ernsthaft aufgegriffen und erstmals praktisch erprobt wurde. Diese
bestand im vermuteten Wirkungsmechanismus von Lachgas, dessen psychotrope und anästhetische
Wirkungen mit einem Antagonismus von bestimmten Glutamatrezeptoren, den N-Methyl-D-Aspartat
(NMDA-) Rezeptoren, in Verbindung gebracht werden. Auf diesen Mechanismus werden auch
die prinzipiell ähnlichen Wirkungen von Ketamin zurückgeführt, sodass dessen Verwendung zur Therapie der Depression letztlich den Anstoß zu Versuchen mit Lachgas
gab. Während das starke Narkosemittel Ketamin bei der Behandlung von Depressionen
in einer Dosierung verabreicht wird, die einem Bruchteil seiner Narkosedosis entspricht,
wurde Lachgas beim Menschen mit behandlungsresistenten Depressionen in Konzentrationen
von 25 % und 50 % verabreicht (die restlichen Anteile sind Sauerstoff), also vergleichsweise
nahe an der anästhetischen Dosis.
Eine im Fachblatt Biological Psychiatry publizierte randomisierte placebokontrollierte Studie mit Cross-over von Peter Nagele,
Charles R. Conway und Mitarbeitern zeigte an 20 Patienten einen signifikanten antidepressiven
Effekt der einmaligen einstündigen Inhalation von Lachgas sowohl 2 Stunden als auch
24 Stunden nach der Verabreichung ([
Abb. 3
]) [12]. Die größten Veränderungen auf Item-Ebene zeigten depressive Stimmung und Suizidgedanken,
wiederum ganz ähnlich wie Ketamin. Das Studien-Design war so angelegt, dass eine Woche
nach der ersten Gabe die zweite erfolgte, wobei sich zeigte, dass der antidepressive
Effekt bei den 10 Patienten, die Lachgas erhalten hatten, noch immer vorhanden war.
Das war unerwartet.
Abb. 3 Auswirkungen der Behandlung mit Lachgas auf depressive Symptome, gemessen mit der
21 Items umfassenden Hamilton Depression Rating Scale (HDRS-21; nach Daten aus [12]); Absolutwerte links und relative Veränderung der Werte rechts. Die Unterschiede
gegenüber der Placebo-Kontrollgruppe waren in der Lachgas-Gruppe nach 2 Stunden signifikant
(**p < 0,01) und nach 24 Stunden hoch signifikant (***p < 0,001).
Daher wurde von der gleichen Arbeitsgruppe eine Phase-II-Studie bei 24 Patienten mit
therapierefraktärer Depression (treatment-resistant major depression; TRMD) durchgeführt
und im Jahr 2021 publiziert. Wieder zeigte sich ein antidepressiver Effekt der einmaligen
Gabe von Lachgas, der nach einer Woche noch immer anhielt ([
Abb. 4
]). Da 2 Dosierungen von Lachgas verwendet worden waren, konnte gezeigt werden, dass
die Wirksamkeit von 50 % Lachgas der von 25 % Lachgas nicht überlegen war. Da jedoch
die Anzahl der Nebenwirkungen (n = 47) in der Gruppe, die mit der höheren Dosis behandelt
worden war, signifikant höher war als in den beiden anderen Gruppen (25 % Lachgas:
n = 11; Placebo: n = 6; p < 0,0001), ergibt sich ein eindeutiger Vorteil der niedrigen
Dosierung (25 %iges Lachgas) – gleiche Wirksamkeit bei besserer Verträglichkeit.
Abb. 4 Veränderung der depressiven Symptome zum Ausgangswert nach Gabe von 50 % Lachgas,
25 % Lachgas oder Placebo auf der Hamilton Depression Rating Scale. In der von den
Autoren durchgeführten Intention-to-Treat-Analyse der 24 Studienpatienten war der
Gesamteffekt von Lachgas (beide Gruppen; n = 16) im Vergleich zu Placebo (n = 8) signifikant
(p = 0,01), aber es gab keinen signifikanten Unterschied zwischen 25 % und 50 % Lachgas
(nach Daten aus [12]).
