Hintergrund
Seit 2008 werden in Deutschland globale Behandlungsbudgets (GBB) an ausgewählten psychiatrischen
Kliniken und Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern erprobt, die eine flexible, integrierte
und gemeindenahe psychiatrische Krankenhausversorgung ermöglichen. Bisher wurden 23
GBB bundesweit verhandelt, zunächst als regionale Psychiatriebudgets (RB) nach § 24
Bundespflegesatzverordnung (BPflV) und seit 2013 als psychiatrische Modellvorhaben
nach § 64b SGB V (MV). Gesetzlich definiertes Ziel der MV ist „eine Verbesserung der
Patientenversorgung oder der sektorenübergreifenden Leistungserbringung […], einschließlich
der komplexen psychiatrischen Behandlung im häuslichen Umfeld”. Anders als z. B. bei
der stationsäquivalenten Behandlung (StäB) [1 ], [2 ], wo es sehr konkrete Umsetzungsempfehlungen und Leistungsbeschreibungen gibt, können
MV unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten klinikindividuell umgesetzt werden.
Neben diesen Versorgungszielen sind mit den Krankenkassen zu vereinbarende Steuerungsziele,
z. B. Erreichen eines bestimmten Ambulantisierungsgrads, d. h. des Anteils der stationsersetzend
oder -verkürzend ambulant oder aufsuchend versorgten im Verhältnis zu stationär behandelten
Patienten durch die Modellversorgung, zu erreichen.
Während MV als RB, d. h. unter Beteiligung sämtlicher in einer Region vertretenen
Krankenkassen vereinbart werden können, ist auch der Abschluss von Selektivverträgen
(SV) mit einzelnen Krankenkassen möglich. In diesem Fall ist die Modellversorgung
nur für Versichterte ausgewählter Krankenkassen zugänglich. Von den bestehenden 22
MV sind 17 als RB und 5 als SV verhandelt [3 ]. Aus Erfahrungsberichten sowie Evaluationsstudien gibt es Hinweise, dass MV mit
RB und SV sich qualitativ voneinander unterscheiden [4 ]–[6 ]. Die Unterschiede beziehen sich z. B. auf die jeweils umgesetzten Versorgungsmerkmale
(z. B. Home Treatment, settingübergreifende Behandlerkontinuität), deren Implementierungsgrad
sowie das Ausmaß, in dem MV von Patienten, aber auch Mitarbeitenden einer Modellklinik
(als wirksame Versorgungsform) wahrgenommen wird. Dies zu untersuchen ist von hoher
Relevanz für die Weiterentwicklung der Versorgung, da die Zahl der Kliniken mit MV
seit ca. 2021 leicht stagniert. Darüber hinaus wird die vorliegende Evidenz zur Wirksamkeit,
den Prozessen und zur Evaluation der MV aus Sicht des Innovationsausschusses des Gemeinsamen
Bundesausschusses als nicht ausreichend eingestuft, um eine Empfehlung auszusprechen
[7 ].Bisher gibt es erst ein Review aus dem Jahr 2013, welches den Implementierungsstand
der integrierten Versorgung und von RB – dem Vorläufermodell der MV – in Deutschland
untersucht [8 ]. Eine Übersichtsarbeit zu MV gibt es nicht. Ziel der vorliegenden Literaturübersicht
ist es daher, die bestehende Evidenz zu integrieren, um etwaige studienübergreifende
Effekte und Zusammenhänge zu den Unterschieden zwischen als Regionalbudget und selektivvertraglich
vereinbarten MV sichtbar zu machen. Im Einzelnen werden folgende Forschungsfragen
untersucht.
Inwiefern unterscheiden sich die
Grundlegend zur Beantwortung dieser Fragestellung ist eine Zusammenschau von Versorgungseinflüssen,
-strukturen, -prozessen und daraus resultierenden Outcomes, wie dies durch das in
der Versorgungsforschung übliche Through-put-Modell angeraten wird [9 ].
