Österreich ist eines der wenigen Länder, in denen das Erst-Trimester-Screening in
der Schwangerschaft nicht Teil der kostenlosen Schwangerenbetreuung ist, sondern teuer
bezahlt werden muss. Das verstand eine Frau nicht und klagte ihre Krankenkasse wegen
der verweigerten Kostenübernahme für die pränataldiagnostische Untersuchung in ihrer
Schwangerschaft an. Sie forderte die von ihr an das pränataldiagnostische Institut
bezahlten 850,- € für den Combined-Test mit Ultraschall und den „Harmony Test“ zurück.
Das Landesgericht als 1. Instanz und das Oberlandesgericht als 2. Instanz gaben ihr
Recht und entschieden zugunsten der Klägerin. Sie befanden, die Klägerin habe nach § 132c
Abs 1 ASVG und § 4 der Verordnung BGBl 1981/274 Anspruch auf die Kostenübernahme für
diese Tests.
Der Oberste Gerichtshof (OGH) in Wien entschied jedoch anders und stellte fest, dass
eine Schwangere unter 35 Jahren keinen Rechtsanspruch auf Kostenersatz für eine pränataldiagnostische
Untersuchung habe: Die Weigerung der Kasse, ihrer Versicherten für den in der Schwangerschaft
durchgeführten „Combined-Test“ und den „Harmony-Test“ einen Kostenersatz bzw. Zuschuss
zu zahlen, sei rechtens.
Im Jahr 1981 hatte der damalige Bundesgesundheitsminister – es war der später gegen
Dr. Kurt Waldheim als Bundespräsidentschaftskandidat unterlegene Dr. Kurt Steyrer
(1920–2007) – per Verordnung „humangenetische Vorsorgemaßnahmen, insbesondere (…) pränatale Diagnostik und zytogenetische
Untersuchungen als vordringliche Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit“ bezeichnet. Ziel war es, „die Senkung des Risikos des Auftretens von genetisch bedingten Erkrankungen“ zu erreichen (BGBl 1981/274). Dies ist bis heute geltendes Recht. Die Verordnung ist mehr als 40 Jahre alt,
sie erschien noch vor der Einführung des Ultraschalls in der Schwangerenbetreuung
und vor den ungeheuren Fortschritten, die die Genetik in den Jahrzehnten seitdem gemacht
hat. Daher muss es auch nicht wundern, dass – aus damaliger Sicht korrekt, inzwischen
völlig veraltet – Mütter über 35 und Väter über 50 als besondere Risikogruppe hervorgehoben
wurden.
Nun bejaht der OGH, dass humangenetische Vorsorgemaßnahmen mittels pränataler Diagnose
zu den „Pflichtaufgaben“ der Krankenversicherungsträger zählen. Dies klingt für den
versicherten Laien recht gut, allerdings sind „Pflichtaufgaben“ im Gegensatz zu „Pflichtleistungen“
ihrer Rechtsnatur nach freiwillige Leistungen, die zwar von den Versicherungsträgern
erbracht werden sollen, auf die aber kein individueller Rechtsanspruch besteht. Weiters fügt der OGH hinzu, dass die Klägerin, die bei Eintritt ihrer Schwangerschaft
jünger als 35 war, allein schon aus Altersgründen keinen Anspruch auf Ersatz der geforderten
850,- € für den „Combined-Test“ und den „Harmony-Test“ gehabt habe. Schließlich interpretiert
der OGH den dezidierten Willen des Gesetzgebers, Pränataldiagnostik für seine Bürgerinnen
keinesfalls zuzulassen: (Dies) „…würde den Absichten des Gesetzgebers zuwiderlaufen, wonach gerade kein Rechtsanspruch
des Versicherten auf Durchführung solcher Maßnahmen (humangenetische Vorsorgemaßnahmen)
bestehen soll“. Weiß der Gesetzgeber eigentlich, dass er die Pränataldiagnostik seinen schwangeren
Bürgerinnen verweigern will und Tests auf Fehlbildungen und Chromosomen-Abweichungen,
ähnlich wie Piercings und (Scham-) Lippenkorrekturen, in den Bereich des „Wer-sich-das-einbildet-soll-gefälligst-selber-
zahlen“ relegiert?
Ungefähr 20 % der rund 80 000 Schwangeren, die es jedes Jahr in Österreich gibt, zahlen
pränataldiagnostische Tests in den ersten Schwangerschaftswochen selbst, meist, weil
sie in einer Gesellschaftsschicht sind, die es sich leisten kann. Damit verbleiben
immer noch ca. 60 000 Schwangere, die ohne Erst-Trimester-Screening in die höheren
Schwangerschaftswochen und zur Geburt kommen. Bei einem Großteil von ihnen wird es
nichts ausmachen, da die Kinder ohnehin gesund sind. Aber bei rund 1000 von ihnen,
bei denen kindliche Fehlbildungen spät in der Schwangerschaft oder erst nach der Geburt
festgestellt werden, wird laut und vernehmlich die Verschuldensfrage gestellt werden.
Und die liegt natürlich bei den Ärzt*innen, die die Mutter-Kind-Pass-Betreuung durchgeführt
hatten. Es wird dann mit viel anwaltlicher Kreativität im Nachhinein ein Gratis-Äquivalent
des Erstsemester-Screenings gefordert, das die diagnostische Genauigkeit irgendwie
liefern und bieten hätte sollen.
Wenn in praktisch allen anderen westeuropäischen Ländern strukturierte Fehlbildungs-Screening-Programme
fixer Teil der Schwangerenversorgung sind, diese in Österreich aber beharrlich ein
Luxusprogramm für bessergestellte Selbstzahlerinnen bleiben, so ist das zumindest
auffällig. Wenn dieser Zustand auch noch, wie der OGH meint, dem dezidierten Willen
des Gesetzgebers zur Leistungsverweigerung entspricht, ist es noch auffälliger, weil
die Bürgerinnen nicht dieses Bild von ihrem Gesetzgeber haben und eigentlich Aufmerksamkeit,
Vorausschau und Fürsorge erwarten, gerade betreffend der jährlich 80 000 Schwangeren.
Die erste und zweite Instanz in diesem Verfahren waren auf dem richtigen Weg, die
Schwangeren in Österreich vom Jahr 1981 ins Jahr 2022 und darüber hinaus zu bringen.
Der OGH trägt sie wieder ins Jahr 1981 zurück, weil damals zum letzten Mal in Sachen
Pränataldiagnostik etwas im Bundesgesetzblatt verschriftlicht wurde. Kein anderes
Land, kein anderes Höchstgericht, entschied im Jahr 2022 wichtige Fragen zur Volksgesundheit
auf dem medizinischen Wissensstand von 1981.
Ao Univ. Prof. Dr. Christoph Brezinka
Gerichtlich beeidigter Sachverständiger in Gynäkologie und Geburtshilfe, Gutachtensreferent
der Ärztekammer für Tirol, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Medizin und Recht
der österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe OEGGG.
Christoph.brezinka@chello.at