Im diesjährigen September/Oktober-Heft der Zeitschrift Journal of Clinical Psychiatry wurde schließlich eine Studie publiziert, die die Wirkung von Lachgas speziell auf
Suizidalität (HDRS-Item Nr. 3) untersuchte. Hierbei wurden Daten aus 3 kleinen randomisierten,
placebokontrollierten Doppelblindstudien mit 30 Patienten mit behandlungsresistenter
Depression analysiert, die eine 60-minütige Inhalationssitzung mit 50 % Lachgas oder
Placebo (Umgebungsluft) erhielten [3]. Die Suizidalität wurde nach 2 und 24 Stunden erfasst, wobei eine „klinisch bedeutsame
Verringerung“ der Suizidalität als eine Verringerung des Wertes um mindestens 2 Punkte
auf dem 4-stufigen Item definiert wurde (d. h. Patienten mit einem Ausgangswert von
1 wurden von der Analyse ausgeschlossen, ebenso Personen mit aktiver Suizidabsicht
oder -planung, einschließlich Suizidversuchen). Analysiert wurden die Daten von 13
Lachgas-behandelten Patienten und von 17 Patienten in den Placebogruppen. Wie sich
zeigte, war ein antisuizidaler Effekt nach 2 Stunden noch nicht, nach 24 Stunden jedoch
statistisch signifikant (p = 0,019) nachweisbar: 7 der 13 mit Lachgas behandelten
Patienten – aber nur 2 der 17 Patienten in den Placebogruppen – wiesen einen Rückgang
der Suizidalität um mindestens 2 Punkte auf. Dies ging einher mit einem signifikanten
Rückgang der Depressivität insgesamt. Insbesondere beim Vorliegen von akuter Suizidalität
könnte Lachgas in einer Dosis von 25 % mithin zu einem weiteren klinisch relativ einfach
einsetzbaren Werkzeug mit wenig Risiken und Nebenwirkungen in der Behandlung depressiver
Patienten werden. Damit könnte diese kleine Übersicht schließen, gäbe es nicht noch
3 Fragen, die sich dem aufmerksamen Leser stellen.
Ist Lachgas aufgrund seiner Verwendung als Rauschmittel für die Therapie der Depression
überhaupt geeignet? – Eine kürzlich erschienene britische Studie [4] untersuchte die Prävalenz von illegalem Drogenkonsum und dessen Zusammenhang mit
psychiatrischen Erkrankungen bei einer Gruppe von 543 Studenten. Hierzu wurden Substanzkonsum,
Angst, Depression, wahrgenommener Stress und Schlaflosigkeit online erfragt. Der Konsum
von Cannabis, Kokain, Lachgas, Ketamin und Methylendioxymethylamphetamin (MDMA; Ecstasy)
war unabhängig vom betrachteten Zeitraum (das gesamte Leben, das letzte Jahr oder
der letzte Monat) häufig ([
Abb. 5
]). Dies könnte zunächst als Suchtgefährdung von Studenten mit psychischen Auffälligkeiten
gewertet werden. Wie sich jedoch herausstellte, waren die Hauptmotivatoren für den
Substanzkonsum ein geringes Selbstvertrauen und der Wunsch nach Selbstmedikation.
Möglicherweise versuchten die Studenten also, ihre Probleme selbst zu behandeln und
wählten hierbei Substanzen aus, von denen zumindest einige bekanntermaßen tatsächlich
antidepressiv wirksam sind. Lachgas wird wahrscheinlich nicht umsonst mit einer sehr
ähnlichen Häufigkeit konsumiert wie Ketamin, MDMA und Kokain. Sein Abhängigkeitspotenzial
ist jedoch vergleichsweise eher gering.
Abb. 5 Prävalenz von illegalem Drogenkonsum bei einer Gruppe von 543 Studenten (nach Daten
aus [4]).
Könnte nicht die Verwendung von Lachgas in der Geburtshilfe zur Schmerzbekämpfung
dazu führen, dass es aufgrund von dessen jetzt erst bekannt gewordener antidepressiver
Wirkung zu einer geringeren Häufigkeit an postpartalen Depressionen kommen könnte?
Oder kurz: Wirkt Lachgas prophylaktisch gegen Wochenbettdepression bzw. Post-partum-Blues?
Obwohl Lachgas seit 136 Jahren in der Geburtshilfe zur Schmerzbekämpfung eingesetzt
wird, ist die Datenlage hierzu sehr übersichtlich: Eine kanadische Metaanalyse zu
den Auswirkungen der geburtshilflichen Analgesie auf postpartal psychische Störungen
fand keinen Zusammenhang [10]. Betrachtet man sie genauer, so zeigt sich jedoch, dass sie den gar nicht finden
konnte, weil sie ausgehend von einer Art „Schmerz-Stress-PTSD-Depressions-Hypothese“
eigentlich der Frage nachging, ob die Behandlung von Schmerzen unter der Geburt (vor
allem durch Epiduralanalgesie) das Risiko einer Wochenbettdepression vermindern kann.
Dafür fanden sie keinen Hinweis.
Geht man den in der Metaanalyse genannten Studien, in denen Lachgas zum Einsatz kam
nach ([
Tab. 1
]), so zeigen diese zumindest Hinweise darauf, dass der Einsatz von Lachgas bei der
Geburt mit vergleichsweise weniger Wochenbettdepressionen einhergeht. Allerdings war
diese Frage nie explizit Thema und wurde daher auch nicht wirklich untersucht, weswegen
diese ohnehin schon spärliche Literatur nur ein paar „Erkenntniskrümel“ liefert. Hiltunen
und Mitarbeiter [7] fanden am zweiten Tag postpartum einen antidepressiven Effekt von Lachgas-Analgesie,
der jedoch zum zweiten Beobachtungszeitpunkt nach 4 Monaten nicht mehr vorhanden war.