Methoden
Integratives Review
Aufgrund der Komplexität der Fragestellung sowie der Heterogenität der Evidenz wurde
die Methode des integrativen Reviews gewählt. Nach Whittemore et al. kann die integrative
Übersichtsmethode die „bisherige empirische und theoretische Literatur zu einem Thema
zusammenfassen und dabei verschiedene Methoden einbeziehen, um den Kontext, die Prozesse
und die subjektiven Elemente des Themas zu erfassen” [10 ]. Die zentrale methodische Problemstellung der Arbeit ist es, die nur fragmentiert
vorliegenden Befunde zum Umfang der Krankenkassenbeteiligung an MV, deren Implementierungsgrad
im Hinblick auf die Versorgungsstrukturen, -prozesse und -effekte zu diskutieren und
so die bestehende Theory of Change der komplexen Intervention „Modellvorhaben” zu
erweitern [11 ], [12 ]. Um die Reproduzierbarkeit und Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, erfolgte das
Reporting entsprechend der PRISMA-Leitlinien (Preferred Reporting Items for Systematic
Reviews and Meta-Analyses) [13 ].
Informationsquellen und Suchstrategie
Eine systematische Literaturrecherche wurde am 2. Mai 2023 durchgeführt. Dazu wurden
Titel und Abstracts in 6 elektronischen Literaturdatenbanken durchsucht: Medline,
Embase, Scopus, PsycINFO, Web of Science und Google Scholar. Trotz der stark begrenzten
Fragestellung wurde die Suchstrategie breit gewählt, damit möglichst sämtliche wissenschaftliche
Literatur zu MV aufgefunden wird. Es wurden 3 Schlüsseldimensionen Modellvorhaben,
Globales Budget und Psychiatrie in verschiedenen Variationen in englischer und deutscher
Sprache mit den booleschen Operatoren UND/ODER zu einem Suchausdruck verbunden. Zusätzlich
wurde eine Rückwärtssuche der gefundenen Referenzen durchgeführt, um vorangehende
Arbeiten zu dem Thema zu identifizieren [14 ]. Es folgte eine weitere Vorwärtssuche mit Google Scholar, um Publikationen aufzufinden,
die die in die Untersuchung einbezogenen Arbeiten zitieren.
Auswahlkriterien, Screening und Selektion
Einschluss- und Ausschlusskriterien wurden im initialen Screening-Prozess entwickelt
und zur Studienauswahl angewendet. Eingeschlossen wurden ausschließlich Veröffentlichungen,
die
original-empirisches Material enthalten,
psychiatrische Modellvorhaben nach § 64b SGB V als Gegenstand fokussieren,
RB und SV in mehreren Studienzentren untereinander vergleichen (Multicenter-Studie),
Struktur-, Prozess- und/oder Outcome-bezogene Studienergebnisse enthalten.
Demnach wurden ausschließlich Studien ausgewählt, welche einen potenziellen Zusammenhang
des Budgetumfangs einerseits sowie Prozessen, Strukturen und/oder Ergebnisparametern
andererseits an verschiedenen Kliniken der Modellversorgung vergleichend untersucht
haben.
Publikationen, die sich auf Vorläufermodelle (RB nach § 24 BPflV) oder die integrierte
Versorgung (nach § 140a SGB V) beziehen, wurden aus den folgenden Gründen ausgeschlossen:
Erstens wurden das RB nach § 24 BPflV lediglich mit 100 % Budgetumfang vereinbart.
Somit existierten zum Zeitpunkt der Gültigkeit dieses Paragrafen keine Versorgungsmodelle,
die als Teilbudget verhandelt wurden, sodass der Vergleich eines differierenden Budgetumfangs
nicht möglich ist. Zweitens handelte es sich im Fall der integrierten Versorgung um
Modelle, die überwiegend im kassenärztlichen bzw. ambulanten Nichtkrankenhaussektor
entwickelt wurden. Ein Vergleich zwischen den eher krankenhauszentrierten MV (sowie
deren Vorläufer) mit der ambulanten integrierten Versorgung wäre aufgrund dieser konzeptuellen
Differenzen zwischen den Versorgungsmodellen nicht sinnvoll.
Datenextraktion, -analyse und -synthese
Das Forscherteam (JS, AB, SvP) entwickelte eine standardisierte Vorlage, um relevante
Daten aus den Studien zu extrahieren und zu erfassen. Die folgenden Parameter wurden
dabei detailliert erfasst: Referenz-ID, Jahr, Studie, Methode, Stichprobe, Fragestellung
und Zusammenfassung der für die Fragestellung relevanten Ergebnisse. Aus Kapazitätsgründen
wird die Tabelle als elektronischer Anhang online bereitgestellt (Online-Suppl.
