BGPN-Mitglied Mazda Adli beschäftigt sich als Psychiater und Forscher schwerpunktmäßig
mit der psychischen Gesundheit in der Stadt. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin.
Wir trafen ihn zum Interview.
Macht die Großstadt krank?
Adli: Es gibt in der Stadt eine Häufung von psychischen Erkrankungen, die vermutlich
etwas mit der vermehrten Stressexposition von Stadtbewohnern zu tun hat. Wenn verschiedene
Risikofaktoren zusammentreffen, führt dies vermutlich zu Erkrankungen.
Welche Krankheitsbilder sind das?
Adli: Zum Beispiel kommt Depression in der Stadt etwa eineinhalb Mal so häufig vor.
Auch Angststörungen und vor allem Schizophrenie sind häufiger. Für letztere wurde
sogar ein doppeltes Dosis-Wirkungs-Verhältnis gezeigt. Das Schizophrenie-Risiko im
Erwachsenenalter steigt mit der Größe der Stadt und der Anzahl der Jahre, die man
in der Stadt aufgewachsen ist.
Werden die Menschen eher in der Großstadt ‚kränker‘ oder sind mehr ‚kranke‘ Menschen
in der Großstadt?
Adli: Die Daten sprechen für einen Kausalzusammenhang zwischen Stadtleben und Erkrankung,
wie das Dosis-Wirkungs-Verhältnis. Eine Studie zeigt, dass, wenn man während der Kindheit
von einem Dorf in die Stadt zieht, das Schizophrenie-Risiko wächst. Zieht man von
der Stadt aufs Land, sinkt das Risiko. Im Gegensatz hierzu steht die Selektionshypothese,
die besagt, dass es psychisch labilere Menschen eher in die Stadt zieht, z. B. in
der Hoffnung auf eine bessere Gesundheitsversorgung oder um der sozialen Kontrolle
in einer ländlich geprägten Umgebung zu entkommen.
Das heißt, in der Großstadt gibt es ein höheres Risiko, krank zu werden?
Adli: Ja. Allerdings geht es um einen Summeneffekt. Es ist nicht die Großstadt per
se, die krank macht, sondern der soziale Stress, der in der Stadt häufiger vorkommt.
Er wird relevant, wenn er chronisch wird und auf weitere Risikofaktoren trifft, z.
B. soziale oder genetische. Und wenn zusätzlich noch der Zugang zu den vielen Vorteilen,
die man in der Stadt ja hat, erschwert ist, kann die Summe ein erhöhtes Krankheitsrisiko
sein.
Was sollen Nervenärzte ihren Patienten empfehlen, um in der Großstadt nicht ‚krank‘
zu werden?
Adli: Das Entscheidende ist, am Leben der Stadt teilzuhaben, Zugehörigkeit zu empfinden,
sich in der Nachbarschaft sozial zu verbinden. Denn ein wichtiges Antidot gegen sozialen
Stress ist soziale Verbundenheit. Ich frage meine Patienten manchmal, ob sie wissen,
wie ihre Nachbarn heißen und rate ihnen, deren Namen auf dem Klingelschild durchzulesen
oder aufmerksam durch die Nachbarschaft zu spazieren und dabei auf Umgebungsdetails
zu achten. Dann gibt es natürlich auch noch das, was die Stadt an sich bzw. die Politik
verbessern kann.
Und das ist…?
Adli: Wir brauchen Begegnungsräume. Öffentlichen Raum, an dem soziale Interaktion
stattfindet. Gerade der nicht kommerziell genutzte öffentliche Raum gehört dazu, aber
auch Grünflächen und Kulturräume, weil das Orte sind, die Menschen in Verbindung bringen.
Für die psychische Gesundheit ist die Zeit vor der eigenen Haustür wichtiger als die
dahinter. Grünflächen sind wichtige Ressourcen für die psychische Gesundheit. In einer
eigenen Studie sehen wir eine deutliche Assoziation zwischen dem prozentualen Anteil
von Grünfläche in der Wohnumgebung und der Aktivität emotionsregulierender kortikaler
Areale.
Ist Berlin besonders gefährlich?
Adli: Nein, Berlin macht vieles gut. Und einiges davon, ohne es zu beabsichtigen.
Prof. Dr. med. Mazda Adli, Fliedner Klinik Berlin. Foto: ©A. Koroll
Leben Sie gern in der Großstadt?
Adli: Ja. Und zwar sehr gerne! Ich habe das Glück gehabt in verschiedenen Großstädten
aufgewachsen zu sein. Ich bin in Köln geboren, in Bonn aufgewachsen, habe in Teheran
gewohnt, in San Francisco, Paris, Wien und jetzt in Berlin und weiß die Vorteile der
Stadt sehr zu schätzen. Aber gleichzeitig ist es auch ein Anreiz für mich, dafür zu
sorgen, dass unsere Städte lebenswerte Orte bleiben, die gut für unsere Psyche sind.
Das Interview führte Dr. Anja Bauer, Berlin
BGPN-Herbsttagung: Zukunftsmodelle der ambulanten und stationären Versorgung in Neurologie
und Psychiatrie
14.10.2023 – 10 Uhr
Hörsaal im Kaiserin-Friedrich-Haus
Robert-Koch-Platz 7, 10115 Berlin