Zanardo et al. [21] fanden nur einen numerischen Effekt, heben jedoch in ihrer Zusammenfassung hervor,
dass die Analgesie mit Lachgas sich positiv auf das psychoemotionale Erleben der Wehen
und den Stillerfolg der Frauen auswirkt, d. h. mit signifikant höheren Stillraten
ab dem siebten Tag nach der Entlassung (p < 0,031), im ersten (p < 0,043) und im dritten
Lebensmonat (p < 0,016) assoziiert war. Suhitharan und Mitarbeiter [16] fanden keinen antidepressiven Effekt von Lachgas, wohl aber einen positiven Effekt
der Epiduralanalgesie (mit 10,0 % signifikant weniger Wochenbettdepressionen im Beobachtungszeitraum
von 4–8 Wochen postpartum, verglichen mit 19,3 % der Patientinnen ohne). In der sehr
großen Studie von Wu und Mitarbeitern gab es keinen Unterschied zwischen der Analgesie
mit Lachgas (27 % Wochenbettdepression) und der Epiduralanalgesie (26 %), die Gabe
von Opioiden hatte jedoch einen negativen Effekt (45 % Wochenbettdepression) [20].
Tab. 1
Studien zum möglichen Einfluss von Lachgas unter der Geburt auf die Entwicklung einer
Wochenbettdepression, die in der Metaanalyse von Munro et al. 2020 [10] aufgeführt sind.
|
Autor/Jahr
|
n (ges)
|
N2O depressiv
|
Vergleich
|
Vergleich depressiv
|
p
|
|
Hiltunen et al. 2004
|
162
|
1/16
6,3 %
|
keine Analgesie
|
8/23
34,8 %
|
0,056
|
|
Suhitharan et al. 2016
|
479
|
29/203
14,3 %
|
Epiduralanalgesie
|
33/329
10 %
|
k. A.
|
|
Zanardo et al. 2017
|
184
|
33 %
|
Epiduralanalgesie
|
44 %
|
n. s.
|
|
Wu et al. 2018
|
80 606
|
27 %
|
Epiduralanalgesie
Opioide
|
26 %
45 %
|
k. A.
|
k. A.: keine Angaben, n. s.: nicht signifikant
Eine einzige prospektive Beobachtungsstudie zum Zusammenhang zwischen der Häufigkeit
von postpartalen Depressionen und der Art der geburtshilflichen Analgesie, also direkt
zum Thema, wurde erst nach der genannten Metaanalyse im vergangenen Jahr publiziert
und stammt aus Kiew in der Ukraine [14]. Zwischen März 2020 bis Mai 2021 wurden 321 Frauen am zweiten oder dritten Tag nach
der Entbindung mit dem Childbirth Experience Questionnaire befragt, von denen 35 % einem weiteren Screening auf postpartale Depression (PPD)
mit der Edinburgh Postnatal Depression Scale zustimmten. Bei Frauen, die Lachgas (50:50) bzw. alternative Methoden der Schmerzbekämpfung
erhielten, war die relative Häufigkeit des Auftretens einer Wochenbettdepression signifikant
geringer (p = 0,044) – im Vergleich zu Frauen, bei denen eine Epiduralanalgesie durchgeführt
worden war. Die Faktoren Alter, Parität, Art der Entbindung und Schmerzintensität
hatten keinen Einfluss. Der fehlende Effekt der Epiduralanalgesie und der Schmerzintensität
auf die Wahrscheinlichkeit einer Wochenbettdepression spricht gegen die Hypothese
ihrer Verursachung durch Schmerz-Traumatisierung. Der signifikante Effekt von Lachgas
bei einer nicht allzu großen Stichprobe spricht auf jeden Fall nicht gegen einen möglichen
antidepressiven Effekt von Lachgas. Weitere Studien hierzu erscheinen definitiv wünschenswert.
Lachgas ist das drittwichtigste Treibhausgas. Lässt sich der erhöhte medizinische
Einsatz von Lachgas aus dieser Sicht überhaupt verantworten? Einer im Fachblatt Nature publizierten Übersicht [18] zufolge ist global betrachtet der größte Teil davon nicht anthropogenen Ursprungs,
sondern entsteht durch verschiedene natürliche Prozesse. Aufgrund dieser Tatsache
erscheint es wenig sinnvoll, auf die Verwendung von Lachgas im Bereich der Medizin
zu verzichten – zumindest solange man auch Schlagsahne mit Lachgas zum Kuchen genießt.
Es ist davon auszugehen, dass eine zusätzliche Verwendung von Lachgas in der psychiatrischen
Behandlung verglichen mit den Gesamtemissionen keine nennenswerte Rolle spielt. In
der bisherigen, sehr umfassenden Betrachtung der globalen N2O-Emissionen [18] wird die medizinische Verwendung gar nicht gesondert aufgeführt. Zwar sollte auch
die Medizin nicht prinzipiell aus den Überlegungen zur Reduktion von Treibhausgas-Emissionen
ausgenommen werden, aber eventuelle Hürden oder Einschränkungen sollten mit Augenmaß
gehandhabt werden.