[
Tab. 1
]). Um die Qualität der eingeschlossenen Studien zu erfassen, wurden die Publikationen
von JS und SvP hinsichtlich der Kriterien (1. methodische und 2. theoretische Strenge
sowie 3. Relevanz der enthaltenen Daten) auf einer 3-Punkt-Skala (hoch, mittel, gering)
bewertet. Eine vollständige Darstellung der Bewertung der Kriterien ist ebenfalls
dem elektronischen Anhang (Online-Suppl.
[
Tab. 1
]) zu entnehmen [10 ]. Es wurden relevante Ergebnisse sämtlicher eingeschlossener Veröffentlichungen ausgewertet
und thematisch zusammengefasst (Hauptthemen: Budgetumfang, Implementierungsprozesse
und -grad sowie Outcomes der MV). Hierzu wurden in den Publikationen enthaltene klinikbezogene
Struktur- und Leistungskennzahlen sowie Daten zur Einstufung des Implementierungsgrades
der MV in 2 Gruppen zusammengefasst (RB vs. SV) und reanalysiert. Im Einzelnen wurden
die Gruppenmittelwerte für die vorgenannten Parameter berechnet, um grundsätzliche
Unterschiede zwischen MV mit RB versus SV darzustellen. Auf eine Bestimmung der statistischen
Signifikanz der Unterschiede wurde aufgrund der nur geringen Stichprobengrößen verzichtet.
Tab. 1
Übersicht spezifischer Merkmale der Modellversorgung (nach Daten aus [18 ])
Nr.
Merkmal
I
Ambulantisierung; Verlagerung Behandlungsplätze von voll- nach teilstationär und/oder
ambulant
II
Flexibilität Settingwechsel; unproblematischer Wechsel des Behandlungssettings (zeitnah,
bürokratiearm etc.)
III
Behandlerkontinuität; Umsetzung team- und personenbezogener Kontinuität
IV
Berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit; enge Kooperation zwischen verschiedenen
Berufsgruppen
V
Settingübergreifende therapeutische Gruppenangebote; behandlungssetting-heterogene
therapeutische Gruppen
VI
Zuhause-Behandlung; stationsersetzende, berufsgruppenübergreifende Behandlung, zuhause
≥ 1 Woche
VII
Systematischer Einbezug von Bezugspersonen; Bezugspersonen als therapeutisches Mittel
VIII
Erreichbarkeit von Leistungen; räumliche Erreichbarkeit und Erreichbarkeit der Teams
IX
Freie Steuerung therapeutischer Maßnahmen; Freiheit für therapeutische Entscheidungen
X
Sektorübergreifende Kooperation; Kooperation über das Krankenhaus hinweg
XI
Erweiterung der professionellen Expertise; Professionalisierung der Mitarbeiter
Ergebnisse
Studienauswahl
Insgesamt wurden 695 Einträge ermittelt – 681 (97,99 %) aus der Datenbankrecherche,
14 (2,01 %) aus der Handsuche. Nach Entfernen von Duplikaten verblieben 82,44 % (573/695)
der Einträge für die Titel-, Abstract- und Stichwortsuche. In diesem Schritt wurde
die Auswahl um 530 auf 43 Einträge reduziert, die dann einer Volltextprüfung unterzogen
wurden. Hierin enthalten sind 30 Originalarbeiten zu psychiatrischen MV (n = 23) sowie
deren Vorläufermodellen (nach § 24 BPflV; n = 7) [4 ]–[6 ], [12 ], [15 ]–[40 ]. Von den verbleibenden 23 konnten 8 Publikationen (1,15 %) identifiziert werden
[5 ], [6 ], [12 ], [15 ]–[19 ], die empirisches Material zu der untersuchten Fragestellung enthalten. Sie bilden
die Grundlage dieser Übersichtsarbeit. Der Studienauswahlprozess ist im PRISMA Flussdiagramm
([
Abb. 1
]) dargestellt.
Abb. 1 PRISMA (Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses) Flussdiagramm
(nach Daten aus [41 ]).
Die Veröffentlichungen lassen sich 2 Mixed-Method basierten Multicenter-Studien, EvaMod64b
(Laufzeit: 2014–2016), PsychCare (Laufzeit: 2017–2021) sowie einer weiteren an mehreren
MV durchgeführten qualitativen Studie (Untersuchung der Innovationsdiffusion, Laufzeit:
2018–2020) zuordnen [4 ]–[6 ], [12 ], [15 ]–[19 ]. Zu den aufgrund eines fehlenden Vergleichs zwischen RB und MV mit SV nicht eingeschlossenen
Studien gehören u. a. die Evaluationen der MV in Berlin-Mitte [27 ], Hamm [29 ], [38 ] sowie die gesetzlich verpflichtende Begleitforschung nach § 65 SGB V (EVA64-Studie)
[42 ]. Die Ergebnisse werden entlang folgender thematischer Schwerpunkte vergleichend
für MV mit RB und SV dargestellt:
Rahmendaten zu Struktur und Vertrag,
Implementierungsprozesse,
Implementierung modellspezifischer Merkmale,
Effekte auf die Versorgung.
Rahmendaten zu Struktur und Vertrag
Vergleichbare Daten zur Versorgungsregion und Struktur liegen aus der EvaMod64b-Studie
für 12 Kliniken mit MV vor (Datenjahr: 2016) [18 ]. Demnach können 75 % (6 von 8) der Kliniken mit RB auf Erfahrungen mit einem Vorläuferprojekt
zurückgreifen, während dieser Anteil bei selektivvertraglich verhandelten MV bei 25
% (1 von 4) lag. Kliniken mit RB wurden zu 75 % etwas früher (1/2013–6/2014) und Kliniken
mit SV – ebenfalls zu 75 % – etwas später gestartet (7/2014–1/2016). Die Anzahl der
Einwohner der Versorgungsregion betrug bei Kliniken mit RB durchschnittlich ca. 202
Tsd. versus ca. 317 Tsd. bei Kliniken mit SV. Kliniken mit SV sind überwiegend (zu
75 %) in einer größeren Stadt (> 80 000 Einwohner), während Kliniken mit RB ausschließlich
in einer kleineren Stadt lokalisiert sind. Der Umfang der Kassenverträge bei selektivvertraglichen
MV lag durchschnittlich bei 19,1 % (SD: 10,3 %). Bei einem orientierenden Vergleich
weiterer Struktur- und Leistungsdaten der Kliniken, z. B. zur Trägerschaft, Bettenkapazitäten
und tagesklinischen Behandlungsplätzen finden sich keine wesentlichen Unterschiede
zwischen den Gruppen.
Implementierungsprozesse
6 Publikationen aus 3 Studien enthalten qualitative Ergebnisse zu der Frage nach Unterschieden
bei den Implementierungsprozessen sowie der Machbarkeit von selektivvertraglichen
oder MV, die als RB verhandelt wurden. Afraz et al. konnten zeigen, dass es kontroverse
Meinungen bezüglich des Vorrangs von RB oder SV unter den Stakeholdern gibt [4 ], [15 ]. So sprachen sich Behandler und Medizincontroller dafür aus, dass RB gegenüber MV
mit SV vorzuziehen seien, da der Parallelbetrieb von Regelversorgung und MV eine größere
Herausforderung darstelle als eine Umstellung des Gesamtsystems [4 ], [15 ]. Nach Ansicht einiger GKV-Vertreter hätten Teilbudgets, die als Zwischenstufe auf
dem Weg zu einem GBB gesehen werden, gewisse Vorteile, da sich weniger Akteure an
den Budgetverhandlungen beteiligen müssen [4 ], [15 ].
Eine weitere im Rahmen der PsychCare-Studie durchgeführten Expertenbefragung zu den
Anreizen, Voraussetzungen und Herausforderungen der Implementierung eines GBB kamen
Schwarz et al. zu ähnlichen Ergebnissen [5 ]: Die Studienteilnehmer waren gespalten bzgl. der Frage, inwiefern es für die Machbarkeit
von MV eine Rolle spielt, ob ein GBB mit allen oder nur einzelnen Krankenkassen verhandelt
wird. In Versorgungsregionen mit RB wurde ein „selektivvertragliches“ MV als nur bedingt
machbar eingestuft, während Befragte aus Kliniken mit SV hierin eine Chance sahen,
die neue Versorgungsform unter nur begrenztem ökonomischem Risiko zu erproben. Es
bestand Konsens unter Controllern der MV mit SV, dass eine minimale Krankenkassenbeteiligung
notwendig sei, um einzelne Merkmale (z. B. Home-Treatment) kostendeckend implementieren
zu können. Darüber hinaus sei es herausfordernd, die unterschiedlichen Leistungen
der Regelversorgung und der MV gesondert, zum Teil sogar in 2 parallelen IT-Systemen,
voneinander zu erfassen und abzurechnen. Klinisch tätige Mitarbeitende fanden es herausfordernd,
die Routinen der Modelle neben der Regelversorgung aufrechtzuerhalten. Einerseits
sei es organisatorisch schwierig, zwischen Patienten der beiden Versorgungsformen
zu unterscheiden, andererseits wurden ethische Bedenken geäußert, da Patienten ausgewählter
Krankenkassen Zugang zu modernen Versorgungsaspekten erhielten.
Implementierung modellspezifischer Merkmale
In 5 Publikationen werden (semi-)quantitative Ergebnisse dargestellt, die allesamt
auf der Einstufung spezifischer Struktur- und Prozessmerkmale der Modellversorgung
beruhen [12 ], [17 ]–[19 ]. Diese Merkmale ([Tab. 1 ]) wurden in der EvaMod64b-Studie entwickelt und erfassen semiquantitativ deren Umsetzung
in Bezug auf Strukturen und Prozesse [17 ], [18 ]. Der Implementierungsgrad fasst die Ausprägung sämtlicher Merkmale an einer Klinik
in einem Wert zusammen [17 ]. Johne et al. konnten in ihrer Analyse zeigen, dass MV mit RB sowie einer Laufzeit
von mehr als 2 Jahren eine statistisch signifikant stärkere Umsetzung des Merkmals
II (Flexibilität im Settingwechsel) sowie einen statistisch auffällig höheren Gesamtimplementierungsgrad
(GIG) aufwiesen, als jene Kliniken mit SV und kürzerer Implementierungsdauer [17 ]. Die in den Methoden beschriebene Reanalyse der Daten aus Johne et al. zeigt einen
höheren GIG bei MV mit RB gegenüber jenen mit SV (Mittelwert GIG = 1,24 vs. 0,97).
Ebenfalls im Rahmen der EvaMod64b-Studie wurden vorbeschriebene Merkmale an MV in
Schleswig-Holstein (SH; n = 3) gegenüber MV im übrigen Bundesgebiet (n = 4) untersucht.
Erstere waren mit 100 % und letztere mit durchschnittlich 47,31 % Krankenkassenbeteiligung
verhandelt. Zusammenfassend erzielten die MV in SH bei allen Merkmalen höhere Werte
als die übrigen Kliniken. Diese Unterschiede verhielten sich in Bezug auf 3 Merkmale
statistisch auffällig (p < 0,1): Behandlerkontinuität (III), settingübergreifende
therapeutische Gruppen (V) und Erreichbarkeit von Leistungen (VIII) erreichten jeweils
deutlich bessere Werte bei den Studienkliniken in SH gegenüber dem Vergleich.
Im Rahmen der PsychCare-Studie wurden im Jahr 2020 die Merkmale erstmals an 9 MV sowie
7 Kontrollkliniken der Regelversorgung eingestuft [6 ], um diese zu validieren und zu prüfen, inwiefern sich deren Ausprägung an den beiden
Klinikgruppen unterscheidet. In dem Zusammenhang wurde ein Subgruppenvergleich innerhalb
der Studienkliniken mit MV durchgeführt, wobei der GIG an MV mit < 30 % (n = 2), 30
bis 90 % (n = 3) und > 90 % (n = 4) Umfang der Krankenkassenbeteiligung gegenübergestellt
wurde. Es zeigte sich ein mit zunehmendem Umfang der Modellverträge steigender GIG,
wobei die Unterschiede signifikant sind und eine hohe Effektstärke aufweisen [6 ].
In der Prozess- und Outcome-Evaluationsstudie EvaMod64b wurden die Veränderungsprozesse
bei Einführung von MV im Sinne einer Theory of Change beschrieben [12 ], wobei auf Implementierungsunterschiede zwischen RB und SV eingegangen wurde: Demnach
tendieren Klinik mit SV dazu, traditionelle Teamstrukturen beizubehalten und zusätzliche
spezielle Teams einzurichten, die sich ausschließlich um die Versorgung der Versicherten
bestimmter Krankenkassen kümmern. An Kliniken mit RB wurden hingegen überwiegend settingspezifische
Teams zu flexiblen Teams umstrukturiert, die settingübergreifend arbeiten. Daher wurden
Prozesse und klinische Routinen, z. B. die Planung von Therapien, nicht mehr nur innerhalb
eines bestimmten Settings durchgeführt, sondern auf andere Settings ausgedehnt. Hierdurch
wurde ein erhöhter Arbeitsaufwand aus Sicht von Mitarbeitenden beschrieben. Die Unterschiede
zwischen MV mit RB vs. SV wurden zu 2 Implementierungstypen zusammengefasst ([
Tab. 2
]).
Tab. 2
Implementierungstypen der Modellversorgung (nach Daten aus [12 ])
Parameter
Regionalbudget
Selektivvertrag
Anzahl der Studienkliniken
4
3
Bevölkerungsdichte
gering
hoch
Zeitpunkt des Vertragsabschlusses
2013
2016
Umfang des MV am Klinikbudget
100 %
< 33 %
Vorerfahrungen mit GBB1
+
-
Verringerung der Anzahl der Krankenhausbetten seit Einführung des GBB[
1
]
+
-
Strukturelle bzw. räumliche Integration von Tagesklinik, Station und Ambulanz[
2
]
+ + +
+
Anteil der Mitarbeitenden, die in mehr als einem Behandlungssetting arbeiten
> 66 %
> 33 %
Aufsuchende Behandlung durch stationäre und tagesklinische Behandlungsteams[
1
]
+
-
Orientierendes Versorgungsmodell zur aufsuchenden Behandlung
ACT
CRT/HT
1: Maximale Ausprägung des Parameters = “ + ” ;
2: Maximale Ausprägung des Parameters = “ + + + ”; ACT: Assertive Community Treatment;
CRT/HT: Crisis Resolution Team/Home-Treatment; GBB: Globales Behandlungsbudget; MV:
Modellvorhaben
Effekte auf die Versorgung
Bislang liegen nur 2 Publikationen vor, welche im Zusammenhang von Budgetumfang und
Implementierungsgrad auch die Outcomes untersucht haben [19 ]: Im Rahmen jener Studie, welche MV in SH gegenüber dem übrigen Bundesgebiet vergleicht,
konnte gezeigt werden, dass Patienten in SH häufiger ambulant (39,0 % vs. 34,2 %)
oder zuhause (11,6 % vs. 1,3 %) behandelt wurden, während sich Patienten der MV in
den anderen Bundesländern häufiger in stationärer (28,8 % vs. 33,8 %) oder teilstationärer
Behandlung (26,7 % vs. 31,2 %) befanden. Dieser Unterschied ist in Bezug auf die Zuhause-Behandlung
signifikant (p < 0,0001). Die Behandlungsdauer der in SH behandelten Patienten war
gegenüber der Vergleichsgruppe signifikant kürzer (p = 0,0021).
Patienten, die in SH behandelt wurden, gaben an, mehr Erfahrung mit Versorgungsmerkmalen
der MV zu haben (p = 0,0697). Dies trifft in besonderem Umfang auf die Behandlerkontinuität
(III) zu: 33 % der befragten Patienten in SH gaben an, bei einem Settingwechsel von
dem gleichen therapeutischen Team weiter betreut worden zu sein, während in den Vergleichszentren
nur 24,8 % diese Angabe machten (p = 0,0765). Unterschiede zeigten sich auch bezüglich
der Patientenbewertung. So wurden die Merkmale Zuhause-Behandlung, Flexibilität im
Settingwechsel und settingübergreifende therapeutische Gruppenangebote von Patienten
der MV in SH signifikant, oder zumindest statistisch auffällig besser bewertet.
Diskussion
Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse dieser Übersichtsarbeit, dass ein selektiver
Budgetvertrag dazu führt, dass die Versorgung für einen Teil der behandelten Patienten
(bestimmter Krankenkassen) verändert werden kann und nur in Hinblick auf einzelne
Versorgungsmerkmale, bspw. durch die Einführung von Home-Treatment oder unterschiedlichen
Formen der akut-ambulanten Behandlung. Komplexere und umfangreichere Veränderungen
des Versorgungsangebots für nicht nur ausgewählte Patientengruppen lassen sich nur
durch einen Modellvertrag mit allen in einer Region vertretenen Krankenkassen umsetzen.
Im letzteren Fall können die Umstrukturierungen weitreichend sein, wie die Modellprojekte
in SH zeigen, z. B. in Itzehoe, Heide und Geesthacht, die oft auf lange Laufzeiten
und Entwicklungen im Rahmen von Vorläufermodellen aufbauen [19 ], [35 ].
Regionalbudget oder Selektivvertrag?
Selektivverträge haben sicher auch Vorzüge: Die mit den Umstrukturierungen und der
immer noch ungewissen Zukunft von Modellprojekten entstehenden Risiken halten sich
in Grenzen und sind weniger aufwändig in der Verhandlung [5 ], [15 ]. So wurden MV mit SV oft dazu genutzt, die Möglichkeiten von MV auszuprobieren mit
dem Ziel, diese bei positiven Erfahrungen Patienten weiterer Krankenkassen zugänglich
zu machen. Letzteres ist unserem Wissen nach jedoch in keinem einzigen Fall geschehen:
Alle SV sind hinsichtlich ihres Umfangs beschränkt geblieben, eine Ausweitung im Verlauf
der Jahre ist nicht erfolgt. Ähnlich wie bei der Versorgung nach § 140a SGB V liegt
dies sicher auch an einem fehlenden Kontrahierungszwang [43 ]: Vertragsabschlüsse sind weiterhin gänzlich freiwillig und in den letzten Jahren,
trotz umfangreicher Verhandlungen, in vielen Fällen auch gescheitert.
Gleichzeitig ist ein hoher Implementierungsgrad der MV nicht kausal auf eine hohe
Krankenkassenbeteiligung zurückzuführen: Insbesondere jene MV aus SH zeigen, dass
die langjährigen Vorerfahrungen mit IV-Versorgung nach § 140a SGB V und dem RB nach
§ 24 BPflV zu einem umfassenden Implementierungsergebnis in Kliniken dieses Bundeslandes
beigetragen haben. Und umgekehrt gibt es auch einzelne MV mit RB, welche einen eher
geringen Implementierungsgrad modellspezifischer Struktur- und Prozessmerkmale aufweisen.
Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse dieser Übersichtsarbeit, dass selektivvertraglich
vereinbarte MV die Versorgung für einen Teil der behandelten Patienten, nämlich jene
bestimmter Krankenkassen, verändern. Diese Veränderungen beziehen sich überwiegend
auf einzelne Versorgungsmerkmale, wie z.B. die Einführung von Home-Treatment oder
unterschiedliche Formen der akut-ambulanten Behandlung.
Eine zentrale Stärke dieser Arbeit liegt in ihrem Überblickcharakter, der eine integrative
Betrachtung von qualitativer und quantitativer Evidenz über die Modellversorgung erlaubt:
Bisher gibt es nur ein Review zu Vorläufermodellen der MV [8 ]. Eine weitere Literaturübersicht, die möglichst alle Studien zur Modellversorgung
einschließlich der Ergebnisse der gesetzlich verpflichtenden Evaluation nach § 65
SGB V (EVA64-Studie) einschließt, ist in Arbeit.
Wie in diesem Themenheft mehrfach erwähnt, steht die Entscheidung über die Zukunft
der MV aus. Im Hinblick darauf lässt sich nicht abschließend beurteilen, in welche
Richtung sich MV entwickeln werden, die auf einem Selektivvertrag gründen. Derzeit
scheinen diese weniger starke Veränderungschancen für die psychiatrische Versorgung
zu bieten und führen aufgrund ihrer Parallelführung zu den Strukturen der Regelversorgung
zu deutlichem Mehraufwand. Aus diesen Gründen und aufgrund der Tatsache, dass Modellleistungen
nur einem Teil der Patienten zur Verfügung stehen, sollten vor Abschluss eines selektivvertraglichen
MV keine Bemühungen außer Acht gelassen werden, um ein RB zu verhandeln.